Narcia Kensing

Glutroter Mond


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mehr da bin. Mit einem Mal fühle ich mich befangen und seine Nähe ist mir unangenehm. Unsere Oberarme berühren sich, weil wir so dicht nebeneinander sitzen.

      »Es ist jetzt schon zwei Tage her«, sagt er. Höre ich Hoffnung in seiner Stimme?

      »Benachrichtigen sie einen auch, wenn man nicht genommen wird?«

      Neal schüttelt den Kopf. »Nein. Ich habe nie wieder etwas von meinen Untersuchungsergebnissen gehört.«

      Ich denke darüber nach, dass auch Suzie noch nicht Bescheid bekommen hat. Wenn wir beide nicht genommen werden, könnte ich besser damit umgehen. Andererseits ist es erst zwei Tage her. Ich weiß nicht, wie lange es dauert, Blut zu testen.

      Ich hebe den Kopf und blicke geradeaus. Vor mir erstreckt sich eine weite Wasserfläche, die sich am Horizont in der flirrenden Energiebarriere verliert, die um unsere Stadt gespannt ist. Nur eine Brücke führt hindurch. In meinen Büchern steht, die Barriere schütze uns vor erneuten Virusepidemien. Mir ist es gleichgültig. Ich weiß, dass es dahinter nichts mehr gibt als das Ende der Welt und den Himmel, aus dem die Viren gekommen sind. Ich fühle mich sicher hinter der Barriere.

      Neal folgt meinem Blick. Wir sitzen oft an diesem Ort, der südlichsten Spitze der Landzunge, und sehen auf das Wasser hinaus. Hinter uns erstreckt sich ein kleiner Park, aber dort wachsen nur verdorrte hässliche Bäume, deren Äste verkrüppelt sind. Die Pflanzen im großen nördlichen Park sind hingegen noch belaubt.

      »Siehst du dir die grüne Dame an?«, fragt Neal mich leise.

      Ich nicke. »Ja. Sie sieht so einsam aus.«

      In der Ferne gibt es eine kleine Insel vor der Küste unserer Stadt, direkt dahinter flirrt der Energieschild. Ich kann die Distanz nicht schätzen, aber es ist sicherlich mehr als eine Meile. Auf der Insel thront eine seltsame Statue, sie ist hellgrün. Ich habe mir oft gewünscht, meine Augen wären besser, damit ich ihr Gesicht erkennen kann, doch sie ist viel zu weit entfernt. Wenn ich ehrlich bin, kann ich sie fast gar nicht erkennen. Alles, was ich sehen kann, ist, dass sie ihren rechten Arm in die Höhe reckt und etwas nach oben hält. Die Statue wird von den Einwohnern nur die grüne Dame genannt.

      »Glaubst du, die Menschen der alten Welt haben sie auf diese Insel verbannt?« Ich wende Neal den Kopf zu. Er zuckt nur die Achseln.

      »Das weiß ich nicht. Es ist ebenso möglich, dass die Obersten sie als Wahrzeichen errichtet haben.« Er zeigt mit dem Finger in ihre Richtung. »Siehst du? Sie trägt eine Krone mit sieben Zacken. Das Symbol der Obersten ist ein siebenzackiger Stern, vielleicht gibt es einen Zusammenhang.«

      »Du kannst ihre Krone erkennen?« Ich kann es kaum glauben und ärgere mich zugleich, dass er mir das nie zuvor erzählt hat. Ich habe alle meine Bücher nach Informationen über die grüne Dame abgesucht und nichts gefunden. Und jetzt sagt er mir ganz beiläufig, dass ihre Krone sieben Zacken hat!

      »Nun ja, das habe ich nur deshalb erkannt, weil ich einmal durch ein Fernrohr gesehen habe, das ich mir aus einer alten Brille gebaut habe.« Er lächelt und sogleich schmilzt mein Verdruss dahin.

      »Glaubst du auch, dass dies hier ein Werk der Obersten sein könnte?« Ich öffne den Reißverschluss der linken Brusttasche meines Anzuges und ziehe eine abgegriffene Karte aus stabilem Karton hervor.

      »Die Pappe?«

      »Nein, das, was darauf abgebildet ist, du Dummerchen!« Ich knuffe meinen Freund in die Seite und halte ihm die Karte unter die Nase. Sie ist mein größtes Heiligtum und alles, was mir von meinen Eltern geblieben ist.

      Er sieht sich das Bild an und schüttelt den Kopf. »Das ist vielleicht nicht echt. So einen Ort kenne ich nicht. Ich würde an deiner Stelle nicht zu viel hinein interpretieren.«

      Ich sehe mir selbst noch einmal das Bild an, obwohl ich es schon tausend Mal getan habe. Es ist das lebensechte Abbild eines Hügels, auf dem übermannsgroße Buchstaben thronen. Hollywood steht dort. Ich bilde mir ein, meine Eltern hätten mich nach dieser Karte benannt. Die Rückseite ist komplett weiß und unbeschriftet. Mein größter Wunsch ist es, ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Wie gerne würde ich meine Eltern fragen, was es damit auf sich hat!

      Enttäuscht stecke ich sie zurück an ihren Platz und verschließe den Reißverschluss.

      »Ich weiß, dass du oft an deine Eltern denkst.«

      Es kommt mir vor, als wäre Neal noch näher an mich heran gerutscht. Ich nehme den Geruch seiner Haut wahr, Staub und Seife. Sein Gesicht ist nur einige Zoll neben meinem. Mein Blick haftet an der kleinen Narbe über seinem rechten Auge, die ihr nur sehe, wenn er mir so nah ist wie jetzt. Vor einigen Monaten hat Neal sich bei der Arbeit verletzt, ein scharfes Stück Blech hat ihm die Haut aufgeschnitten. Jetzt zieht sich eine feine Linie durch seine Augenbraue, auf der keine Haare wachsen.

      Ich möchte nicht, dass Neal mit mir über meine Eltern spricht und wünsche mir, er würde still sein. Ich ringe schon wieder mit den Tränen. Dabei habe ich weniger Grund dazu als Neal, immerhin hat er seine Eltern gekannt und ich nicht. Für ihn muss es sich schlimmer anfühlen als für mich, trotzdem jammert er nie oder verliert auch nur ein Wort über seinen Kummer.

      Als das Schweigen zwischen uns anfängt, peinlich zu werden, sage ich schließlich doch etwas, aber meine Stimme klingt brüchig. »Ich wünsche mir, meine Eltern jenseits der Brücke wiederzusehen.«

      Kaum ist der Satz heraus, bereue ich ihn auch schon. Es muss sich herzlos für ihn anhören, weil seine Eltern tot sind und meine vielleicht nicht.

      Neal beißt sich auf die Unterlippe und sieht wieder ins Wasser hinab. Es ist grau und glatt. Es schwappt gegen die Uferkante. »Ist das der Grund, weshalb du unbedingt die Stadt verlassen möchtest? Weshalb du dich jeden Tag in Bücher vergräbst und Sport treibst?« Er schüttelt traurig den Kopf. »Ich möchte nicht, dass du enttäuscht wirst, Holly. Vielleicht sind deine Eltern gar nicht dort und alles ist nur eine Illusion, ein Traumgebilde. Ich habe dich wirklich sehr gern und würde mir wünschen, wir könnten gemeinsam in die Zukunft sehen. Aber das können wir nicht, wenn du einem unerreichbaren Ziel hinterher läufst.«

      Seine Worte schockieren und beschämen mich gleichermaßen. Blut rauscht in meinen Ohren. Ich mag es nicht, wenn Neal mir sagt, dass er mich gern hat. Ich fühle mich dann immer befangen und weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Er ist mein bester Freund, aber manchmal glaube ich, er würde gerne mehr als das sein. Es sind flüchtige Berührungen, ein verstohlenes Lächeln oder - so wie jetzt - auch ganz offene Worte, die mich das denken lassen. Mit einem Mal verspüre ich den Wunsch, aufzustehen und wegzulaufen, aber ich ringe ihn tapfer nieder.

      »Ich halte meine Ziele nicht für Traumgebilde«, sage ich, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Ich möchte nicht über meine Gefühle reden. »Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass ich hinter die Barriere gerufen werde, oder etwa nicht? Ich glaube fast, du gönnst mir das gar nicht.«

      Neal wendet mir den Kopf zu, in seinen Augen liegt ein Ausdruck, der mein Herz für einen Schlag aussetzen lässt. Ich wünschte, wir würden wieder miteinander lachen. Diese Art von Unterhaltung mag ich nicht.

      Neals Lippen formen sich zu einem schmalen Strich, seine Augen glänzen feucht. Er legt eine Hand auf mein Knie. Mich durchfährt ein elektrisches Gefühl, unangenehm und prickelnd zugleich. Mein Herz schlägt so laut, dass ich befürchte, Neal könnte es hören.

      »Ich könnte es nicht ertragen, wenn du weg gehst und mich allein lässt«, sagt er.

      Seine Worte tun weh. Er kann nicht von mir verlangen, in der Stadt zu bleiben, wenn ich rekrutiert werde. Ich hätte in diesem Fall ohnehin nicht die Wahl. Aber kann er von mir verlangen, mit Traurigkeit in der Seele zu gehen? Ich habe mich mein Leben lang auf diesen Tag vorbereitet. Er macht ihn mir kaputt.

      »Was soll ich deiner Meinung nach tun?«

      Neal holt tief Luft und stößt sie als Seufzer wieder aus. Mit einer Hand reibt er sich über das Gesicht. »Du könntest wenigstens so tun, als würdest du es bedauern, mich zurücklassen zu müssen.«

      Der Schmerz in meinem