Heike Schwender

Der Weltenschreiber


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erzählt hatte. Zu … weltbewegend.

      Sie saßen alle drei in Sarahs Wohnzimmer. Die Nacht war wie in einem Traum vergangen und vor den Fenstern wurde es bereits wieder hell. Um sie herum standen, lagen und stapelten sich eine Unmenge an leblosen Zuhörern. Da waren Dokumentenstapel, die mehr oder minder geordnet wirkten, Kaffeetassen, deren braun gesprenkelter Boden und Rand von nützlicheren Zeiten träumten, lose herumfliegende Zettel, von hastiger Handschrift überzogen und Bücher, jede Menge Bücher. Ein jeder der drei anwesenden Menschen hing seinen eigenen Gedanken nach. Jeden hatte ein anderer Teil von Henri Dupoits Geschichte in den Bann gezogen und über das Gehörte wurde nun nachgesonnen. Schweigsam. Allein.

      Für Sarahs Großvater war die Erzählung Erleichterung und Schmerz zugleich. Erleichterung darüber, das Erlebte mit jemandem teilen zu können. Und nicht nur mit irgendjemandem. Sein Blick streifte die junge Frau, die ihm schräg gegenüber auf einem Sofa saß. Er hatte es nach Hause geschafft und konnte nun die Geschichte, seine Geschichte, mit seiner Familie teilen. Natürlich lag auf der Realität ein schmerzlicher Schatten. Und er machte sich nichts vor. Es war sein Schatten, der darauf lag. Die Entscheidung, die er vor über dreißig Jahren getroffen hatte, wirkte sich bis in die Gegenwart aus. Es war nicht seine Frau Marie, mit der er das Erlebte teilen konnte. Ein dunkler, schmerzlicher Schatten.

      Und doch war sie hier – seine Enkelin. Seine Enkelin, die nach ihm gesucht hatte! Die sich nicht mit seinem plötzlichen Verschwinden abgefunden hatte. Als Dupoit bei diesem Gedanken angekommen war, fühlte er einen Druck hinter seinen Augen, dem er kaum standhalten konnte. Was war das, was er fühlte? Rührung? Oder Trauer bei dem Gedanken, dass sich seine Entscheidung bis hierher in das Leben dieser jungen Frau ausgewirkt hatte?

      Und dennoch. Ihre Suche nach ihm hatte vieles erleichtert. Hier musste er sich nicht rechtfertigen für die Entscheidung, die er getroffen hatte. Und sie glaubte ihm. Hatte ihm sofort jedes Wort geglaubt, vom Beginn seiner unfreiwilligen Reise bis hin zu seiner langwierigen und abenteuerlichen Rückkehr nach Paris. Dupoit hatte es in ihren Augen gesehen. Diesen unerschütterlichen Glauben, den sie seiner unglaublichen Geschichte entgegenbrachte.

      Diese Fähigkeit in ihr wiederzuerkennen, hatte ihn mehr als alles andere erschüttert. Er selbst war genauso gewesen. Vor über dreißig Jahren. Begeisterungsfähig. Und offen für das Unbegreifliche. Ein müdes Lächeln zog über sein Gesicht.

      Sarah sah dieses Lächeln und ließ die Gedankenfäden los, denen sie bis dahin gefolgt war. Stattdessen musterte sie den Mann, der ihr schräg gegenüber saß. Henri Dupoit. Ihr Großvater. Obwohl – sehr großväterlich sah er im Grunde gar nicht aus. Na schön, seine Haare zeigten an den Schläfen bereits ein leichtes Grau. Aber seine Haltung war gerade, seine Haut bar jeder Falten oder anderer Hinweise auf sein hohes Alter. Sarah rechnete kurz zurück. Ihr Großvater musste doch bereits älter als siebzig sein! Sie sah erneut auf die durchtrainierte Gestalt, die dort ruhig in ihrem Sessel saß und den Blick in die Ferne gerichtet hatte. Der Blick! Sarah fuhr es kalt den Rücken hinunter. Da war er – der Beweis für sein Alter. Henri Dupoits Augen sprachen von einem ganzen Leben, das hinter ihm lag. Einem ganzen, langen Leben. Sarah konnte nicht umhin, ein Frösteln zu verspüren. Gänsehaut machte sich auf ihren Armen breit.

      Matthew, der neben Sarah auf dem Sofa saß, spürte das Zittern der jungen Frau und tauchte aus seinen Gedanken auf. Er warf der Frau mit den langen braunen Haaren einen Blick zu. Sie sah verloren aus. Aber wer würde das nicht – nach dieser Wendung, die ihr Leben gerade genommen hatte! Matthews Augen wanderten zu dem hochgewachsenen Mann, der ihnen gegenüber auf einem Sessel saß. Henri Dupoit. Auch Matthews Leben war durch diese überraschende Bekanntschaft aus den Fugen geraten. Ob das nun gut oder schlecht war, wusste er nicht. Aber was hatte er schon zu verlieren?

      Matthew stutzte. Irgendetwas war anders. Irrte er sich oder sah Dupoit tatsächlich ein wenig älter aus als noch am gestrigen Morgen? Matthew konzentrierte sich auf das seltsam zeitlose Gesicht des Mannes, konnte sich aber nicht erklären, wie er nun plötzlich auf eine solche Idee kam. Und wenn Henri Dupoit ein wenig müde wirkte nach einem Tag, an dem er nicht nur erfahren hatte, dass seine Frau tot war, sondern an dem er auch noch seine Enkeltochter kennengelernt hatte, so war das doch nur verständlich! Oder?

      Sarah war die Erste, die das lange Schweigen brach. Ihre Stimme war leise, die Frage, die ihr auf der Seele brannte, kam stockend. »Wer war es…? Ich meine, hast du ihn gefunden … den Gefangenen?«

      Gespannt sah sie ihren Großvater an. Der brauchte ganz offensichtlich eine Weile, bis er aus seinem gedanklichen Aufenthalt in der Bücherwelt zurück zu seinem Pariser Leben fand. Seinem Leben, das lange vorbei war.

      Sarah bemerkte den Schmerz in Henris Augen. Von seinen Erlebnissen in der Bücherwelt hatte Dupoit ihnen zumeist flüssig erzählt. Natürlich hatte es auch da Passagen gegeben, deren Erwähnung ihrem Großvater ganz offensichtlich aus den verschiedensten Gründen schwerfiel. Vielleicht existierten sogar Erlebnisse, die er ihnen verschwiegen hatte, sei es, um seine Zuhörer nicht vollends zu überfordern oder um die Geschehnisse nicht ein weiteres Mal durchleben zu müssen. Aber insgesamt hatte Sarah den Eindruck gewonnen, die ganze Geschichte sei mit einer gesunden Distanz zu den Ereignissen erzählt worden. Als wenn das Erlebte, das ja eigentlich noch nicht lange her war, doch aus einer anderen Welt stammte und mit dieser hier nichts zu tun hatte. Aber ihr nun davon zu erzählen, was ihn dazu gebracht hatte, sich für das Unbekannte und gegen seine Familie, also im Grunde auch gegen sie, zu entscheiden, das war hier und jetzt für ihren Großvater real. Und es war schmerzhaft.

      Sarah blickte ihn dennoch erwartungsvoll an. Sie musste es wissen! Sie hatte ein Recht darauf, es zu wissen! Schließlich hatte sie selbst viel Zeit mit ihrer Suche verbracht. Erst hatte sie das Verschwinden ihres Großvaters aufklären wollen und dann war sie über diese seltsamen Buchtexte gestolpert, die von einem gefolterten Gefangenen zu stammen schienen. Henri Dupoit war dieser Spur vor ihr gefolgt. Er konnte ihre Suche zu einem Ende bringen. Oder, konnte er? Sarah war nervös.

      Ihr Großvater musterte seine ungeduldige Zuhörerin und seufzte tief. Sein Brustkorb hob und senkte sich, während er kurz die Augen schloss, um sich zu sammeln. Dann öffnete er sie langsam wieder und sein Blick richtete sich in die Ferne. Zurück in vergangene Zeiten. Er nickte einmal, als stünde ihm das gewünschte Bild wieder deutlich vor Augen, und begann seine nächste, seine eigentliche Geschichte. Er erzählte ihnen von seinem ersten Fund und der daran anschließenden Recherche.

      »Vor über dreißig Jahren war ich Professor an der Pariser Universität. Ich war jung, ungeduldig und wollte mir einen Namen machen. Ich war verbissen auf der Suche nach einem Forschungsprojekt, das neu und weltbewegend war.« Dupoit schüttelte während seiner Erzählung den Kopf, um Unverständnis gegenüber seinem früheren Ich mit dem heute unsinnig erscheinenden jugendlichen Ehrgeiz auszudrücken.

      »Mein Büro befand sich in genau dem Flur, in dem auch das Bild hängt.« Sein Blick streifte Sarah. Sie würde wissen, welches Bild er meinte. »Ich fand den geheimen Raum eher zufällig, als ich wieder einmal in Gedanken versunken vor dem Bild stand und dem ausgestreckten Arm des Matrosen im Ausguck mit den Augen folgte.« Dupoits Stimme schweifte ab. Fassungslos schüttelte er den Kopf. »Ich weiß nicht einmal mehr, was mich letztendlich dazu brachte, über den Rand des Rahmens zu fahren. Eine Spinnwebe? Eine Unebenheit, die mir auffiel? Vielleicht war es auch ganz einfach Schicksal.« Trauer klang in seiner Stimme mit. Trauer über das, was er durch diesen einen Moment verloren hatte. Er musste sich merklich zusammenreißen, um sie über den Fortgang der Ereignisse zu informieren.

      Dupoit war wie Sarah in dem kleinen Raum auf den Hinweis zu Le Morte Darthur gestoßen und hatte aus diesem von dem Hilferuf des Gefangenen erfahren. Dass er im Anschluss auch über Coleridges Rime gestolpert war, hatte er nur seiner überaus gründlichen Recherche in der Universitätsbibliothek zu verdanken.

      Sarah sah ihren Großvater gespannt an. Jetzt kam der spannende Teil seiner Geschichte. Bis hierher war sie auch gekommen. Aber wie ging es weiter? Wer war der Gefangene? Hatte ihr Großvater ihn befreit? Oder war er gescheitert und bei dem Versuch, einem anderen zu helfen, selbst gefangen genommen worden?

      Als Dupoit die innere Anspannung seiner Enkeltochter bemerkte, warf er ihr einen verständnisvollen Blick zu. Er war in ihrem Alter genauso