Emmi Ruprecht

Erleuchtet


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ihn überhaupt nichts zu holen war. Schließlich befasste er sich normalerweise mit Triebgestörten und Traumatisierten. Ich jedoch verfügte über keinerlei nennenswerte Traumata, hatte keine schlimmen Dinge getan und kam so im Großen und Ganzen ganz gut mit meinem Leben zurecht – na ja, bis auf darauf, dass ich manchmal daran verzweifelte, aber das war ja nur zu verständlich. Wir könnten doch jetzt eigentlich unseren Tee austrinken, noch ein paar Artigkeiten austauschen und uns dann voneinander verabschieden? Was suchte ich eigentlich hier? Hatte ich hier überhaupt etwas zu suchen?

      Mein Gegenüber hörte nicht auf mich anzustarren. Nicht feindselig oder strafend, weil ich ihm seine Zeit stahl und er vielleicht auf einen interessanteren Fall gehofft hatte. Nein, eher nachdenklich und ... ja, komplett emotionslos! Das verunsicherte mich noch mehr. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, was er so dachte! Doch eigentlich gab es in meinem Fall ja auch nichts zu denken. Punkt.

      Hm. Vielleicht wusste Herr Dr. Gärtner nur nicht, wie er aus der Nummer wieder herauskommen sollte? Schließlich hatte er mich aufgegabelt, mich zu einem Termin einbestellt und einen ganzen Stapel von Fragen zur Beantwortung vorgelegt. Vielleicht war es ihm peinlich, mich falsch eingeschätzt zu haben? Womöglich überlegte er fieberhaft, wie er mir sagen konnte, dass ich eigentlich ganz okay war und nach Hause gehen konnte!

      Aber so, wie er mich ansah, so vollkommen regungslos, konnte es noch eine Weile dauern, bis diese Erkenntnis soweit von ihm verdaut war, dass er sie vorzutragen vermochte. Deshalb beschloss ich ihm zu helfen, die peinliche Situation erträglicher zu machen und zügig aufzulösen. Außerdem hatte ich nun das dringende Bedürfnis, die Stille zu durchbrechen – und sein Starren!

      „Wirklich – ein toller Fragenbogen. Superinteressant!“, lobte ich.

      Vielleicht würde eine positive Rückmeldung das Eis brechen?

      „Hat er denn irgendeinen Aufschluss über mich gebracht?“

      Mit dieser Frage signalisierte ich ihm, dass ich das durchaus für möglich hielt, und ich seine Einschätzung, die dazu geführt hatte, dass er mich zur Therapie vorlud, nicht für völlig bekloppt hielt, was ich natürlich tat. Ich muss sogar zugeben, dass ich mir im Geiste zuhause schon einen Kaffee kochte, eine Schachtel Pralinen bereit stellte und Freundin Imke anrief, um ihr von diesem wirklich erstaunlichen Nachmittag brühwarm und ausführlichst zu erzählen.

      „Oh, nichts Ungewöhnliches. Alles ganz normal“, sagte Dr. Gärtner.

      Ich atmete erleichtert aus. Na, wenn er das jetzt endlich einsah, dann konnten wir die Angelegenheit auch baldigst zum Abschluss bringen. Ich hätte dann auch noch Gelegenheit, den freien Nachmittag zu nutzen, um mal wieder in der Stadt zu shoppen. Man kam ja so selten dazu, wenn man keine Lust hatte, sich nach Feierabend oder samstags ins Gewühl zu stürzen.

      Dann dachte ich, dass es mir trotzdem ein bisschen peinlich war, dass ich Herrn Dr. Gärtner enttäuschen musste, weil er keinen neuen, interessanten Fall auf die Couch bekam. Allerdings fand ich, dass das irgendwie auch nicht meine Schuld war und beschäftigte mich bereits mit dem „Wie“ eines geordneten Rückzugs. Diesen Gedanken jedoch konnte ich nicht zu Ende denken.

      „Sie leiden unter einer Depression. Keine besonderen Auffälligkeiten. Verbunden mit einer leichten sozialen Phobie, aber das können Sie sich vermutlich selbst denken.“

      Ich musste zugeben, dass ich das bislang nicht gedacht hatte. Wollte er mich auf den Arm nehmen?

      Natürlich! Ganz bestimmt hatte er einen besonders trockenen Humor! Ganz wie mein Ex-Freund, der todernst die absurdesten Dinge behauptete, und sich dann diebisch freute, wenn man darauf hereinfiel!

      Um ihm zu zeigen, dass ich seinen Scherz durchaus verstanden hatte, lächelte ich ihm gönnerhaft zu. Nach einer Zeit merkte ich, wie das Lächeln auf meinem Gesicht einfror, denn Herr Dr. Gärtner stimmte nicht in meine Heiterkeit mit ein. Er schaute mich nur an.

      Jetzt nervte er aber! Irgendwann konnte es auch mal gut sein!

      „Ernsthaft?“, grinste ich ihn an um zu zeigen, dass ich Spaß verstand. Dabei hoffte ich, dass er die Scharade nun endlich beenden würde. Ich hatte keine Lust, bis in die Unendlichkeit um diesen Scherz herum zu mäandern und hoffte, ihm eine Auflösung der Situation zu entlocken, damit ich endlich gehen konnte. Der Feierabend nahte und dann würde die Stadt wieder entsetzlich voll sein und das Einkaufen überhaupt keinen Spaß machen!

      „Natürlich!“, antwortete er und schaute nun seinerseits irritiert, als wollte er sein Befremden darüber ausdrücken, wie ich seine Aussage in Frage stellen konnte. Und dieses „natürlich“ klang so überzeugt und komplett humorlos, als würde er über ein Naturgesetz sprechen, dass ich mit einem Schlag realisierte, dass er es wirklich ernst meinte!

      Ich? Depressiv? Sozial phobisch???

      Bevor ich es verhindern konnte, standen mir Tränen in den Augen. Dann heulte ich los. Es überschwemmte mich einfach, brach unaufhaltsam aus mir heraus. Ich verstand überhaupt nicht, was in mir vorging. Wann hatte ich das letzte Mal geweint – ich meine, außer bei der Wiederholung vom kleinen Lord in der Vorweihnachtszeit? Was, um Himmels willen, machte ich hier? Mein Verstand war entsetzt! Aber meinem Gefühl war das egal und es heulte jetzt eben. Die Tränen liefen, die Nase auch und mein Gegenüber reichte mir wortlos ein Tuch aus der Kleenex-Box, die urplötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war und nun neben der Thermoskanne auf dem Tisch stand. Kurze Zeit später reichte er mir noch ein Tuch. Und dann noch eines.

      Und dann wurde ich sauer. Genauso plötzlich, wie mich die Heulerei aus dem Hinterhalt angefallen hatte, übermannte mich nun die Wut. Was ging denn hier ab? Das war ja wohl die Höhe! Hatte ich nicht alles, aber wirklich alles unternommen, damit es mir und meinem Leben besser ging? Was konnte ich dafür, dass das leider nicht gelungen war?

      Was konnte ich für einen Job, der mir jeden Tag Bauchschmerzen bereitete? Was konnte ich dafür, dass ich mich schon so viele Jahre lang engagiert hatte und doch immer wieder nur meinen Ärger herunterschlucken musste, weil ich erneut übergangen und meine Leistungen negiert wurden? Wie oft hatte ich mir gesagt, man dürfe eben nicht empfindlich sein und schon gar nicht beim ersten Misserfolg aufgeben, sondern müsse beharrlich den eigenen Weg verfolgen? Was konnte ich dafür, dass ich immer noch, trotz der bei weitem überlegenen Ausbildung, den meisten Überstunden und den perfektesten Arbeitsergebnissen, die jeder Prüfung standhielten, täglich um Akzeptanz kämpfen musste? Dass ich mit ansehen musste, wie bestenfalls normal begabte, wenig engagierte, eingebildete Blödmänner und -frauen karriere- und gehaltsmäßig an mir vorbeizogen, obwohl sie jede seltene Überstunde peinlich genau notierten, abfeierten und jeden Tag in Ruhe in die Kantine gehen konnten, was ich oft vor lauter Arbeit gar nicht schaffte?

      Und wie oft hatte ich alle Register gezogen, um meinem Beziehungsleben auf die Sprünge zu helfen? Kannte ich nicht jede, aber auch wirklich jede Form der Partnervermittlung aus eigener Erfahrung? War ich mir jemals zu schade gewesen, mich auch mit den absonderlichsten Männern zu verabreden, weil ja vielleicht doch hinter einem von ihnen ein Traumprinz lauerte und ich ihm nur eine Chance geben musste? Was war an mir falsch, wenn ich – obwohl ich sehr auf mein Aussehen achtete – die meiste Zeit allein war? Womit hatte ich es verdient, dass meine Beziehungen meistens katastrophal verliefen und bereits nach kurzer Zeit in einem Akt der Notwehr von mir beendet werden mussten?

      War nicht außerdem ich immer wieder diejenige, die ihre Freundinnen aus ihren Wohnlöchern und vorm Fernseher wegzog, um etwas zu unternehmen und dem Leben ein bisschen Spaß und Chancen auf interessante Bekanntschaften abzuringen? Hatte nicht sogar ich(!), die soziale Phobikerin(!), mich auch alleine in Discos, Bars, auf Konzerte und sogar in den Urlaub gewagt, wenn niemand anderer da war, um mich zu begleiten, nur damit ich nicht versauerte?

      Und wie viele Stunden hatte ich schon kettenrauchend auf meinem Balkon verbracht und über mein Leben nachgegrübelt, um eine Antwort darauf zu finden, warum es nicht besser lief? Was hatte ich nicht schon alles unternommen, um es zu ändern? Und warum sollte es eigentlich mein Problem sein, dass die unzähligen Ratgeber-Bücher, die ich gelesen hatte, um den Partner oder den Job fürs Leben zu finden, alle nichts taugten? Was verdammt nochmal konnte ich dafür, dass nichts, aber auch gar