trällert ihm den Refrain des Songs entgegen, den er berühmt gemacht hat:
»Es ist doch nicht zu schildern.
Soll ich denn ganz verwildern?
Mein Gott, was ist denn nur mit mir geschehn!«
Wie schön und fein Hendrik ist – es ist doch nicht zu schildern! Grüßend und lächelnd, hinter sich Herrn Katz und Fräulein Bernhard als seine treuen Trabanten, bewegt er sich durch diese Gesellschaft von versnobten jüdischen Finanziers, von politisch radikalen und künstlerisch impotenten Literaten und von Sportsleuten, die noch nie ein Buch gelesen haben und, gerade deshalb, von den Literaten angehimmelt werden. »Sieht er nicht aus wie ein Lord?« flüstern reich geschmückte Damen orientalischen Typs. »Er hat einen so lasterhaften Zug um den Mund – und diese herrlich blasierten Augen! Sein Frack ist von Knize, er hat zwölfhundert Mark gekostet.« – In einer Ecke des Salons wird behauptet, Höfgen habe ein Verhältnis mit Dora Martin. »Aber nein – er schläft doch mit Fräulein Bernhard!« wollen noch Eingeweihtere wissen. »Und seine Frau?« erkundigt sich ein etwas naiver junger Herr, der noch nicht lange in der Berliner Gesellschaft verkehrt. Er bekommt nur ein verächtliches Lachen zur Antwort. Die Familie Bruckner ist nicht mehr ernst zu nehmen, seitdem sich der alte Geheimrat politisch auf eine so anstößige und übrigens sinnlose Art exponiert hat. Gelehrte sollten sich nicht in Dinge mischen, von denen sie nichts verstehen – darüber sind alle sich einig – und außerdem empfindet man es als albernen Eigensinn, gegen den Strom zu schwimmen. Für die zukunftsträchtige Bewegung des Nationalsozialismus, die soviel positive Elemente enthält und ihre störenden kleinen Fehler, zum Beispiel diesen lästigen Antisemitismus, schon noch ablegen wird, bringt man als moderner Mensch Verständnis auf. »Daß der Liberalismus etwas Überwundenes ist und keine Zukunft mehr hat, ist doch wohl eine Tatsache, über die wir nicht mehr zu diskutieren brauchen«, sagen die Literaten, und weder die Boxer noch die Bankiers widersprechen ihnen.
»Wie reizend, daß Sie eine Stunde Zeit für uns gefunden haben, Herr Höfgen!« flötet die Hausfrau ihrem attraktiven Gast entgegen und hält ihm ein Tellerchen mit Kaviar hin. »Man weiß doch, wie beschäftigt Sie sind! Darf ich Sie mit zwei Ihrer glühendsten Verehrer bekannt machen? Dieses ist Herr Müller-Andreä, der Ihnen durch seine bezaubernden Plaudereien im ›Interessanten Journal‹ gewiß bekannt ist. Und dieses ist unser Freund, der berühmte französische Schriftsteller Pierre Larue …«
Herr Müller-Andreä ist ein eleganter, grauhaariger Mann mit stark hervortretenden wasserblauen Augen in einem roten Gesicht. Jedermann weiß, daß er von den guten Beziehungen seiner schönen Frau lebt, die aus aristokratischer Familie stammt. Durch sie erfährt er den ganzen Klatsch der Berliner Gesellschaft, aus dem er seine kleinen Artikel für das »Interessante Journal« zusammenstellt. In diesem verrufenen Skandalblatt plaudert Herr Müller-Andreä wöchentlich unter dem Titel: »Hatten Sie davon eine Ahnung?« Gerade diesen amüsanten Artikeln verdankt das »Interessante Journal« seine Beliebtheit; denn in ihnen wird mitgeteilt, daß die Gattin des Industriellen X mit dem lyrischen Tenor Y eine kleine Reise nach Biarritz unternommen hat, und daß die Gräfin Z jeden Nachmittag im Adlon zum Tanztee erscheint, und dieses nicht der guten Kapelle, sondern eines gewissen Gigolos wegen … Durch solche Eröffnungen versteht es Herr Müller-Andreä, die Leser zu fesseln und zu belehren. Seine ziemlich luxuriöse Lebenshaltung bestreitet er übrigens keineswegs mit seinen Einnahmen aus veröffentlichten Artikeln; vielmehr mit jenen Summen, die er sich für die Nichtveröffentlichung von »Plaudereien« bezahlen läßt. So manche Dame hat schon schweres Geld an Herrn Müller-Andreä überwiesen, damit ihr Name nicht in die Rubrik »Hatten Sie davon eine Ahnung?« komme. Herr Müller-Andreä ist ein gemeiner Erpresser, niemand bestreitet es – auch er selber nicht – niemand macht besonderes Aufheben davon.
Der andere »glühende Verehrer« des Schauspielers Höfgen, Monsieur Pierre Larue, ist ein kleines Männchen. Er reicht Hendrik eine bleiche, spitze Hand und spricht mit einer klagenden Sopranstimme: »Sehr interessant, lieber Herr Höfgen! Darf ich mir Ihre Adresse notieren?« Dabei hat er schon, mit geübtem Griff, ein dickes Notizbuch hervorgeholt. »Ich hoffe, Sie werden nächstens im Esplanade bei mir speisen«, ruft er noch mit seinem jammernden und dabei sirenenhaft lockenden Stimmchen. – Monsieur Larue hat in seinem altjüngferlich spitzen, von unzähligen Fältchen durchzogenen Gesicht merkwürdig scharfe und durchdringende Augen; aus ihnen leuchtet, beinah ekstatisch, eine ungeheure Neugierde; sie funkeln von jener Sucht nach Menschen, Namen und Adressen, die der eigentlich herrschende Impuls und der einzige echte Inhalt seines Lebens ist. Monsieur Larue würde sterben, traurig eingehen wie ein Fischlein, dem man das Wasser entzieht, an dem Tage, der ihn keine neuen Bekanntschaften machen ließe. Jedoch wird diese Situation, die so beklagenswert wäre, dem kleinen Menschensammler erspart bleiben, mindestens solange er sich in Berlin aufhält. Denn Ausländer haben es leicht in Berliner Salons: ein Gast, der mit schlechtem Akzent deutsch spricht, gereicht einer Gesellschaft fast ebenso zur Ehre wie ein Boxer, eine Gräfin oder ein Filmschauspieler – und nun gar noch ein Ausländer, der Geld hat, interessante Diners im Hotel Esplanade arrangiert, mehreren Königen vorgestellt ist und sogar den Prince of Wales kennt. Keine Tür bleibt verschlossen vor Monsieur Larue, sogar der ehrwürdige alte Herr Reichspräsident hat ihn empfangen. Er genießt den Umgang der reaktionärsten und exklusivsten Familien von Potsdam; andererseits sieht man ihn in Gesellschaft linksradikaler junger Leute, die er als »mes jeunes camarades communistes« in den Häusern der Bankdirektoren einzuführen liebt.
»Gestern habe ich Sie im Wintergarten bewundert«, sagt Pierre Larue, nachdem er sich Höfgens Telefonnummer notiert hat. Und er wiederholt scherzhaft, aber klagenden Tones, den populären Refrain: »Es ist doch nicht zu schildern …« Danach hat er ein kleines Lachen, das klingt wie das Rascheln von Herbstwind in trockenem Laub. »Hahaha«, lacht Monsieur Larue; reibt sich die bleichen Knochenhändchen über der Brust gegeneinander und steckt sein Gesicht tief in den dicken, schwarzen Wollschal, den er, trotz der warmen Temperatur in diesen Räumen, über dem Smoking um den Hals geschlungen trägt.
Es ist doch nicht zu schildern – das hat die Welt noch nicht gesehen – das gibt’s nur einmal, das kommt nicht wieder! In Deutschland steht alles glänzend, besser könnte es gar nicht stehen, man darf sorglos und guter Dinge sein. Gibt es eine Krise? Gibt es Arbeitslose, gibt es politische Kämpfe? Gibt es eine Republik, der es nicht nur an Selbstachtung, sondern sogar an Selbsterhaltungstrieb fehlt und die sich vor der ganzen Welt verhöhnen läßt von ihrem frechsten und rohesten Feinde? Dieser wird ausgehalten und begünstigt von den reichen Leuten, die nur eine Angst kennen: Eine Regierung könnte es sich einfallen lassen, ihnen etwas Geld wegzunehmen. Gibt es Saalschlachten in Berlin und nächtliche Straßenkämpfe? Gibt es schon den Bürgerkrieg, der beinah täglich seine Opfer fordert? Wird schon Arbeitern von Burschen in brauner Uniform das Gesicht zertreten und der Kehlkopf durchgeschnitten, der große Volksverführer aber – Chef der »aufbauwilligen Elemente«, Liebling der Schwerindustriellen und der Generale – publiziert schamlos sein Glückwunschtelegramm an die viehischen Mörder? Schwört derselbe Hetzer, der die Nacht der langen Messer fordert und öffentlich gelobt, es würden Köpfe rollen, er wolle »nur auf legalem Wege« zur Macht kommen? Darf er es sich herausnehmen, darf er es wagen, täglich soviel Drohungen und Infamien in die Welt zu schreien mit seiner bellenden Stimme?
Es ist doch nicht zu schildern! Ministerien stürzen, werden neu gebildet und sind nicht klüger als vorher. Soll man denn ganz verwildern? Im Palais des ehrwürdigen Generalfeldmarschalls intrigieren die Großgrundbesitzer gegen eine zitternde Republik. Die Demokraten schwören, der Feind steht links. Polizeipräsidenten, die sich sozialistisch nennen, lassen auf Arbeiter schießen. Die bellende Stimme aber darf täglich ungestört dem »System« Strafgericht und blutigen Untergang verheißen.
Das hat die Welt noch nicht gesehen! Sieht es denn nicht der hochbezahlte Spaßmacher eben jenes Systems, gegen das die infame Kettenhundstimme ihre Verwünschungen schleudert? Fällt es denn dem Schauspieler Höfgen nicht auf, daß die Veranstaltungen, deren fragwürdiger Held er ist, im Grund makabren Charakters sind, und daß der Tanz, zu dessen beliebtesten Anführern er gehört, die grausige Tendenz zum Abgrund hat?
Hendrik Höfgen – Spezialist für elegante Schurken, Mörder im Frack, historische Intriganten – sieht nichts, hört nichts, merkt nichts. Er lebt gar nicht in der Stadt