einzuschätzen. Aber vor allem die erforderliche Weisheit und Stärke in sich vereinen, um zwischen Wesentlichkeit und Belanglosigkeit zu unterscheiden und Mut, Ehrlichkeit, Einfühlungsvermögen und Gerechtigkeit gedeihen zu lassen.
Approximativ gesehen, existieren zwei Arten von Menschen: die Selbstsüchtigen und die Selbstlosen. Bilden Erstere das geschmiedete, unzerstörbare Konstrukt der menschlichen Gesellschaft, stellen Letztere die wenigen, winzigen, die ölige Finsternis durchbrechenden Lichter dar, welche den Alltag und das Leben aller bereichern, durch ihr aufopferndes, verständnisvolles Naturell jedoch früher oder später jedwede Lebensfreude verlieren und elendig zugrunde gehen.
Beschienen vom kalten Licht des Neumondes und das der fahlen Sterne irrte eine Gestalt durch die finstre Nacht. Ihr knielanger Mantel flatterte im schneidenden Wind. Vereinzelte weit auseinanderliegende Häuser wiesen ihr den Weg.
Es ist kalt, ging es ihr durch den Sinn. So eisig kalt.
Von irgendwo her drang das aufgeregte Bellen eines Hundes, wodurch die Gestalt dazu veranlasst wurde, ihr Haupt Richtung Stadt zu drehen.
Hell erleuchtet war sie. Selbst von hier – einige Kilometer entfernt auf dieser für Häuselbauer unattraktiven Anhöhe – war es möglich, die fröhlich blinkenden Weihnachtsdekorationen zu erkennen.
Weihnachten mit meinen Großeltern.
Kopfschüttelnd versuchte die Person, den Gedanken loszuwerden.
Dies ist vergangen. Und über Vergangenes brauche ich nicht mehr nachzusinnen.
Das mit einer dicken Raureifschicht überzogene Gras raschelte unter ihren schwarzen Schuhen. Die Luft war getränkt vom Duft der schneebedeckten Berge.
Ein warmes Bett, schoss es ihr durch den Sinn.
Wie lange lag es nun zurück, seitdem sie ein warmes Bett gespürt hatte?
Ein warmes Bett – allerdings nicht im Sinne von einer temperierten Wohnung, sondern gewärmt von Liebe, Geborgenheit, Nähe und Vertrauen.
Liebe.
Wie gerne würde sie noch einmal Liebe spüren! Einmal noch. Und mit dieser einen geliebten Person bis zum Ende ihrer Tage verweilen. Lediglich eine letzte Beziehung. Die Richtige finden. Wenn es mit der eigenen Familie nicht funktionierte, dann zumindest mit der richtigen Frau.
Die Gestalt stemmte sich gegen den anwachsenden Wind, welcher ihren Augen mehr und mehr Tränen entlockte. Ein leises Schluchzen bewies ihr jedoch, dass nicht der Dezemberatem Schuld daran trug.
Die vertraute Silhouette des Heuschuppens gelang es, der zitternden Person für wenige Augenblicke diese ihr erbarmungslos in die Knochen vordringende Verzweiflung zu vertreiben.
Langsam öffnete sie die angelehnte Holztür, glitt lautlos hinein und drückte sie hinter sich zu. Gerüche von altem Holz und frischem Stroh und Heu stiegen ihr stechend-vertraut in die Nase. Bis auf ein paar durch Ritzen der Holzbalken fallende Lichtstrahlen der Stadt lag der Raum in erstickender Dunkelheit. Der Person reichte es aus, ihre Augen hatten sich an die Finsternis gewöhnt – schließlich lagen bereits einige Nächte hinter ihr, in welchen sie bei Wind und Kälte herumzuirren verdammt gewesen war und hier Unterschlupf gefunden hatte.
Sie trat zur geschätzt drei Meter langen, sich filigran anfühlenden Holzleiter und erklomm diese mit bebenden Armen und Beinen. Ein jeder Schritt entlockte den Sprossen angsteinflößende knarzende Geräusche. Das Ende erreicht, krabbelte die Person auf allen vieren Richtung Strohhaufen. Still, ja beinahe würdevoll, türmte sich dieser vor ihr auf.
Sie kuschelte sich in das getrocknete kratzende Getreide. Zitternd wischte sie sich kalte Tränen aus dem Gesicht. Dabei ertappte sie sich, wie sie daran dachte, den Mantel auszuziehen, sich in die Wiese zu legen, einzuschlafen und niemals mehr zu erwachen.
Nein! Meine Situation wird sich bessern. Bald habe ich sämtliche Schulden beglichen, dann muss er mich zurück in die Wohnung lassen.
Die Gestalt schloss die Lider.
Ja, es wird besser … Es wird besser … Bestimmt. Dort draußen existiert jemand … wartet jemand auf mich … ja, es wird sich bessern …
Ein leichter wie unruhiger Schlaf überkam sie, welcher ihr jedwede Sorgen für eine kurze Zeit zu vergessen erlaubte.
Darf ich erblühen?
Darf ich lieben lachen, spüren?
Oder muss ich verwelken?
Meine Hoffnung in Finsternis ertränken?
Wie lange muss ich noch warten?
In diesem trostlosen, finstren Garten?
Wer kann mich erretten?
Sprengen diese mich umschließenden Ketten?
Mein Herz ruft nach Erlösung,
Meine Seele dürstet nach Genesung.
Und falls niemand mich mehr findet,
Die Finsternis sich ewig an mich bindet.
Dann erlaube es mir zu gehen,
Denn erst wenn ich nicht mehr atme, werde ich klar sehen.
Samstagabend. Überall Menschen – auf den Straßen, in Lokalen, Restaurants, Kinos. Das blühende Leben. Und eine typische verfluchte Drecksjanuarkälte. Die minus zehn Grad fraßen sich förmlich durch meinen grünen Mantel – und das schwarze hautenge Wickelkleid sowie die schwarzen Strumpfhosen waren blöderweise auch nicht eben hilfreich dabei, mich warmzuhalten.
Ich war dumm gewesen. So dumm! Ich hatte mir dieses Outfit ausgesucht, um einmal bemerkt zu werden – von der männlichen Gattung Mensch. Doch wie üblich hatte niemand sich die Mühe gemacht, mich anzusprechen. Andererseits musste ich mir eingestehen: Dieser Schrott an männlichen Individuen, welcher da durch die Gegend stampfte, hatte mich ohnehin nicht interessiert.
Die Männer von heute waren allesamt vollumfängliche Idioten – aber vor allem eierlos und gefühlskalt.
Meine in den Manteltaschen gesteckten erkalteten Hände ballten sich zu Fäusten.
Weswegen wollte ich überhaupt bemerkt werden?
Bereits vor vielen Jahren hatte ich es mir geschworen: keine Männer mehr. Nie mehr!
War das etwa der letzte Aufschrei meiner zu sterben im Begriff stehenden weiblichen Hormone?
All die Erniedrigungen, die Lügen, die Faulheit … was brachte eine Beziehung? Was brachten Bekanntschaften? Was sollte all dies mir noch geben?
Bestenfalls mehr Schwierigkeiten, mehr Schmerz, mehr Belastungen!
In meinen Augen setzte ein allzu vertrautes Brennen ein – ob es von der Kälte oder doch eher von meiner tonnenschweren Traurigkeit herrührte, vermochte ich nicht zu sagen.
Eine Gruppe lachender an mir vorbeimarschierender junger Leute brachte meine Gedanken zurück in die Gegenwart und erinnerte mich daran, wo ich mich befand: Vor einer Jazz-Bar, deren Namen ich nicht kannte.
Ich suchte einen Schriftzug oder ein Informationsschild, doch nichts davon war vorzufinden. Nicht einmal in dem winzigen quadratischen mit schwarzen Vorhängen verhüllten Fenster hatte man irgendetwas angebracht, das Besuchern oder allfälligen Touristen erklärt hätte, wohin das Schicksal sie gelenkt hatte.
Wie ich dann wissen konnte, um welche Art von Bar es sich handelte? Im Internet hatte ich davon