Heike Schwender

Der Weltenschreiber


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zu der normalen Bäckerei geworden, die er vorher gewesen sein mochte. Je nachdem, auf welche Art das ganze fremdartige Ding erschaffen worden war.

      Alfred graute vor der Frage, was mit den Menschen, die jene Bäckerei betreten hatten, passiert war. Wozu jemand das Gebilde überhaupt in diese Welt gesetzt hatte. Irgendwann würde er sich mit eben jenen Fragen auseinandersetzen müssen, aber jetzt noch nicht. Um sich in eine Position zu bringen, von der aus er sich einmischen konnte, musste er sein Buch wiederfinden. Im Moment war er nur ein Gestrandeter, der nirgendwohin gelangte. Auf diese Weise war es ihm unmöglich, in die Geschehnisse einzugreifen. Aber wenn er sein Buch wieder hätte …

      Der Weltenschreiber spürte ein schmerzhaftes Ziehen in seiner Magengegend. Für einen Moment war es, als fehlte ihm jegliche Luft zum Atmen. Wieder stockten seine Schritte und er musste sich mit der rechten Hand an einer kalten Steinmauer abstützen, um nicht vollends das Gleichgewicht zu verlieren.

      Eine Weile kämpfte er um jeden Atemzug und spürte, wie sich ein dünner Schweißfilm auf seiner Stirn zu bilden begann. Dann war der Moment vorbei. So schnell, wie er gekommen war.

      Alfred ließ seine zitternde Hand noch einen Augenblick auf der kalten Steinmauer liegen, froh um den Kontakt zur menschlichen Realität, die durch seinen langen Zwangsaufenthalt auf der Erde zum Teil auch die seine geworden war. Dann richtete er sich langsam wieder auf und machte ein paar zögernde Schritte. Es dauerte eine ganze Weile, bis er zur gewohnten Gleichmäßigkeit seines Ganges zurückgefunden hatte. Sein Atem ging immer noch schwer. Und zurück blieb eine innere Sehnsucht, die er nicht mehr unterdrücken konnte.

      So lange hatte er es geschafft, sich von diesem Gefühl zu distanzieren! Die Bindung, die zwischen seinem Buch und ihm bestand, war seit dem Tag, an dem es verschwunden war, nicht mehr fühlbar gewesen. Nur ein unbestimmtes Sehnen war zurückgeblieben, das er ignorieren musste, um sich nicht vollends aufzugeben, sondern um weitermachen zu können mit dem Wenigen, was ihm geblieben war. Dem Studium des menschlichen Lebens. Den leeren Büchern. Dem Schreiben.

      Aber nun schaffte er das nicht mehr. Die Erzählung des Fremden in der Bar hatte ihm Hoffnung geschenkt. Ob sich das nun zum Guten oder zum Schlechten wenden würde, musste sich erst noch herausstellen. Aber da war sie – die Hoffnung. Und mit ihr die stetige Sehnsucht nach seinem Buch, seinem anderen Ich, die zu unterdrücken er jetzt nicht mehr in der Lage war.

      Also musste er mit ihr zurechtkommen. Musste sie ertragen, ohne sich von ihr übermannen zu lassen. Sie durfte ihn nicht in seinen Gedanken stören oder seine Entscheidungen beeinflussen. Er musste sich jetzt ohne weitere Ablenkung mit dem Gehörten auseinandersetzen und überlegen, wie ihm das auf der Suche nach seinem Buch helfen konnte.

      Alfred ging durch mehrere kleine Straßen, ohne weitere Überlegungen anzustellen. Nur mit sich selbst und seinem inneren Befinden beschäftigt, bestrebt, seine Gefühls- und Gedankenwelt wieder in Einklang zu bringen. Erst als ihm das in zufriedenstellender Weise gelungen war, setzte er seine Überlegungen fort.

      Die Bäckerei würde ihn also nicht mehr direkt weiterbringen. Aber immerhin war er nun davon überzeugt, dass etwas im Gange war. Etwas, das möglicherweise aus seiner Welt kam. Etwas, das nichts Gutes im Schilde führte. Aber das alles war ihm seit jenem Tag bekannt, an dem er in sein Zimmer zurückgekehrt war, um feststellen zu müssen, dass jemand oder etwas das Unbegreifliche, Undenkbare getan hatte; dass sein Buch entführt worden war.

      Jahrzehntelang hatte er sich Gedanken über den Grund dieser Entführung gemacht. Wozu brauchte jemand sein Buch? Und nun hatte er zumindest eine leise Ahnung davon. Aber diese Gedanken waren noch reine Spekulation. Er musste sich jetzt auf das Wesentliche konzentrieren. Nach dem, was er gestern in der Bar gehört hatte, kannte er nun die Art und Weise, wie jemand Teile dieser Welt manipulierte. Ein Laden, der wie eine gewöhnliche Bäckerei aussah und Menschen, die ihn ahnungslos betraten, um dann für immer darin zu verschwinden … Alfred blieb abrupt stehen. Irgendeine zaghafte Erinnerung wollte verzweifelt angehört werden. Er stutzte. Da war doch etwas gewesen … erst vor kurzem … Unbewusst fuhr er sich mit der Hand an die Stirn und begann, kreisende Bewegungen über seiner Schläfe zu vollziehen.

      Er erinnerte sich an ein Gefühl. Ein Gefühl, das ihn unsicher werden ließ. Er war eine Straße entlang gegangen, als ihn dieses Gefühl überkam. Eigentlich war er nur zwei Menschen gefolgt, deren Beziehung zueinander er sich näher anschauen und für sein Buch verwenden wollte. Und dann war es plötzlich über ihn gekommen. Etwas Undefinierbares, Wurzelloses. Er wusste mit absoluter Sicherheit, dass irgendetwas falsch war. Aber er konnte beim besten Willen nicht sagen, was.

      Alfred erinnerte sich vage, dass er in seiner damaligen Verwirrung mit jemandem zusammengestoßen war – mit einer Frau? – und dann weitergeeilt war, ohne den Grund für seine seltsamen Gefühle verstanden zu haben.

      Alfred ließ die Hand sinken. Seine Gedanken rasten. Warum nur war er so schnell von dort verschwunden? War das etwa beabsichtigt gewesen? Hatte ihn etwas dazu gebracht, diesen Ort rasch wieder zu verlassen? War das vielleicht eine Art Sicherheitsvorkehrung gewesen, um die geheimen Machenschaften, die dort vor sich gingen, zu schützen? Und wusste er denn jetzt im Nachhinein noch, wo dieses dort war?

      Er ging in Gedanken die Schritte durch, die er an jenem Tag getan hatte und entschied, dass er die Stelle wiederfinden würde. Und wenn ihn nicht alles täuschte, musste sich dort ein weiterer veränderter Laden befinden. Ein Ort, der die Menschen genauso hinters Licht führte – und schlimmstenfalls verschwinden ließ – wie jene Bäckerei. Und vielleicht war dieser getarnte Laden noch immer das, wozu er gemacht worden war. Dann konnte Alfred dort vielleicht etwas herausfinden, was ihm bei seiner Suche weiterhelfen würde.

      Der Weltenschreiber spürte förmlich, wie sich die Hoffnung erneut in ihm regte. Und mit ihr der sehnsuchtsvolle Schmerz, der den Teil von ihm betraf, auf den er so lange hatte verzichten müssen. Entschlossen verabschiedete sich Alfred von seinen Gedanken und wandte sich wieder der Wirklichkeit zu. Er lenkte seine Schritte in die Richtung, aus der er Stimmen zu hören meinte. Nur kurze Zeit später befand er sich auf einer breiten Straße, die trotz der fortgeschrittenen Stunde noch überaus belebt war. Zu belebt. Und zu hell. Der hochgewachsene Mann, der da aus einer Seitenstraße kam, nahm die Tatsache, dass es bereits früher Morgen war, mit einem grimmigen Lächeln zur Kenntnis. Er musste wirklich vorsichtiger sein, wenn er sich so völlig von der Realität lossagte, um seinen Gedanken nachzugehen. Sollte er irgendwann einmal stundenlang reglos inmitten des Gehwegs stehen bleiben, würden die Menschen vermutlich doch misstrauisch werden.

      Durch seinen jahrzehntelangen Aufenthalt in dieser Stadt dauerte es nicht lange, bis Alfred nach seinem nächtlichen Irrgang durch die Pariser Straßen die Orientierung wieder fand. Dann ging er gleichmäßigen Schrittes in die Richtung, in der er den Laden wusste, den er sich ansehen wollte. Der Weltenschreiber misstraute allen Dingen, die sich mechanisch oder elektrisch fortbewegten. Er war sich auch nicht sicher, ob er sich deren Hilfe bedienen konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Zu wenig hatte er sich mit der menschlichen Technik befasst. Ihn interessierten Gefühle. Gedanken. Gespräche.

      So dauerte es eine ganze Weile, bis Alfred endlich sein Ziel erreichte. Inzwischen war es bereits später Vormittag und die Straßen voller Menschen. Dennoch erkannte Alfred sie sofort wieder. Dort stand sie, direkt vor der Buchhandlung, genau wie vor zwei Tagen, als er sie aus Versehen angerempelt hatte. Er stutzte. War es denn ein Versehen gewesen? Hatten die Schritte des Musikers ihn gestern zufällig in die Bar geführt? Alfreds Augen wanderten kurz in die Ferne, so, als suchten sie dort nach einer anderen Welt, seiner Welt. Hatte er womöglich Hilfe? Hatten sie alle womöglich Hilfe?

      Dann blickte er wieder nach vorne und hatte gerade noch Zeit, festzustellen, dass er nicht der Einzige war, der sich die Buchhandlung ansehen wollte. Die Frau mit den langen braunen Haaren, die sie unachtsam zurückgebunden hatte, war bereits auf dem Weg zur Tür. Wie es schien, folgte sie einem älteren Herrn, der seltsam zeitlos aussah. Alfred stutzte. Was ging hier vor? Wer war dieser Mann? Er sah aus wie ein Mensch, aber sein Gesicht … erinnerte an eine andere Welt. Alfreds Welt.

      Der Weltenschreiber beobachtete verwirrt, wie der ältere Mann die Tür zur Buchhandlung öffnete und im Inneren des Ladens verschwand. Die Frau, die er von seinem Zusammenstoß her kannte und ein zweiter Mann, der ungefähr