Emmi Ruprecht

Erleuchtet


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Hand das Bett loslassen. Glücklicherweise schien diese unversehrt zu sein. Willig gehorchte sie meinem Befehl und tastete nach meinem Kopf.

      Ein Schock fuhr mir durch die Glieder. Meine Haare! Wo waren meine Haare?! Ich fühlte nur so etwas wie ... Stoff?

      Mittlerweile war ich wach. Auch ohne Kaffee und trotz Brummen im Kopf. Fast panisch schlug ich die Decke zurück. Was war mit meinen Beinen?

      Am Ende des Bettes erblickte ich meine Unterschenkel und meine Füße, deren Zehen ich sofort probehalber bewegte. Klappte einwandfrei.

      Erleichtert ließ ich mich wieder ins Kissen sinken.

      Au! Mein Kopf!

      Jede Bewegung schmerzte und hallte dröhnend im Innern meines Schädels nach. „Lieber nicht rühren und einfach liegen bleiben“, dachte ich.

      Doch nur einen Moment später drängten sich furchterregende Gedanken in mein Bewusstsein: Wie sah ich aus? War mein Gesicht noch da? Was, wenn ich durch einen Unfall total entstellt wäre und aussähe wie das Phantom der Oper unter seiner Maske? Und aufs Klo musste ich jetzt auch! Deshalb half alles nichts und die Infusionsnadel konnte mich nun auch nicht mehr schrecken. Mühsam setzte ich mich auf, ergriff resolut den Infusionsständer und erinnerte mich daran, dass Tom Hanks in „Streets of Philadelphia“ damit sogar tanzen konnte ...

      Was für eine völlig überflüssige Information, die mein Gehirn da ausspuckte! Konnte es sich nicht wenigstens in diesem wirklich existenziellen Moment auf das Wesentliche konzentrieren?

      Dann stand ich auf. Und setzte mich gleich wieder. Scheiße, war mir schwindelig! Nur mühsam konnte ich einen Brechreiz unterdrücken. Aber egal: Ich wusste, wo das Klo war – jedenfalls war ich ziemlich sicher, dass es sich hinter der Tür neben dem Wandschrank befand. Und da musste ich jetzt hin! Dort gab es sicher auch einen Spiegel ... außer, das fürsorgliche Krankenhauspersonal hatte ihn vorsichtshalber abgehängt, um mir den furchtbaren Anblick zu ersparen, der mich erwartete, wenn ...

      Hilde! Reiß dich zusammen!

      Also probierte ich es noch einmal: Ich stellte beide Füße fest auf den Boden, packte den Infusionsständer, atmete tief ein und wieder aus und stand auf. Jetzt passte es. Ich ging ein paar Schritte. Auch das funktionierte. Ich ignorierte das fast hubschraubergleiche Dröhnen in meinem Kopf und das Schwindelgefühl, das mich sofort wieder aufs Bett zwingen wollte, denn ich musste ins Bad, und zwar dringend. Also stieß ich alle Bedenken beiseite, ob ich wirklich dazu in der Lage wäre, den Weg bis dahin zurückzulegen, und hangelte mich zwischen Infusionsständer und Bett durchs Zimmer. Ich riss die Tür auf. Wo war denn hier der Lichtschalter? Verdammt noch mal, warum waren die zu blöd ... ah, gleich rechts neben der Tür, fast verdeckt von dem Handtuch, welches an einem Haken darüber hing.

      Ich schaltete das Licht an und ... Gott sei Dank!

      Mein Blick war in den Spiegel gefallen, und der Anblick war nicht schön, aber ich erkannte mich auf Anhieb wieder. Bis auf ein etwas verquollenes Gesicht und völlig verlaufene Wimperntusche war auch alles gut. Der restliche Kopf – okay – da war ein Verband, aber das hatte ich schon geahnt. Jedenfalls schien ich noch Haare zu haben! Vielleicht nicht am ganzen Kopf – keine Ahnung, was sich unter dem Turban befand – aber wenigstens ein paar schauten unter den weißen Stoffstreifen hervor.

      Erleichtert seufzte ich. Und dann gab es kein Halten mehr und ich reiherte, was das Zeug hielt, ins Waschbecken.

      +

      Zwei Tage später war ich wieder zuhause. Endlich!

      Ich stand mitten in meinem Wohnzimmer und sah aus dem Fenster in den trüben Mainachmittag. Nun, da ich wieder in meiner vertrauten Umgebung war, die genauso aussah wie an jenem Abend, als ich sie verlassen hatte, erschien mir die Zeit im Krankenhaus fast wie ein schlechter Traum und komplett irreal. Hatte es meinen Klinikaufenthalt wirklich gegeben?

      Erleichtert hatte ich heute Mittag meine Entlassungspapiere und den Brief an meinen Hausarzt, der mir eine Gehirnerschütterung und eine Platzwunde bescheinigte, vom Stationsarzt entgegengenommen. Glücklicherweise hieß das, dass ich wieder nach Hause konnte! Sofort hatte ich meine wenigen Sachen zusammengepackt, das Krankenhaus verlassen und ein Taxi gerufen. Vor ein paar Minuten hatte es mich vor dem Haus abgesetzt und ich hatte die drei Stockwerke bis zu meiner Wohnung erklommen. In den letzten zwei Tagen hatte ich nichts so sehr herbeigesehnt wie diesen Moment, wenn ich endlich wieder in meiner Wohnung, in meinem Leben sein würde!

      Huch! Hatte ich das gerade wirklich gesagt? Ich?

      Nun stand ich hier, in meinem Wohnzimmer, blickte aus dem Fenster auf den Baum vor dem Haus und daran vorbei auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo sich ebenfalls eine Altbauwohnung an die andere reihte, und konnte mich nicht rühren. In den letzten zwei Tagen hatte ich wohl verdrängt, in was für einem Zustand ich mich befunden hatte, als der Unfall im Park geschah. Die wenig anheimelnde Krankenhausatmosphäre sowie die nicht vorhandene Privatsphäre – ein Krankenhauszimmer ist ein öffentlicher Raum, in den jeder jederzeit, bestenfalls angekündigt durch ein kurzes Klopfen eine Zehntelsekunde vor Aufreißen der Tür, eindringen kann – hatten mich von tiefer gehenden Reflektionen über das Geschehene abgehalten. Meine gut besuchte Bettnachbarin, die mir noch am selben Nachmittag, als ich im Krankenhaus erwacht war, zugeteilt wurde, ebenfalls.

      Aber jetzt, hier, in meinem alten, vertrauten Leben, da gab es nichts mehr, was mich ablenkte. Es hätte so gut getan, einfach losheulen zu können, um dem Schmerz eine Möglichkeit zu geben, meinen Körper zu verlassen, aber dafür war der Druck auf meiner Brust viel zu schwer. Es war alles wieder da, was ich vor meinem Sturz gefühlt hatte. Besonders die Aussichtslosigkeit konnte hier, im vertrauten Heim, wo sich nichts verändert hatte, wo mein Leben wieder so war, wie es war, ihre volle, alles verschlingende Wirkung entfalten.

      Statt der ersehnten Tränen lief meine Nase. Mechanisch suchte meine Hand in meinem Jackett, das ich erstmals seit Freitag, der Nacht meines Unfalls, wieder trug, nach einem Taschentuch. Dort war aber keines. Stattdessen ertasteten meine Finger etwas anderes: ein kleines, glattes Stück Pappe, das vor meinem Unfall sicher nicht da gewesen war – daran hätte ich mich spätestens jetzt erinnert. Ich zog das Etwas aus der Tasche, legte es auf das Sideboard und suchte erst einmal nach einem Taschentuch, das ich bald fand. Nachdem ich vorsichtig, um nicht mehr Druck als nötig auf meinen Kopf auszuüben, meine Nase geputzt hatte, wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Stück Pappe zu, das auf dem Sideboard lag. Es hatte das Format einer Visitenkarte und war weiß. Eine Schrift war nicht zu sehen – vermutlich befand sich diese auf der nach unten liegenden Seite der Karte.

      Hm. Sollte der Freitagabend in der Bar vielleicht doch nicht so völlig ergebnislos verlaufen sein, wie ich ihn in Erinnerung hatte? Hatte ich eventuell einen sehr zurückhaltenden Verehrer gehabt, den ich gar nicht bemerkt hatte? Hatte dieser Jemand heimlich seine Karte in meine Jackentasche gesteckt in der Hoffnung, dass ich genauso neugierig war, wie man es Frauen nachsagte, und anrief?

      Huch!

      Konnte es vielleicht sogar dieser höchst attraktive große Dunkelhaarige gewesen sein, der mir zwar aufgefallen war, ich ihm jedoch nicht – jedenfalls hatte ich das bis jetzt geglaubt? Hatte ich dem Leben vielleicht doch überzeugend gezeigt, wie ernst ich es gemeint hatte mit dem „Loslassen“? Und hatte sich das Leben entsprechend beeindruckt gezeigt und endlich, aber auch wirklich auf den allerletzten Drücker, den Traumprinzen in mein Leben gezaubert, der schon so lange überfällig war?

      Eine Flut von Fragen rund um die Visitenkarte, die unschuldig auf meinem Sideboard lag, türmte sich innerhalb von maximal einer Zehntelsekunde vor mir auf. Die zweite Zehntelsekunde brauchte ich, um zum Sideboard zu hasten, die Karte zu ergreifen und umzudrehen. Und die dritte, um zu lesen, was darauf stand:

      Dr. Siegbert Gärtner, Praxis für Psychotherapie und Hypnose. Darunter eine Adresse und eine Telefonnummer.

      Ein Psychotherapeut?

      „Warum nicht?“, dachte ich gut gelaunt. „Dann ist er eben Psychotherapeut! Von irgendwas muss er schließlich leben. Vielleicht kann ich den ja tatsächlich gerade gut gebrau...“

      Ich stockte. War das ein Zufall? Hatte mir das Schicksal,