Klaus Mann

Klaus Mann - Das literarische Werk


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den Kranken gefährlich, ja, verhängnisvoll werden müßte.

      Das Zimmer – mit dunkler Tapete, rundem, teppichbelegtem Tisch in der Mitte, blendend weißem Bett – schien zu einer bescheidenen, aber peinlich sauberen Familienpension zu gehören. Doktor Rüteli – jetzt schon entschieden um eine Nuance strenger und gravitätischer als vorhin im Taxi – sagte: »Ich schlage vor, Herr Korella, daß Sie zunächst ein warmes Bad nehmen. Schwester Rosa wird die Freundlichkeit haben, inzwischen Ihren Koffer auszupacken – und ich hoffe Sie damit einverstanden, daß ich bei dieser Gelegenheit ein wenig Ihre Sachen untersuche, ob Sie nicht vielleicht versehentlich etwas von der Droge mitgenommen haben. Bitte, lassen Sie auch Ihre Kleider hier zurück. Schwester Rosa bringt Ihnen einen Bademantel.« Martin, der übrigens wirklich den Rest seines Heroinvorrates während der Reise verbraucht hatte, sagte ziemlich gekränkt: »Wie Sie wünschen, Herr Doktor. Sehen Sie nur sorgfältig nach! Sie werden nichts finden.« Die Nurse lächelte, milde und verführerisch. Fräulein Bürstel, die in der offenen Türe stehengeblieben war, sagte mit dummer, krähender Stimme: »Das Badezimmer ist im ersten Stock, Herr Korella.« – Der Doktor, schon über den offenen Koffer geneigt, konstatierte, nicht ohne Ekel: »Sie haben ja Ihre Injektionsspritze eingepackt! Kein gutes Zeichen … Sie erlauben wohl, daß ich sie an mich nehme.«

      Nach dem Bade gab es noch eine längere Konversation mit Rüteli zu bestehen. Der Arzt erkundigte sich nach verschiedenen Details, Martins Laster betreffend. Die Antworten notierte er sich in ein kleines Buch. Martin gab genaue und wahrheitsgetreue Auskünfte; Rüteli indessen blieb mißtrauisch. »Süchtige lügen immer«, konstatierte er mit einer gewissen Bitterkeit, »wenn es sich um ihre Sucht handelt. Zum Beispiel kommt es häufig vor, daß sie die Dosis ihres täglichen Konsums übertreiben, um dem Arzt noch eine Weile etwas abzulocken.« Er schien die Feststellung mehr für sich selber zu machen, als wäre es geboten, daß er diesen Umstand stets im Auge behalte, um sich die nötige Skepsis allen Behauptungen des Patienten gegenüber zu bewahren. Martin verstummte gekränkt.

      Doktor Rüteli schien zu begreifen, daß er einen taktischen Fehler gemacht hatte; er wurde herzlich, fast väterlich. Wieso, warum, unter was für Umständen Martin zu der Droge gekommen sei? – wollte der Arzt plötzlich wissen. »Ein so junger Mensch!« rief er beschwörend. »Und ein begabter Mensch – man sieht es Ihnen ja an; außerdem versichert es mir unser Freund, Doktor Deutsch. Warum ruinieren Sie sich?« Rüteli rief es fast flehend, mit erhobenen Armen. Martin versetzte trotzig: »Vermutlich, weil es mir Vergnügen macht.« Hierüber mußte Rüteli bitter lachen. Vergnügen! Die Selbstzerstörung – ein Vergnügen! »Sie sind ein Zyniker, Herr Korella«, stellte er bedauernd fest. »Gehen Sie in sich!« riet er ihm mit salbungsvoller Dringlichkeit. »Denken Sie nach über sich selber! Während der Tage, die Ihnen nun bevorstehen, haben Sie Zeit dazu … Steigen Sie mal gründlich in die Tiefen Ihrer eigensten Problematik! Eine gründliche Selbstanalyse: das ist es, was Sie jetzt brauchen!« – »Meinen Sie, ich würde einen netten kleinen Ödipuskomplex bei mir finden?« erkundigte Martin sich, höhnisch und müde. »Oder einen Kastrationskomplex …? Die Droge reduziert die sexuelle Potenz – wie Sie gewiß schon gehört haben, Herr Doktor. Vielleicht drogiere ich mich, um mich impotent zu machen? Kastrationskomplex ist gar keine üble Theorie …«

      Rüteli war sich nicht ganz im klaren darüber, ob Martin im Ernst sprach oder zum Spott. Übrigens fand er die Idee mit dem Kastrationskomplex keineswegs uninteressant. »Ich bemerke, daß Sie sich über Ihre höchst gefährdete innere Situation schon ernsthafte Gedanken gemacht haben.« Dazu nickte er anerkennend. »Sie sind aber immer noch nicht genug in die Tiefen gestiegen, lieber Freund. Vergessen Sie doch nicht: die Sexualität ist ein Vordergrundproblem, ein Symptom – möchte ich beinah sagen – und nicht mehr. Die gefährliche Überschätzung der Sexualität ist nicht mehr unsere Sache. Wir Jüngeren sind weiter vorgedrungen, tiefer hinabgestiegen.« Doktor Rüteli sagte es geheimnisvollen Tones und wies dabei mit einem langen, faltigen Zeigefinger nach unten, als lägen dort, schaurig geöffnet, die Abgründe, durch deren finsteres Labyrinth die jüngere Schule der Psychiatrie den Leitfaden besitzt. »Wie sind Ihre Beziehungen zur Großen Mutter?« erkundigte der Doktor sich, etwas lauernd und immer noch in die imaginären Schlünde weisend. Martin verstand nicht gleich, was er meinte, wodurch Rüteli enerviert wurde. »Nun ja doch«, machte er und zuckte ungeduldig die Achseln, »Ihre Beziehungen zum Anfang aller Dinge, meine ich; zur Großen Gea; zum Kosmischen Mutterschoß …« – Martin hatte keine Lust, sich darüber auszusprechen. Er fragte, ob er heute noch Morphine bekommen solle. »Ich fange nämlich schon an zu schwitzen«, sagte er, ziemlich böse. – »Sie sollen gegen vier Uhr nachmittags eine nette Injektion haben«, verhieß Rüteli onkelhaft. »Und eine zweite abends, vor dem Einschlafen.« – Martin empfand plötzlich ein gerührtes Wohlwollen für den Psychiater. ›Der brave Mann meint es gut. Ich will ihm das Leben nicht zu sauer machen.‹ Der Patient und der Arzt verabschiedeten sich mit Herzlichkeit voneinander. Rüteli versprach, gegen Abend noch einmal vorbeizuschauen. »Wahrscheinlich werde ich Sie schon schlafend finden«, sagte er.

      Martin verbrachte die Zeit bis vier Uhr nachmittags – die Stunde, für die ihm das kleine Labsal des Pantopons versprochen war – ziemlich ruhig. Die Heroindosis, die er im Zuge zu sich genommen, war stark genug gewesen, um ihm für den ganzen Tag gar zu großes Unbehagen zu ersparen. Er las; machte Notizen und schrieb zwei zuversichtlich gestimmte Briefe: einen an Kikjou, den anderen an David Deutsch. Pünktlich um vier Uhr erschien Schwester Rosa mit der Spritze, einem kleinen Wattebausch und einem Fläschchen mit Alkohol. Während sie dem Patienten die Injektion in den Oberschenkel machte, blieb ihr rosiges, hübsches Gesicht ernst, beinah streng. Erst nach getaner Arbeit setzte sie das verheißungsvolle, mild-kokette Lächeln wieder auf.

      Die emsige Person schien gerade eine freie Viertelstunde zu haben und übrigens in der Laune zu plaudern. Sie sprach plötzlich von ihrem Bräutigam, der Schullehrer in der Stadt Luzern war – Martin, mit halb geschlossenen Augen der Wirkung nachspürend, wußte gar nicht, wie sie auf dieses Thema gekommen war. »Ein prachtvoller Mensch«, versicherte Schwester Rosa, »etwa in Ihrem Alter. Ich fand gleich, daß Sie eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm haben, Herr Korella. – Freilich«, fügte sie nicht ohne Bosheit hinzu, »mein Bräutigam ist ein gesunder, einfacher Mensch …«

      »Das werde ich auch wieder werden«, versprach Martin heuchlerisch und schloß die Augen nun ganz. Die Stimme der milden Schwester schien ihm nun aus sehr weiter Ferne zu kommen. »Seine Schüler verehren ihn«, hörte er sie noch sagen. »Es gibt Jungens, die einen richtigen Kult mit ihm treiben.«

      Martin schlief bis in den Abend hinein. Schwester Rosa weckte ihn mit dem Essen. Zu seiner eigenen Überraschung hatte er Appetit. Nach der Mahlzeit sprach Rüteli noch einmal vor. Um zehn Uhr erschien die Nurse mit dem Instrument; Martin hatte schon gierig auf sie gewartet. Als er die wohlvertraute und höchstgeliebte Wirkung des Opiats wieder spürte, beschloß er: ›Ich will noch nicht sofort schlafen – obwohl es sicherlich nicht das reine Morphium gewesen ist, was die milde Schwester mir verabfolgt hat.‹ Übrigens hatte die sanfte Rosa verheißen, daß sie in einer Stunde nochmals erscheinen werde: »um Ihnen noch einen Leckerbissen für die Nacht zu bringen« – wie sie sich, neckisch und geheimnisvoll, ausdrückte. ›Wahrscheinlich meint sie irgendein harmloses Schlafmittel‹, vermutete Martin etwas verächtlich. Im Augenblick interessierte er sich nicht sehr für die chemischen Überraschungen, die Schwester Rosa für ihn in Bereitschaft hatte. Die Wirkung des Medikaments war erfreulich. Seine Gedanken arbeiteten beinah mit der gleichen traumhaft-beschwingten Leichtigkeit wie nach den großen Heroininjektionen.

      ›Natürlich darf ich mich nicht täuschen lassen‹, dachte er, als er alleine war. ›Heute ist noch ein guter Tag. Die eigentliche Entziehung hat gar nicht angefangen. Es wird scheußlich werden, ich weiß es. Es wird ekelhaft sein. Indessen bin ich fest entschlossen durchzuhalten – und wenn es noch so grauenvoll wird. Schließlich weiß ich, wofür ich leiden muß. Ich muß leiden, um gesund zu werden. Ich muß gesund werden – erstens, um ein paar gute Sachen schreiben zu können. Es ist in der Tat meine Absicht, noch ein paar vorzügliche Sachen zu schreiben, sowohl in Versen als auch in einer strengen, rhythmisch präzisen, tadellosen Prosa. Zweitens muß ich gesund werden, um mit Kikjou leben zu können. Ich liebe Kikjou. Ich brauche Kikjou. Ich verliere ihn, wenn ich von der süßen Sache, dem gar zu holden Teufelsdreck nicht