Heike Schwender

Der Weltenschreiber


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er in der ganzen Stadt verteilt gefunden hatte. Sie waren allesamt leer und verlassen gewesen, obwohl man ihnen eine Nutzung während vergangener Zeiten angesehen hatte. Hölzerne Schreibtische waren das einzige Mobiliar dieser Räume.

      Dupoit war über vergessene Schreibwerkzeuge gestolpert und über einzelne unbeschriebene Blätter. Aber nirgends hatte er mehr irgendwelche Hinweise entdecken können.

      Über dem Nutzen der Karte, die er dort in der Schreibtischschublade abgedruckt gefunden und in sein Notizbuch übertragen hatte, brütete er wochenlang, ohne in irgendeiner Weise voranzukommen. Er ahnte, dass sie nicht vollständig war. Aber ein weiteres Stück war in keinem der anderen Räume zu finden. Und auch die Buchstaben auf der Oberfläche des hölzernen Schreibtisches, die ihn erst zu Mallorys Werk geführt hatten, wiederholten sich nicht. Er stand in leeren, versteckten Räumen, die ihn in seiner Suche nicht weiterbrachten.

      »Ich hoffte immer, ich würde auf einen von ihnen stoßen.« Dupoits Augen begannen auf einmal in einem Feuer zu leuchten, das Sarah verriet, dass sie sich nun dem eigentlichen Antrieb seiner Recherchen näherten. »Einen Weltenschreiber. Einen, dessen Arbeit im Formen der Worte besteht. Das wäre wirklich ein neues Forschungsprojekt gewesen! Das hätte mich im Leben weitergebracht!« Seine Augen erloschen so plötzlich, wie sie zuvor begonnen hatten zu leuchten. »Aber stattdessen hat mich die ganze Recherche um mein Leben gebracht!«

      Eine Weile war alles still. Matthew warf Sarah einen Blick zu, in dem sich sein Unwohlsein mehr als deutlich abzeichnete. Auch Sarah wusste nicht, was sie dem Ausbruch ihres Großvaters entgegensetzen sollte. Er hatte ja recht! Und dennoch – sie war sich auf schockierende Weise sicher, dass sie ebenso gehandelt hätte.

      Dupoit hatte nach dem dramatischen Ende seiner Erzählung die Augen geschlossen und sich resigniert in seinen Sessel zurücksinken lassen. Er atmete schwer. Als er nach endlos scheinenden Minuten wieder seinen Blick auf sie richtete, war der Ausdruck in seinen Augen müde.

      »Erzähl mir von ihnen«, forderte er Sarah mit brüchiger Stimme auf. »Bitte.« Seine Enkelin brauchte ihn nicht zu fragen, wen er meinte. Ihr Großvater wollte von ihr, dass sie ihm alles über seine Familie erzählte. Von Marie, seiner Frau und ihrer gemeinsamen Tochter Michelle, Sarahs Mutter.

      Die junge Frau nickte und schluckte einmal schwer. Und wieso auch nicht. Das war das Mindeste, was sie für ihn, den Zurückgekehrten, tun konnte.

       //Es war soweit. Der Moment war da. Es konnte spüren, wie seine allerletzte Barriere zerbrach und das Böse sich brutal durch die entstandene Lücke zwängte. Es einnahm und bis in sein Innerstes ausfüllte. Es hatte verloren. Es war verloren. Es war ... nicht mehr.//

      Kapitel 13

      Er schrieb. Und schrieb. Nichts würde ihn jemals davon abbringen können. Schreiben war sein Leben.

      Alfreds noch junge Stirn war aufgrund der Konzentration, die von ihm Besitz ergriffen hatte, in tiefe Falten gelegt. Sein Geist befand sich nicht mehr in dieser Welt. Was kümmerte ihn sein Aussehen! Was kümmerte es ihn, wie er auf die Menschen wirken mochte! Noch dazu verirrte sich niemand freiwillig in diese kleine, heruntergekommene Bar, deren Eingangstür nur über eine Treppe zu erreichen war, die von einer einsamen Gasse aus in den Keller eines alten Mehrfamilienhauses führte. Genau diese schattenhafte Existenz, die das Etablissement zu einem Leben abseits der belebten Kneipen und Cafés verdammte, hatte Alfred überhaupt erst auf die Idee gebracht, hier seinem Tagewerk nachzugehen.

      Als wäre er in einem Traum gefangen, bewegte Alfred seine Hand und den Stift, den er darin hielt, über das Papier. Oh, natürlich war das nicht nur irgendein Stift! Die Schreibfeder, die er gebrauchte, um aus Buchstaben Wörter und aus Wörtern Sätze zu bilden, war ohne jeden Makel und strahlte in vollkommenem Weiß. Die blaue Tinte, in die er die Feder in regelmäßigen, eingeübt wirkenden aber schon unbewusst ausgeführten Abständen tauchte, war eigens für diese besondere Aufgabe gemischt worden.

      Auch das Material, auf dem er schrieb, war nicht gewöhnlich. Es war alt. Vor Jahrhunderten angefertigt, hatte es einen Herstellungsprozess durchlaufen, der nur wenigen Angehörigen seiner Gilde bekannt war. Natürlich wurde das Pergament auch heute noch auf die gleiche Art und Weise gefertigt. Aber bis man dieses dann wieder verwenden konnte, würden noch mehrere Jahrhunderte vergehen.

      Die Feder, mit der Alfred Wort an Wort reihte, kratzte leise über das Pergament. Kein federleichtes Streicheln. Eher ein bestimmtes Niederschreiben, Formen und Festhalten. Bestimmung war überhaupt das richtige Wort für das, was er tat. Seine Aufgabe war seine Berufung, sein Lebensinhalt, sein Daseinszweck. Und die Bestimmung trug er durch sein Schaffen auch in die Welt der Menschen. Gab ihnen ein klitzekleines Stück vom Universum. Schenkte ihnen für einen Augenblick den Seelenfrieden, nach dem sie, ohne es zu wissen, ihr ganzes Leben lang suchten.

      Wieder tauchte Alfred die Feder in das kleine gläserne Gefäß mit der blauen Tinte. Zog sie heraus. Ließ sie nur einen Moment lang abtropfen. Bewegte sie von dem Tintenfass in Richtung der Buchseite, die leer vor ihm lag. Es war die rechte Seite. Die linke war bereits gefüllt mit Wörtern, Sätzen, Bedeutungen. Die Feder berührte das Papier an genau der von ihm vorgesehenen Stelle. Ein kurzes Innehalten, um Feder und Pergament aneinander zu gewöhnen, ihnen Zeit zu geben, sich zu begrüßen und einander willkommen zu heißen. Dann die Schriftzüge.

      Alfred hatte jahrelang an dem Ausdruck seiner Buchstaben gefeilt, ihre Linien und Kurven zu einem vollkommenen Abbild seines Selbst werden lassen. Das, was er dort schrieb, war sein Inneres. Seine Träume, Wünsche, Sehnsüchte. Sie alle flossen auf wunderbare Weise in sein Werk, ausgedrückt durch die Bedeutung des Geschriebenen und durch die Form seiner Schriftzeichen.

      Wieder erklang das leise Kratzen, als die Feder über das noch unbeschriebene Pergament glitt. Alfred war völlig in seine Arbeit versunken. Lebte in ihr. Die Wahrheit der Menschen um ihn herum war für ihn nicht wichtig und für seine Arbeit nicht greifbar. Seine Schrift war etwas Besonderes. Er war etwas Besonderes. In diesem Wissen sagte er sich in den Momenten, während derer er arbeitete, völlig von seiner Umwelt los. Nur das Kratzen der Feder erinnerte an eine Welt außerhalb seines Buches und seiner Gedanken.

      Etwas ungünstig wirkte sich auf Alfreds Arbeitsweise allerdings die Tatsache aus, dass er selbst in dieser von ihm so erfolgreich verdrängten Welt festsaß.

      *

      Als die Tür zu der kleinen, dunklen Bar plötzlich aufgerissen wurde, bekam Alfred das zuerst gar nicht bewusst mit. Zu sehr war er in seine Arbeit, seine Berufung, vertieft. Feder, Tinte, Pergament. Buchstabe, Wort, Satz. Das leichte Kratzen der Feder während des Schreibens.

      In der Welt außerhalb seiner eigenen fing der Fremde, der soeben stürmisch das kleine Café betreten hatte, in lautem und drängendem Tonfall ein Gespräch mit dem alten Wirt an, der bis dahin friedlich hinter seinem Tresen gesessen hatte, völlig zufrieden damit, in dieser hektischen Welt eine Zeitung lesen und dabei eine Zigarette rauchen zu können.

      Erst versuchte Alfred, den nervigen Neuankömmling einfach auszublenden, um seine Arbeit konzentriert fortführen zu können. Aber dann riss ihn doch etwas aus seiner abgeschotteten kleinen Welt.

      Später wusste er gar nicht mehr genau, welches Wort oder welcher Teil der Erzählung des Fremden es geschafft hatte, bis zu ihm durchzudringen. Aber das war auch nicht wichtig. Wichtig war, was der zerzauste Mann zu erzählen hatte.

      Alfred hörte sich sämtliche Verwirrungen der durcheinander geworfenen Geschichte bis zum panisch herausgebrüllten Ende an, während der in höchstem Maße überforderte Wirt keinerlei Regung zeigte. Endlich begriff auch der unangemeldete Eindringling, dass er vom Barmann nicht ernst genommen wurde. Mit einem wütenden Knurren beendete er seine Erzählung und stürmte genauso plötzlich hinaus, wie er gekommen war.

      Alfred verharrte noch einige Sekunden in genau derselben Pose, in der er auch während des Schreibens gesessen hatte. Die Feder über dem Tintenfass hängend, den rechten Ellenbogen auf dem Tisch leicht abgestützt, die linke Hand schützend neben dem Buch.

      Dann packte er so schnell wie möglich all seine Sachen zusammen