Emmi Ruprecht

Erleuchtet


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gut, dann würde ich das Missverständnis eben hier aufklären!

      Erstaunt nahm ich zur Kenntnis, dass es in seinem Sprechzimmer völlig anders aussah als im Rest des Hauses, soweit ich es gesehen hatte. Hier wirkte alles ganz normal: weiße Wände, ein hellgrauer Teppich und hohe weiße Bücherregale, die fast bis zur Decke reichten. Gegenüber des großen Fensters, welches mit halbgeöffneten Lamellenjalousien verhängt war, stand ein großer weißer Schreibtisch, auf dem sich neben einem Bildschirm, der Tastatur und einigen Büroutensilien wie Locher, Hefter und Stiften, jede Menge Zeitschriften, Schnellhefter und schmale Aktenordner stapelten. In einer Ecke neben dem Fenster befand sich eine kleine Sitzgruppe aus schmalen schwarzen Ledersesseln und einem kleinen Tisch, der aus einem Chromgestell mit einer Glasplatte darauf bestand.

      Herr Dr. Gärtner war nach mir ins Zimmer getreten und hatte die Tür geschlossen. Noch bevor ich zum eigentlich Grund meines Besuchs kommen konnte, wies er mit seiner Hand auf die Sitzgruppe.

      „Bitte“, sagte er knapp und erwartete vermutlich, dass ich mich setzte.

      So, jetzt musste ich aber langsam meine Sprache wiederfinden, sonst würde ich hier am Ende noch tatsächlich zu einer Therapiestunde verhaftet!

      „Entschuldigen Sie, ich möchte da etwas klarstellen ...“, begann ich, doch Herr Dr. Gärtner fiel mir ins Wort. „Das können wir auch ganz in Ruhe im Sitzen besprechen. Bitte!“

      Sein „Bitte“ war zwar freundlich, aber bestimmt. Da ich mich nicht streiten wollte und weil es mir auch unangenehm war, ihm mitteilen zu müssen, dass er nun nicht, wie vermutlich erwartet, mit einer neuen Kundin rechnen konnte, folgte ich seiner Aufforderung und nahm Platz.

      Jetzt aber!

      „Möchten Sie Tee?“, fragte mein Gegenüber noch bevor ich Luft holen konnte.

      Irritiert schaute ich ihn an. Aber dann fragte ich mich, warum ich nicht ein Tässchen mit ihm trinken sollte? Schließlich hatte er mir wohl das Leben gerettet und da wäre es grob unhöflich, ihm so etwas unverbindlich Harmloses abzuschlagen, wie gemeinsam eine Tasse Tee zu trinken. Was sprach schon gegen einen kurzen Höflichkeitsplausch bei einem Heißgetränk? Außerdem, stellte ich erleichtert fest, hatte ich noch nie davon gehört, dass bei einer Therapiesitzung Getränke gereicht wurden. Vermutlich hatte er längst begriffen, dass ich nicht vorhatte, mich von ihm gehirnwaschen zu lassen? Sicherlich hatte ich unser Telefonat einfach falsch gedeutet.

      Also nickte ich und lehnte mich entspannt im Sessel zurück.

      „Dann hole ich mal eben eine Kanne. Ich habe festgestellt, dass meine Klienten sich bei Tee leichter entspannen und öffnen können.“

      Ich zuckte zusammen.

      „Die Küche ist unten, aber ich brauche nur ein paar Minuten. Beginnen Sie doch schon mal damit, den Bogen auszufüllen. Falls Sie mit einer Frage nicht klar kommen – ich bin gleich wieder da“, sagte er und reichte mir einen dünnen Stapel Papier.

      „Herr Dr. Gärtner, ich danke Ihnen sehr, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben. Allerdings möchte ich Ihnen sagen ...“

      „Machen wir alles gleich“, fiel er mir ins Wort, „wir haben Zeit.“

      Damit verließ er den Raum und ließ mich ratlos mit dem Papierstapel zurück.

      Was sollte ich jetzt machen? Ihm hinterherlaufen und erklären, dass ich nicht vorhatte, eine Therapie bei ihm zu beginnen? Meine Tasche schnappen, mich auf meine Socken machen und einfach verschwinden?

      Ich warf einen Blick auf den ersten Bogen. Das sah aus wie ein Psychotest! Ach, wie spannend! Die gab es ja auch manchmal in Zeitschriften und ich füllte sie immer gerne aus. Hm ... mal sehen ... was wollte der Test denn so wissen?

      Ich blätterte den mehrseitigen Bogen auf und überflog die erste Seite. „Grübeln Sie viel?“, lautete eine Frage. Ja, doch, ich denke schon. Obwohl – ich reflektierte mich halt. War das so schlimm?

      „Haben Sie Angst davor Entscheidungen zu treffen?“

      Entscheidungen treffen? Ich hatte den Aszendent Waage – da fiel es mir natürlich schwer mich zu entscheiden. Aber dafür konnte ich nichts, das war mein Sternbild!

      „Haben Sie schon einmal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen?“

      Ich fühlte mich ertappt. Obwohl „stimmt teilweise“ kam der Wahrheit doch schon recht nahe, oder? Ich meine, ich hatte ja nicht ernsthaft vorgehabt ... das war ja eigentlich ein Versehen gewesen!

      Irgendwann war ich mitten drin und kreuzte an, dass ich bislang noch nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten war (war das jetzt gut oder schlecht?), dass ich es eher schwierig fand, eine an mich gestellte Bitte abzulehnen, dass Alleinsein kein Problem für mich darstellte und ich anderen Menschen viel zu selten sagte, was ich wirklich von ihnen dachte. Seite für Seite arbeitete ich durch und beantwortete brav einen Punkt nach dem anderen.

      Manchmal fand ich die Fragen schon ein wenig unangenehm und musste deshalb die angekreuzten Antworten mit Bemerkungen, die ich an den Rand kritzelte, erläutern: Natürlich war ich absolut davon überzeugt, dass ich ein nützlicher Mensch war und man mich brauchte. Nur andere Menschen wussten das nicht! Aber dafür konnte ich doch nichts? Und woher sollte ich wissen, ob mir Sex noch genauso viel Spaß machte wie früher? Ich hatte keinen!

      Als ich die letzte Seite ausgefüllt hatte, fand ich, dass auch mein Gesprächspartner sich mal wieder blicken lassen könnte. Ich sah hoch – und begegnete dem Blick von Herrn Dr. Gärtner. Er saß im Sessel gegenüber und starrte mich unverwandt an. Ich hatte nicht gehört, dass er zurückgekommen war, und nun erschrak ich, als er so plötzlich vor mir saß.

      Als ich mich wieder gefasst hatte, überlegte ich, dass er doch Tee hatte holen wollen. Dann fiel mein Blick auf den Tisch, und wie von Zauberhand stand dort plötzlich ein Tablett mit einer Thermoskanne, Milch und Zucker. Eine Tasse mit dampfendem Tee stand genau vor mir auf der Glasplatte.

      Erstaunt sah ich wieder zu meinem Gegenüber. Sein Blick hatte sich nicht verändert und war immer noch direkt auf mich gerichtet. Nicht unfreundlich, aber beobachtend. Ich fühlte mich komplett durchleuchtet und mir wurde heiß und kalt.

      „Fertig?“, fragte er.

      Ich nickte und reichte ihm die Bögen über den Tisch. Dann nippte ich erst einmal an dem Getränk und versuchte mich zu sammeln. Moment mal! Eigentlich wollte ich doch gar nicht von ihm therapiert werden! Und jetzt gab ich ihm sogar die Gelegenheit, Dinge über mich aus den Bögen zu lesen, die ich selbst meinen besten Freunden gegenüber niemals zugegeben hätte? Das lief aber gerade gar nicht optimal!

      Mein Gegenüber schien meinen Konflikt nicht zu bemerken und las sich meine Antworten sofort durch. Auch das war mir unangenehm. Da ich befürchtete, irgendeine Reaktion in seinem Gesicht ablesen zu können, was mir erst recht unangenehm gewesen wäre, studierte ich stattdessen lieber seine Bücher in den Regalen, denn von denen gab es eine Menge. „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ – das hörte sich ja ganz nett an. Dann sah ich „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“ gleich neben „Ich bin Viele – Eine ungewöhnliche Heilungsgeschichte“. Huch, das war ja auch ein Schicksal! Im Regalfach daneben fiel mir „Zur Psychologie des Massenmords“ ins Auge. Daneben stand „Stalking and Psychosexual Obsession“ sowie „Operation Triebtäter – Kastration als ultima ratio“. Ja, sag einmal ... mit so etwas befasste er sich? Um Himmels Willen! Was waren das für Leute, die normalerweise hier in diesem Sessel saßen? Stalker, Triebtäter und Massenmörder?

      Umso besser, dachte ich nach einer Schrecksekunde. Dann würde ja nach dem Studium meiner Antworten in diesem Bogen endlich klar sein, dass ich hier nichts zu suchen hatte und sich Herr Dr. Gärtner woanders um Klienten bemühen musste!

      Während ich geneigt war, mich an diesem Gedanken festzubeißen, räusperte sich mein Gegenüber, ordnete die von mir ausgefüllten Bögen auf seinem Schoß und sah mich zufrieden an.

      „Gut“, sagte er, „das ist doch sehr aufschlussreich.“

      „Was genau meint er jetzt damit?“,