Shino Tenshi

Einfach nicht hinfallen


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ist er nicht, aber er hat mich auf den Nachhauseweg angesprochen und aufgehalten, sodass mich Robert mit seinen Schlägern einholen konnte und da ist mir jemand auf die Hand gestiegen. Ich weiß mittlerweile nicht einmal mehr, wer es war. Ist ja auch unwichtig.“ Ich winkte ab und wollte gehen, doch meine Freunde bewegten sich nicht.

      „Interessant. Derjenige, der dich verletzt hat, ist dir egal, aber Chris verfluchst du für sein Verhalten. Das klingt nicht besonders fair, Felix.“ Alex versuchte erneut mein schlechtes Gewissen zu wecken und ich spürte, dass er langsam sein Ziel erreichte. Das war einfach nur ein ekelhaftes Gefühl.

      „Vielleicht hatte er seine Gründe, dass er dich ansprach. Er wirkt auf mich nicht so, als würde er dein Leid wollen. Eher so, als hätte er Angst das nächste Opfer zu werden“, sprach Alex weiter und ich spürte, wie ich mich anspannte. Ich wollte nicht darüber nachdenken und Chris eine Chance geben. Wenn ich ihm verzieh, dann würde ich doch indirekt zugeben, dass ich ihm Unrecht tat, oder?

      „Ich weiß nicht, was er von mir will. Er will dauernd nur reden, aber ich will nicht, okay? Ist das wirklich so schwer zu verstehen?“ Ich wurde lauter als ich beabsichtigte, doch ich konnte es auch nicht unterbinden. Es tat weh, dass mir Alex solch eine Grausamkeit unterstellte und mich deswegen auch noch indirekt verurteilte. Ich wünschte mir, dass ich anders empfand, aber es ging nicht. Dieser Kerl hatte mir nicht geholfen, obwohl er mir gesagt hatte, dass die Schläge nicht in Ordnung waren. Das war nicht okay. Das war nicht gerecht. Er sollte auch leiden.

      „Du solltest ihm eine Chance geben, Felix.“ Leons Worte waren warm und sanft. Sie erreichten dadurch einen Bereich in meinem Herzen, den ich für Chris geschlossen halten wollte. Hatten sie vielleicht Recht? Sollte ich ihm die Chance geben, sich zu erklären? Würde ich mir das auch wünschen, wenn ich Chris wäre?

      Ich musste zurück denken, wie er vor mir gestanden hatte und so schüchtern und unsicher gewesen war. Das Zupfen an seinen Ärmel und dieses traurige Lächeln. Desto mehr ich über ihn nachdachte, desto ähnlicher wurde er mir. Nach wenigen Atemzügen sah ich mich selbst in Chris. Damals, als ich kurz davor gewesen war, mich zu outen. Diese Last, die auf den Schultern lag, weil man sich selbst verleugnete. Es konnte nicht wahr sein, oder? War Chris schwul?

      „Du siehst aus, als hättest du einen Geistesblitz gehabt. Worüber denkst du gerade nach?“ Alex’ Worte drangen zu mir durch und erst jetzt registrierte ich meine beiden Freunde wieder. Ob sie genauso dachten? Wirkte Chris auf sie wie jemand, der ein tiefes Geheimnis hütete, dass ihn zerstören könnte? Wollte er deshalb mit mir sprechen, weil er genauso ein gesellschaftliches Tabu in sich trug? War er sogar wie ich?

      „Über Chris. Ich sollte vielleicht doch mal mit ihm reden.“ Diese Entscheidung fiel mir plötzlich einfach, dass ich sogar kurz über meine eigenen Worte erschauderte. Leon sah mich kurz schräg an, während mich Alex sanft anlächelte. Es war ein gutes Gefühl, sie bei mir zu wissen und dennoch wünschte ich mir, dass ich auch Marc zu dieser Lage befragen könnte. Er war wie ich und wusste, wie grausam die Gesellschaft zu Menschen wie uns sein konnte. Sie dagegen sahen es nur vom Rande aus. Niemals könnten sie wirklich verstehen, wie es einen ging.

      „Das klingt nach einer guten Idee. Chris schien wirklich dringend jemanden zum Reden zu brauchen und so wie es aussieht, hat er dich dafür vorgesehen.“ Alex klopfte mir aufmunternd auf die Schultern. Meine Gewissensgrille war also mit dieser Entscheidung zufrieden. Ob meine Nase irgendwann auch länger würde, wenn ich log?

      Ich musste bei diesem Gedanken ein wenig schmunzeln und innerlich den Kopf schütteln. Dieser Film zählte nicht unbedingt zu meinen Lieblingen. Ich mochte nur die Katze darin, aber dennoch musste ich im Moment immer wieder an dieses Beispiel denken. Vielleicht war er auch eher wie Sebastian die Krabbe. Aber dafür verpetzte er zu wenig. Er ließ mich meine Entscheidungen selbst treffen und redete mir lieber ins Gewissen.

      „Das freut mich, Jiminy.“ Ein Grinsen zauberte sich auf meine Lippen, welches sogar noch breiter wurden, als ich Alex verwirrten Blick erkannte und selbst Leon musste leise kichern, worauf sich der Schwächere zu ihm umdrehte und ihn noch verwirrter musterte.

      „Das ist ein guter Vergleich, Felix.“ Leon hatte Mühe sich wieder einzukriegen und langsam wurde aus dem Kichern ein lautstarkes Lachen, was mich sogar ein wenig ansteckte. Alex selbst verstand noch weniger und langsam verwandelte sich seine Verwirrung in Ärger um, worauf ich sanft seine Schulter berührte.

      „Das ist nicht böse gemeint, Alex, aber manchmal wirkst du auf mich, wie mein Gewissen, das mich von schlechten Entscheidungen abhalten will. Vor allem in der Sache Chris hast du es wirklich stark raushängen lassen.“ Ich hoffte, dass ich ihn so ein wenig besänftigen konnte und tatsächlich entspannten sich seine Züge. Er lächelte nun ebenfalls und langsam fing sich auch Leon wieder.

      „Lust auf ein Eis, um euren Sieg zu feiern?“, schlug ich eine nächste Unternehmung vor, die mit Einstimmigkeit angenommen wurde. Der einstige Unmut, den Chris über uns gelegt hatte, war nun verschwunden und ich hatte mir vorgenommen, dass ich am Abend mal bei ihm Zuhause vorbeigehen würde. Vielleicht brauchte er ja wirklich meine Hilfe und auch wenn ich ihm seine Zurückhaltung von damals noch nicht gänzlich verziehen hatte. So wollte ich ihm zumindest die Chance geben sich zu erklären. Jeder hatte es verdient, sich erklären zu dürfen. Auch Chris…

      Kapitel 3

      „Tau“, las ich in Gedanken das Namensschild über der Türklingel. Ein kurzer und knapper Familienname, bei dem ich weder an die Mafia noch an eine andere Verbrecherorganisation denken musste und der in mir auch sonst keine negativen Verknüpfungen hervorrief. Dennoch zitterte mein ganzer Körper, als es darum ging, auf die Klingel zu drücken.

      Alex und Leon hatten sich bei dem Gartentor von mir verabschiedet aber erst, nachdem ich ihnen mehrmals versichert hatte, dass es für mich okay war, wenn sich unsere Wege für heute hier trennen würden. Ich wollte mit Chris alleine sprechen. Schließlich schien ihn jeder andere nervös zu machen. Er sollte frei sprechen können.

      Ich atmete tief ein und aus, bevor ich dann all meinen Mut zusammennahm und auf die Klingel drückte. Es dauerte nur wenige Atemzüge und im nächsten Moment sah ich in das fragende Gesicht von Chris. Zumindest dachte ich das im ersten Augenblick, weil sie sich so ähnlich sahen, doch dann sprangen mir ihre Brüste förmlich ins Gesicht und auch das längere Haar wurde mir bewusst, welches über ihre Schultern fiel.

      „Ja?“ Sie wirkte genervt, als sie sich möglichst cool an den Türrahmen lehnte und ich spürte erneut dieses Unbehagen in mir. War es wirklich in Ordnung hier zu sein? Vielleicht war Chris ja auch noch gar nicht Zuhause? Sollte ich vielleicht später wiederkommen oder jetzt einfach mit der Tür ins Haus fallen? Mir kam es vorhin gar nicht in den Sinn, dass jemand anderes als Chris die Tür öffnen könnte, doch jetzt sah ich mich genau in der ungeplanten Möglichkeit gefangen. Aber wenn ich genauer darüber nachgedacht hätte, wäre mir bewusst geworden, dass die Chancen, Chris an der Tür anzutreffen, eher schlecht gestanden hatten.

      „Ähm…“ Ich strich mir nervös über den Nacken und zupfte dann noch einmal an meinem Gips, bevor ich ihr genervtes Stöhnen wahrnahm und mir einen Ruck gab. „Ich möchte kurz Chris sprechen. Mein Name ist Felix und ich bin ein Klassenkamerad von ihm.“

      „Muss das jetzt sein? Hättest du ihm das nicht in der Schule sagen können? Ach, meinetwegen. Ich hol ihn dir kurz.“ Sie knallte mir die Tür vor der Nase zu und ich überlegte kurz, ob sie ihre Worte wirklich ernst meinte oder ob sie mich jetzt einfach hier draußen stehen lassen würde. Gerade als ich mich dazu entschlossen hatte, dass sie mich wohl verarscht hatte, öffnete sich die Tür und ich sah in das schüchterne Gesicht von Chris.

      Wie hatte ich seine Schwester für ihn halten können? Er hatte ausgeprägtere Wangen und einen schmaleren Mund als sie. Auch waren seine Augen dunkler als ihre und sie entführten einen in eine Unendlichkeit, die einen vielleicht nie wieder hergeben würde.

      „Felix?“ Chris schien meine Anwesenheit nicht glauben zu können, denn seine Augen wurden ganz groß und auch richtete er sich aus seiner zu Anfang kauernden Haltung auf, bevor er sogar leicht lächelte. Dies erstarb