Emmi Ruprecht

Erleuchtet


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diesem aufwändig gestalteten Schild war noch ein sehr viel kleinerer, im Gegensatz zu dem obigen auffallend schmuckloser Hinweis angebracht, welcher auf meinen Lebensretter hinwies: Dr. Siegbert Gärtner, Psychotherapie und Hypnose, 1. Stock. Ich fand, dass selbst Hypnose im Zusammenhang mit den oben genannten Aktivitäten geradezu spießig wirkte.

      Ich hatte meinen Lebensretter bei unserem ersten Zusammentreffen nur als dunkle Gestalt mit einem hellen Schein um den Kopf herum wahrgenommen. Auch das Telefonat hatte keinerlei Aufschluss darüber gebracht, wie dieser Mann tatsächlich aussah, dem ich gleich gegenüberstehen würde. Nicht einmal sein Alter konnte ich schätzen. Meine diesbezügliche Annahme beruhte einzig und allein auf seinem Vornamen „Siegbert“, und demnach musste er mindestens hundert sein. Dass er mir darüber hinaus unsympathisch sein würde, wusste ich seit unserem gestrigen Telefonat.

      Angesichts von Windspiel, Heilsingen und Co. entstand nun in meiner Fantasie das Bild eines kleinen, dicken, einen verwanzten Wollpullover tragenden Mannes mit Nickelbrille, ausgebeulter Cordhose und komplett abgelatschten Gesundheitsschuhen, der einen selbstgetöpferten Becher mit Tee vor sich hertrug, aus dem es ab und zu tropfte, weil er ihn in Ermangelung ausreichender Aufmerksamkeit und Körperspannung ständig gefährlich schräg hielt. Herr Dr. Gärtner wurde mir mit jeder Sekunde, die ich vor der Tür wartete, unsympathischer!

      Ich schärfte mir erneut ein, mich auf gar keinen Fall auf eine Therapie oder Ähnliches einzulassen. Zwar hatte mein Lebensretter das gestern Abend ziemlich uncharmant so verfügt, doch ich zog es vor, einfach nur das durch meine Fehleinschätzung entstandene Missverständnis auszuräumen, mich dafür zu bedanken, dass er mich aus dem Wasser gezogen hatte, und dann wieder zu verschwinden. Das Ganze war mir zwar unangenehm, weil Herr Dr. Gärtner einen ganzen Termin für mich freigehalten hatte und sicher erwartete, neue Kundschaft akquiriert zu haben, doch ich plante in dieser Angelegenheit hart zu bleiben. Und vielleicht sollte ich jetzt, solange auf mein Klingeln noch keine Reaktion erfolgte, einfach die Gelegenheit nutzen und wieder verschwinden? Ich hatte es versucht – ehrlich! Aber wenn niemand öffnete – was konnte ich dafür?

      Kaum hatte ich das gedacht, da ertönte auch schon der Türsummer. Es war Punkt 16:00 Uhr. Ich seufzte. Schade! Hätte das Schicksal nicht einmal etwas unkompliziert in meinem Sinne regeln können? Aber vermutlich hätte mich dann doch irgendwann das schlechte Gewissen gepackt, weil ich einen verabredeten Termin nicht ordnungsgemäß wahrgenommen hatte. Also fügte ich mich der Vorsehung und drückte die Tür auf. Was hatte ich noch gleich sagen wollen? Ach ja: „Guten Tag, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Wie, Sitzung? Nein, nein, das ist wohl ein Missverständnis ...“

      In dem kleinen, orangefarben gestrichenen und mit Terracotta-Fliesen ausgelegten Eingangsbereich fiel mir zunächst ein rotes Etwas aus Ringen, Puscheln und Federn auf, das von der holzgetäfelten Decke hing. Vielleicht ein Fliegenfänger, nur ohne Fliegen? Hm. Ich berührte es vorsichtig mit den Fingerspitzen, doch es schien nicht klebrig zu sein. Seltsam. Oder sollte es möglicherweise böse Geister fernhalten? Ich grinste. Dann könnte ich so ein Gerät bei mir im Büro ausprobieren und schauen, ob es auch gegen meinen Chef wirkte!

      Unter dem seltsamen Etwas, gleich neben der Tür, die weiter in das Hausinnere führte, stand ein Regal mit Schuhen. Altmodische, ausgeblichene rote Damenstiefel aus Wildleder – wann waren die denn mal modern gewesen? – standen neben klobigen, ausgetretenen Herrensandalen. Darunter befanden sich ein Paar Turnschuhe und dunkelblaue Ballerinas mit Schleifchen. Gleich daneben bemerkte ich ein Schild: „Bitte ziehen Sie die Schuhe aus, um keine schmutzigen Energien in den inneren Raum zu tragen. Danke!“

      Ich stutzte. Galt das auch für Besucher? Solche wie mich? Sollte ich wirklich meine Schuhe ausziehen, oder machte ich mich damit in den Augen des Psychotherapeuten, den ich aufzusuchen gedachte, erneut verdächtig, weil sich diese Aufforderung natürlich nur an den Heilsing-Kreis richtete und nicht an normale Menschen? Und würden meine Schuhe noch dort stehen, wenn ich die Praxis wieder verlassen wollte? Wer garantierte das? Wie sollte ich im Falle eines Falles ohne Schuhe nach Hause kommen? Ich überlegte einen Moment lang, ob ich es ohne Aufsehen zu erregen schaffen könnte, auf Socken bis zu meinem Auto zu gelangen. Zumindest theoretisch schien mir das möglich zu sein, wenn es auch Überwindung kosten würde!

      Nachdem ich abgewogen hatte, ob es nun unangenehmer wäre, den Hinweis falsch zu deuten und irrtümlich auf Socken durch die Praxis zu rennen oder von einem empörten Insassen auf meine Dreistigkeit hingewiesen zu werden, das Haus durch schmutzige Energien entweiht zu haben, entschied ich mich schließlich dafür, mich vorübergehend von meinen Schuhen zu trennen. Sie waren sowieso nicht mehr ganz neu.

      Beim Ausziehen stellte ich erleichtert fest, dass ich morgens ein Paar verhältnismäßig neue Socken erwischt hatte. Zwar achtete ich gemeinhin sehr auf meine Garderobe, doch zugegebenermaßen vernachlässigte ich meine Strümpfe, weil ich normalerweise nicht in die Verlegenheit geriet, diese der Öffentlichkeit präsentieren zu müssen.

      Schon ein wenig stolz auf meine zufälligerweise ansehnliche Fußbekleidung verließ ich den Eingangsbereich durch die angelehnte Tür, die in einen großen Flur führte, und stieg die mit grober Naturfaser bespannten Treppenstufen empor. Auf einem Absatz in mittlerer Höhe begegneten mir auf einem kleinen Rattan-Tisch große rosafarbene Salzkristalle, die hinter einer goldfarbenen Statue drapiert waren, die vermutlich Buddha darstellen sollte, aber ich kannte mich da nicht so aus. Gab es noch andere dicke, sitzende Heilige, von denen Statuen gefertigt wurden?

      Dann hob ich meinen Blick zur nächsten Etage und erblickte auf einer lachsfarben gestrichenen Wand einen Behang aus Stoff mit einer nackten Figur, die von kreisförmigen Ornamenten bedeckt war. Zugegeben: Mit jedem weiteren Detail, das ich in diesem Haus entdeckte, wurde ich unsicherer, ob es klug gewesen war hierherzukommen, ohne wenigstens meiner Nachbarin Bescheid zu geben, wo ich mich aufhielt. Wo war ich hier nur gelandet?

      Vorsichtig schritt ich die letzten Stufen zum oberen Stockwerk hinauf. Währenddessen drangen aus einem der Räume dort oben langgezogene metallische Töne an mein Ohr. Aus dem Erdgeschoss vernahm ich für einen Moment so etwas wie ein Stöhnen, als eine Tür geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen wurde. Doch sonst war es still und niemand war zu sehen.

      Als ich fast oben angekommen war, überlegte ich in Anbetracht der vielen Türen, die vom Flur abgingen und die alle geschlossen waren, wie ich verfahren sollte, um zu meinem Lebensretter zu finden. Sollte ich nach ihm rufen? Ich könnte ja auch einfach wieder gehen, wenn sich daraufhin niemand meldete. Vielleicht hatte jemand den Summer nur versehentlich betätigt und Herr Dr. Gärtner war gar nicht da?

      Doch kaum hatte ich die letzte Treppenstufe erklommen, da öffnete sich eine der zahlreichen Türen und ein großer, schlanker Herr um die sechzig, bekleidet mit einem weißen Hemd und Krawatte zu einem grauen Anzug stand im Flur. Seinen Aufzug hätte ich sicher in einem Versicherungsfachbüro erwartet, aber bestimmt nicht hier! Einzig und allein die braun-karierten Hausschuhe, die sich in einem seltsamen Kontrast zu der übrigen Kleidung befanden, wiesen darauf hin, dass dieser Mensch hierher gehören musste, denn Klienten brachten sicher in den seltensten Fällen Hausschuhe mit. Oder etwa doch?

      Auf den zweiten Blick erkannte ich mit Erstaunen, dass ich hier vermutlich meinen Lebensretter vor mir hatte, denn die kurzen, hellgrauen Locken erinnerten mich sofort an den „Heiligenschein“, den ich Freitagnacht vor mir gesehen zu haben meinte.

      Das also war Dr. Siegbert Gärtner?

      Herr Dr. Gärtner vermochte – trotz des unpassenden Schuhwerks – eine selbstsichere Autorität zu verströmen, als wäre sein Aufzug in diesem esoterisch geprägten Umfeld das Selbstverständlichste, was man sich denken könnte. Er sah mich an: Nicht unfreundlich, aber beobachtend. Ich schaute zurück, ebenfalls nicht unfreundlich, aber irritiert. So eine Erscheinung hatte ich nicht erwartet!

      Nachdem wir einige Sekunden regungslos voreinander gestanden hatten, streckte er mir seine Hand entgegen.

      „Gärtner“, sagte er knapp und wies nach einem kurzen Händedruck einladend ins Innere des Raumes, aus dem er herausgetreten war. Ich hatte mir zwar fest vorgenommen, es gar nicht erst soweit kommen zu lassen, mich in die Höhle des Therapeuten zu begeben, sondern das, was ich zu sagen