Heike Schwender

Der Weltenschreiber


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Seine Stimme brach. Sarah sah ihn besorgt an.

      »Was ist passiert?«, fragte sie ängstlich, ihre eigene Stimme nur noch ein Flüstern. Matthew hatte sich auf dem Sofa nach vorne gebeugt und blickte gespannt auf Dupoit. Der musste ein paarmal tief durchatmen, bevor er ihnen das Ende seiner Geschichte, das Ende seines Lebens auf der Erde, erzählen konnte. »Ich betrat das Antiquariat. Eine kleine Glocke über der Ladentür kündigte mich an, aber niemand erschien, um mich nach meinen Wünschen zu fragen. Ich ging langsam durch den Verkaufsraum. Da waren … so viele Bücher!«

      Sarahs Großvater hatte die Augen geschlossen. Seine Stimme klang furchtsam, als er sich an das Geschehene erinnerte. »Als ich am hinteren Teil des Raumes angekommen war, spürte ich es plötzlich.« Dupoits Finger umklammerten das Fensterbrett, vor dem er stand. Seine Knöchel waren weiß.

      »Es war … wie ein Ruf. Ein Zwang. Irgendetwas wollte, dass ich mich ihm näherte. Wie in Trance ging ich weiter durch den düsteren Verkaufsraum, bis ich an ein hölzernes Regal kam. Bücher. Das gesamte Regal war voller Bücher. Ich stand davor und auf einmal hörte ich ihn wieder. Diesen Ruf. Und da wusste ich es.«

      Sarahs Großvater öffnete plötzlich die Augen und starrte an seinen Zuhörern vorbei ins Leere. »Ich wusste, dass ich etwas Großes vor mir hatte. Etwas Einmaliges. Da war ein Buch, das zu mir sprach. Nicht wirklich natürlich. Aber in meinen Gedanken konnte ich es hören. In meinen Gefühlen konnte ich es spüren. Es war da. Und es wollte, dass ich es an mich nahm.«

      In Dupoits Augen trat ein Schmerz, der so groß war, dass Sarah ihn kaum ertragen konnte. »Ich streckte meine Hand nach dem Buch mit dem dunkelbraunen Ledereinband aus. Fühlte es auf meiner Haut. Es fühlte sich richtig an. Besonders.« Die Stimme von Sarahs Großvater war heiser vor Schmerz. »Aber es war eine Falle. Gerade als ich es berührte, nahm es mich mit.«

      Über Dupoits Wangen rannen Tränen, die er nicht mehr zurückhalten konnte. Sein Verlust war einfach zu groß. »Es setzte mich gefangen. Dreißig verdammte Jahre lang!«

      Kapitel 15

      Schweigen folgte diesem Ausbruch. Tiefes, gedankenverlorenes, trauriges und wütendes Schweigen. Etwas anderes konnte dem nicht folgen.

      Es dauerte lange, sehr lange, bis sie neben der andauernden Stille auch wieder Teile der Wirklichkeit zuließen. Seltsamerweise war es Matthew, der das Schweigen schließlich brach: »Wie geht es jetzt weiter? Was wollen wir tun?«

      Sarah und Henri blickten ihn völlig verdutzt an. »Wir?«, fragte Sarah erstaunt. »Tun?«, hakte Dupoit zur selben Zeit nach. Sie hielten inne und sahen sich gegenseitig an, sahen ihre verwirrten Gesichter – so unterschiedlich und doch in ihrem Ausdruck so gleich – und grinsten einer über den anderen. Aus dem Grinsen wurde ein Lachen. Vorsichtig erst. Dann mutiger und lauter. Matthew stimmte erleichtert mit ein. Gelächter war ihm auf jeden Fall lieber als diese völlige Schweigsamkeit! Und selbst wenn er, wie es schien, der Auslöser für das Gelächter war … egal! Hauptsache, diese seltsame Stille war aus dem Raum verschwunden!

      Sarah war die Erste, die sich wieder fing. Allerdings nicht freiwillig. Irgendetwas war in ihrem Geist aufgetaucht, als sie den verwirrten Gesichtsausdruck ihres Großvaters erblickt hatte. Irgendetwas, das nicht ganz greifbar war. Etwas … Seltsames …

      Dann fiel es ihr ein. Plötzlich und ohne Vorwarnung. Ihr Gelächter stoppte abrupt, als sie sich an die Begegnung vor zwei Tagen erinnerte. Ihr Blick wanderte in die Ferne.

      Es dauerte nicht lange, bis Dupoit und Matthew merkten, dass irgendetwas nicht stimmte. Ganz und gar nicht stimmte. Ihr Gelächter verstummte und sie blickten Sarah fragend an. »Was ist los?«, wollte Matthew wissen. Die junge Frau hatte Mühe, sich aus ihren Gedanken zu befreien. Aufgeregt sah sie ihren Großvater an. »Dein Gesicht!« Dupoit zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. Matthew zuckte unwillkürlich zusammen, als er das sah. Nun hatte er auch noch den letzten Beweis dafür, dass die beiden verwandt waren! Er unterdrückte ein Grinsen.

      Sarah hatte ganz offensichtlich Mühe, ihre Gedanken in eine verständliche Erklärung zu bringen. »Vor ein paar Tagen, ich war auf dem Weg zur Uni, da stand ich vor einer Buchhandlung. Das war irgendwie seltsam…« Vorausschauend warf sie Matthew einen warnenden Blick zu. Der hatte auch tatsächlich bereits den Mund geöffnet, wahrscheinlich, um sie ihre ungeschickte Formulierung noch weiter erklären zu lassen. Auf ihren Blick hin beeilte er sich aber, ihn wieder zu schließen.

      Sarah fuhr fort: »Der Laden war eigentlich nichts Besonderes. Ich habe schon weit schönere oder besser ausgestattete Buchhandlungen gesehen. Aber dennoch … ging irgendwie eine Anziehungskraft von dem Laden aus. Ich stand einfach nur da, starrte ins Schaufenster und hatte das dringende Bedürfnis, dem Geschäft einen Besuch abzustatten.« Sarah schüttelte verwirrt den Kopf. »Dabei lag dort nicht mal ein Buch, das mich interessiert hätte!«

      Das war an und für sich schon eine Seltenheit. Die junge Frau warf ihren Zuhörern einen Blick zu und vergewisserte sich, dass sie auch wirklich die volle Aufmerksamkeit der beiden besaß. Sie atmete einmal tief durch und kam dann zum eigentlichen Teil ihrer Geschichte.

      »Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn mich nicht ein Passant plötzlich angerempelt hätte. Wahrscheinlich wäre ich in den Laden gegangen…« Ihre Stimme verlor sich für einen Moment und kehrte dann zurück. »Aber als er mich anrempelte, war es, als hätte er mich aus einem Bann befreit. Die Anziehungskraft des Ladens verschwand ganz plötzlich. Der Stoß war so heftig, dass ich ins Taumeln geriet und alle Mühe hatte, auf den Füßen zu bleiben.«

      Dupoit und Matthew sahen sie immer noch an. Verständnislos. Sarah grinste innerlich. Dann würde sie mal zum eigentlichen Kern der Erzählung kommen. »Den Mann, der mich angerempelt hat, konnte ich nur ganz kurz sehen. Aber sein Gesicht … war einmalig. Es war wie deines«, fügte sie mit einem Blick auf ihren Großvater hinzu. »Maskenhaft und irgendwie zeitlos. Wie der Ausdruck in seinen Augen.«

      Sarah stellte befriedigt fest, dass ihre beiden Zuhörer sie immer noch ansahen. Die Verständnislosigkeit in ihren Gesichtern wich und machte Erkenntnis Platz. Erkenntnis und Aufregung.

      Und wieder war es Matthew, der die anderen beiden mit dem, was er sagte, überraschte. »Na, dann ist es ja klar, wo wir jetzt hingehen«, stellte er mit ruhiger Entschlossenheit fest. »Wir werden dieser Buchhandlung einen Besuch abstatten.«

      *

      Die späte Vormittagssonne schien von einem wolkenlosen Himmel zwischen den Häusern hindurch und es wehte nur ein sanfter Wind. Im Gegensatz zum vorherigen Nachmittag waren die Straßen um sie herum wieder voll lärmender Geschäftigkeit. Aber das alles wirkte nach der vergangenen Nacht seltsam unwirklich auf Matthew. Sarah und ihr Großvater unterhielten sich, aber er nahm ihr Gespräch nur am Rande wahr. Während die kleine Gruppe sich ihren Weg auf den gut gefüllten Gehsteigen bahnte, kreisten seine Gedanken um Dupoits Erzählung von dem Antiquariat. Gab es noch mehr Orte wie diesen in der Stadt? War die Buchhandlung auch so ein Ort?

      Matthew wurde jäh durch ein schneidendes Klingeln aus seiner Jacke aus seinen Gedanken gerissen. Er blieb überrascht stehen und begann, in den Taschen nach seinem Mobiltelefon zu wühlen. Sarah und Dupoit merkten erst nach einigen Metern, dass sie nur noch zu zweit waren, und drehten sich um. Als Matthew endlich das Telefon in der Hand hatte, bedeutete er ihnen, einen Moment zu warten. Er warf einen Blick auf das Display. Großartig. Die Büronummer.

      »Sieh einer an, wer da noch unter den Lebenden weilt«, meldete sich die unangenehm hohe Stimme von James Carmush am anderen Ende. Matthew kannte die cholerischen Anfälle seines Vorgesetzten nur zu gut, aber noch schien der Australier in seiner üblichen Laune zu sein – herablassend, aber beherrscht.

      »Ja, hallo Jim«, begann Matthew. Er biss sich auf die Lippe. Hatte er nicht eigentlich gestern schon kündigen wollen? »Es tut mir leid, aber...«

      »Was tut dir leid? Dass du zwei Tage lang nicht im Büro erscheinst? Oder dass mir Zürich im Nacken sitzt, weil die ihre Zahlen noch nicht haben? Außerdem erwartet die Chefetage morgen eine Präsentation von mir, die du...«

      Matthew