zugewendet. Marion wagte nicht, das Gespräch zu beginnen. Sie dachte an seine Bücher, die sie bewunderte. ›Was geht jetzt hinter seiner Stirne vor?‹ überlegte sie. ›Beobachtet er mich? Er scheint nicht viel zu sehen und muß doch allerlei bemerken hinter seinen Brillengläsern. Macht er sich nun innerlich Notizen, die recht spöttisch sein dürften? In seinen Erzählungen hat er eine seltsam kalte, nicht gerade liebevolle Manier, Menschen zu schildern. Er kennt sie so genau, gerade weil er sich von ihnen distanziert. Übrigens nimmt er, bei aller Distanziertheit und Ironie, leidenschaftlichen Anteil an unseren Sorgen: das wird deutlich in seinen schönen, klaren Essays. Wie gescheit er ist … Ich muß einige seiner großen Aufsätze unbedingt wieder lesen. Er hat viele höchst vorzügliche Dinge geschrieben …‹
Da sprach er plötzlich – Marion erschrak fast, als seine weiche, zögernde Stimme kam. »In Ihrem Vortrag hat etwas mich erschreckt. Sie haben manchmal einen kriegerischen Ton – als wollten Sie zur Schlacht rufen. Das beunruhigt mich. Gewalt wird schon genug gepredigt und angewendet – von den anderen. Wir sollen friedlich sein. Nicht Rache, nicht Kampf – Versöhnung sei unsere Absicht.«
»Versöhnung?« Marion wiederholte es trotzig. »Es gibt Menschen und Prinzipien, mit denen sie nicht in Frage kommt. Wir sind lange genug versöhnlich gewesen – zu lange, wie mir jetzt scheint. Vor einem Gangster, der die Handgranate und den Revolver schwingt, macht man sich lächerlich, wenn man flüstert: Ich bin Pazifist.«
»Man soll es nicht flüstern; man soll es schreien«, sagte der Schriftsteller. »Und wenn der Gangster lacht?« – »Was schadet es. Vielleicht vergißt er darüber, die Handgranate zu werfen. Es ist niemals eine Schande und kann nie ein Irrtum sein, sich zum Frieden zu bekennen.«
Daraufhin Marion – deren lange, magere Finger gierig nach irgend etwas zu suchen schienen, was sie zerbrechen konnten: »Es gibt Situationen, in denen die Angst vorm Kampf blamabel und verhängnisvoll wird.«
Der Schriftsteller, nicht ohne Strenge: »Ich habe nicht von der Angst vorm Kampf, ich habe von der Liebe zum Frieden gesprochen.«
Sie rückte ungeduldig die Schultern. »Das läuft oft aufs gleiche hinaus. Die tolerante Haltung dem absolut Schlechten gegenüber erklärt sich niemals nur aus edlen Motiven; immer auch aus Feigheit.«
Er lächelte, milde und betrübt, über ihre Heftigkeit. »Das absolut Schlechte? Das kann wohl unter Menschen ebensowenig vorkommen wie das vollkommen Gute. Der menschliche Charakter ist immer zusammengesetzt. An die Elemente, die wir die guten nennen, appellieren wir nur, wenn wir selber gut bleiben.«
Marion wollte auffahren; sie beherrschte sich, biß sich die Lippen und sagte, ein wenig heiser: »Die deutschen Sozialdemokraten und die anderen Parteien unserer verstorbenen Republik versuchten es, ›gut‹ zu bleiben – verhandlungswillig und versöhnungsbereit gegenüber ihren Todfeinden. Schauen Sie es sich an, wohin sie’s damit gebracht haben! Sollen die europäischen Demokratien diese löbliche Taktik wiederholen?«
»Ich hoffe es«, sagte er schlicht. »Die großen Demokratien sind schuldbeladen, sie haben zu büßen. Alles Unheil in Europa kommt aus dem Vertrag von Versailles.«
Marion war fast am Ende ihrer Geduld. »Glauben Sie, die Deutschen hätten einen besseren Vertrag diktiert, wenn sie den Krieg gewonnen haben würden?« fragte sie gereizt. Woraufhin der Brite nur die Achseln zuckte. »Darauf kommt es nicht an.« Da Marion nun verfinstert schwieg, legte er sanft die Hand auf ihre Schulter. »Seien Sie mir nicht böse!« bat er, das Gesicht mit den spiegelnden Brillengläsern freundlich nahe an ihres gerückt. »Ich begreife Ihren Schmerz, Ihren Haß, und ich achte ihn. Es gibt aber ein paar sittliche Grundwahrheiten, die man vor Haß und Schmerz leicht vergißt. Alles Üble kommt aus der Gewalt. Sie steht immer am Anfang des Schlimmen. Man kann die Gewalt durch Gewalt besiegen, aber nicht aus der Welt schaffen. Der verhängnisvolle Irrtum ist, zu meinen, daß der Zweck die Mittel heilige. Das ist falsch. Mit schlechten Mitteln ist kein großes Ziel zu erreichen; die Kommunisten haben dies nicht verstanden, daher ihr fürchterliches Versagen. Der Friede, die Gerechtigkeit können nicht durch Krieg gewonnen werden. – Sind Sie für den antifaschistischen Krieg?« erkundigte er sich, plötzlich in einem leichteren, konversationsmäßigen Ton.
Marion sagte: »Die faschistischen Staaten würden ihn nicht führen können. Diese aufgeblasenen Monstren sind innerlich hohl. Aber es sollte kein Zweifel darüber bestehen, daß die Demokratien bereit und gerüstet sind; dann würden die Aggressiven es mit der Angst bekommen.«
Der Engländer, mild und ein wenig spöttisch: »Warum sind sie denn aggressiv? Weil sie arm sind, weil sie zuwenig Land haben. Deutschland, Italien, Japan wollen Raum. Sollen wir, die Saturierten, die Satten und Reichen, das Expansionsbedürfnis dieser Proletarier unter den Ländern mit Giftgasbomben und Maschinengewehren aufhalten? Und uns dabei noch als die Moralischen aufspielen, als die Bewahrer der heiligsten Güter, die Retter der Demokratie?«
»Wenn Sie so empfinden, warum haben Sie dann nicht dafür Propaganda gemacht, man solle Deutschland Kolonien, den Anschluß Österreichs und was nicht sonst noch gewähren, als die Politik des Reiches noch von Stresemann gemacht wurde, statt von Hitler, Rosenberg und Goebbels?«
»Hätte ich das nur getan!« Die Reue in seiner Stimme mußte aufrichtig sein. Er gestand: »Damals habe ich die Dinge noch nicht so klar gesehen wie heute.«
»Erst mußte Deutschland ein großes Zuchthaus für seine Bewohner und eine schreckliche Gefahr für alle Völker der Erde werden!« Marion ließ sich vom Fensterbrett auf den Boden gleiten. Sie stand aufrecht da, und ihr Gesicht war zürnend, wie wenn sie eines der kämpferischen Gedichte sprach. »Könnte man mit der gerechten Verteilung der Erde nicht warten, bis Deutschland wieder ein anständiges, zivilisiertes Land ist? Wenn man den deutschen Ansprüchen jetzt entgegenkommt, sieht das verdammt so aus, als geschähe es aus Angst vor der deutschen Macht. Es stärkt Hitlers Stellung und schadet also dem deutschen Volk.«
Er versetzte leise, aber bestimmt: »Mir scheint doch, das deutsche Volk liebt seinen Hitler. Hätte es ihn sonst herbeigeholt? Würde es ihn sonst dulden?«
Marion bewegte zornig den Kopf mit der Purpurmähne. »Sie wissen so gut wie ich, daß Millionen Deutsche ihn hassen und ihn los sein wollen; die anderen aber sind ahnungslos und verblendet, es wird unsere Sache sein, sie zu erziehen.«
Ihre Augen flammten; die des Schriftstellers blieben vorsichtig verborgen hinter den dicken Gläsern. Er sagte: »Sicher ist es nicht die Sache der imperialistischen Demokratien. Wir haben vor den eigenen Türen zu kehren. Weder England noch Frankreich oder Amerika haben irgend das Recht, sich vor anderen als moralische Vorbilder aufzuspielen. Was wir tun können, ist nur, das deutsche Volk befreien von dem Minderwertigkeitskomplex, an dem es seit dem Jahre 1918 leidet. Wenn es wieder glücklicher und reicher ist, wird es vermutlich auch wieder verständiger und weniger reizbar werden.«
»Oder es wird noch übermütiger und habgieriger werden«, warf Marion ein. Woraufhin er nur zu erwidern hatte: »Das wird sich zeigen. – Zunächst kommt es darauf an, einen neuen Krieg zu vermeiden. Denn er wäre das Schlimmste.«
Marion: »Noch schlimmer wäre eine Welt, in der die Faschisten diktieren. Und dazu kommt es, wenn die Demokratien den Willen zum Widerstand nicht mehr haben.«
Er darauf, eigensinnig und milde: »Machen Sie sich eine Vorstellung vom nächsten Krieg? Gift- und Gasbomben über Berlin, Paris und London: ich möchte es nicht erleben … Cholera und Hungersnot und zerschossene Häuser und überall die Diktatur einiger bösartiger Generäle: das wäre die Konsequenz. Die Zivilisation retten, indem man sie vernichtet? – Wie kann eine kluge Frau dergleichen wünschen!« Er legte ihr wieder die lange, schöne Hand auf die Schulter, diesmal mehr väterlich mahnend. »Wenn in unseren Ländern ein neues, starkes sittliches Bewußtsein, eine echte Friedensliebe und Nächstenliebe sich durchsetzen in den Herzen der Menschen, dann werden sie es sein, die schließlich die Welt beherrschen und zur allgemeinen Religion werden; nicht die Machtanbetung, wie sie heute von den enttäuschten, verführten Deutschen gepredigt wird.«
»Die Gestapo wird den Engländern und Franzosen die Friedens- und Nächstenliebe schon ausprügeln.« Marion sagte es böse. Er aber, zuversichtlich und beinahe