eine gute Erinnerung an Europa mit, da ich Sie gehört – und gesehen habe, Marion von Kammer!« Dann war sie hinaus, eiligen, festen Ganges und ohne sich noch einmal umgedreht zu haben.
Ein anderes Mädchen, das von Marion ausnahmsweise empfangen wurde, eine junge Kommunistin, kam direkt aus einem deutschen Gefängnis. Dort hatte sie sich zwei Jahre lang aufhalten müssen. Zwei Jahre! – welch eine Zeit! Und wie überstand man dergleichen? Diese hatte es in guter Form überstanden. In der Tat, sie schien beinah munter. Ihr Gesicht, das Marion mit Angst und Neugier prüfte, war nicht entstellt; nicht einmal besonders mager sah es aus. Das Mädchen war sogar etwas verächtlich, weil Marion sich bestürzt zeigte. »Zwei Jahre? Was ist denn das?« Sie zuckte die Achseln. »Ich hatte noch Glück, daß ich nicht ins Lager gekommen bin.« Das Geld, das Marion ihr schenkte, nahm sie wie etwas Selbstverständliches hin. Sie war nicht sehr liebenswürdig, wirkte aber vertrauenerweckend. »Sie tun gute Arbeit«, lobte sie Marion, ohne Enthusiasmus, fast erstaunt, wie eine Lehrerin, die schwer zufriedenzustellen ist und nun sagt: Die Leistung ist besser, als ich sie von dir erwartet hätte, mein Kind. »Gerade daß Sie den Leuten so klassisch kommen, ist geschickt. Damit fangen Sie das bürgerliche Publikum.« Sie tat, als wäre es nur natürlich und angebracht, daß Marion nach kalten Berechnungen und politischem Kalkül ihr Programm zusammenstellte. »Gegen Goethe und Schiller läßt sich kaum etwas einwenden«, sagte sie noch. »Man muß eben jetzt mit solchen Tricks arbeiten.« Marion ärgerte sich; übrigens war ihr das Mädchen nicht unsympathisch. Sie hatte ein intelligentes, offenes Gesicht; sie wußte, wofür sie kämpfte; meinte, unbedingt im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, und wäre, wenn es sein mußte, bereit gewesen, für diese Wahrheit zu sterben, ohne von ihrem Martyrium viel Aufhebens zu machen.
Es wechselte um Marion die Szenerie der Städte; es wechselten die Menschen, die ihr Briefe schrieben oder an den Theaterausgängen auf sie warteten: »Wir müssen Ihnen die Hand drücken, Fräulein von Kammer, es ist wieder gar zu schön gewesen!« Aber die Schlafwagen waren immer die gleichen, auch die Hotelzimmer blieben sich überall ähnlich – oft wußte Marion nicht, wenn sie am Morgen aufwachte, ob sie in Rotterdam oder in Basel, in Antwerpen oder Graz geschlafen hatte – und schließlich waren auch die Menschen, die sich überall zu ihr drängten, nicht so sehr voneinander verschieden. Viele kamen traurig und hoffnungslos; andere hatten Pläne, Vorschläge, ein politisches Programm. Einer erwartete sich alles Heil von Paneuropa; der nächste war anspruchsvoller und wollte den Weltstaat gründen: eine ganze Nacht lang erklärte er Marion, wie der Weltstaat auszusehen habe. Er war früher Professor an einer deutschen Universität gewesen – ein gescheiter Mann. Marion hörte ihm achtungsvoll zu. Er hatte die Insistenz des Fanatikers. »Der Weltstaat!« rief er immer wieder, und seine Faust, die auf den Tisch schlug, zitterte. »Nur er kann uns retten, und sonst nichts. Der ganze Begriff der Nation ist ein Schwindel – gar nichts dran, lauter Trick und Lüge. Solange die Menschen nicht dahintergekommen sind, ist für sie nichts zu hoffen …«
In Salzburg war es ein bayrisch-österreichischer Graf, der Marion stundenlang unterhielt. Er sah ziemlich leichtfertig aus, mit schwarzem Schnurrbart in einem fetten, lustigen Gesicht. »Meine Freunde nennen mich Count Bubi«, erklärte er gleich, mit kokettem Lachen, und bat darum, auch Marion möge ihn so anreden. Er war Katholik, Royalist, haßte die Nazis und wollte eine neue Partei gegen sie gründen, eine »Partei der Jugend«, Marion sollte zu den Führern gehören. »Dann machen wir eine kleine Revolution!« rief er animiert mit seiner näselnden süddeutschen Aristokratenstimme. »Eine kleine antipreußische Revolution in Bayern – das ist gar nicht so schwer! Ich brauche nur etwas Geld dazu, mit einer halben Million Pfund ist es zu schaffen, wir müssen handeln, Verehrteste, eine halbe Million Pfund müßte schließlich aufzutreiben sein, wir gründen einen katholisch-sozialistischen Staat, der Vatikan gibt uns seinen Segen, es kann eigentlich gar nicht schiefgehen …« Count Bubi war nicht beleidigt, als Marion lachte. »Natürlich lachen Sie!« bemerkte er ohne Bitterkeit. »Alle lachen zunächst. Sie werden es aber erleben: ich komme zum Ziel.« Merkwürdigerweise hielt sie dies wirklich nicht für ausgeschlossen. Der Graf mit seinem schlauen Kindergesicht schien besessen von Energien, die unter Umständen kostbar und selbst entscheidend sein mochten. Marion plauderte lange mit ihm. Die Idee, daß »eine kleine Revolution in Bayern« das Gesicht Europas verändern könnte, amüsierte sie und wirkte ermutigend.
Sie brauchte Ermutigung. Denn während sie vor ihrem Publikum oder im Verkehr mit Menschen stets zuversichtlich und beinah munter schien, kannte sie in Wahrheit die Stunden der Anfechtung, der verzweifelten Müdigkeit. Oft kam es ihr sinnlos vor, durch die Länder zu reisen – eine pathetische Missionarin – und schöne Verse zu deklamieren. Was soll es? – fragte sie sich, sooft die Stunde der Anfechtung kam. Wenn sie abends mit ihren Handkoffern und Blumensträußen zum Zug fahren mußte, fühlte sie sich manchmal derart matt und zerbrochen, daß sie erwog, den Rest der Tournee telegraphisch abzusagen und einfach zu bleiben, wo sie gerade war; in irgendeinem Hotelbett liegen zu bleiben, keine Zeitung mehr anzuschauen, keinen Telefonanruf mehr zu beantworten, die Augen geschlossen zu halten, zu schlafen …
Die D-Zug-Nächte konnten auf die Dauer kaum bekömmlich sein. Marion träumte zuviel, und fast immer waren es arge Träume. Früher hatte es so schlimme nicht gegeben. Damals hatte sie nur geträumt, daß sie wieder auf der Schulbank sitzen müsse und eine gar zu schwere Prüfung zu bestehen habe; oder sie stand auf der Bühne, ohne ein Wort Text zu wissen; oder sie mußte nackt über den Potsdamer Platz. Jetzt träumte sie einfach, daß sie sich in Deutschland befinde, und es war tausendmal beängstigender. Sie schlenderte über eine Berliner Straße; zunächst fiel ihr nichts daran auf. Allmählich kamen Bedenken: ›Warum bin ich eigentlich so lang nicht hier gewesen? Das muß doch einen Grund gehabt haben …‹ Mit dieser Frage setzte die dumpfe, quälende Beunruhigung ein; der eigentliche Alptraum begann. ›Ich habe wohl Feinde hier, sehr grausame Feinde, wahrscheinlich verfolgen sie mich – ich muß ein recht sicheres, unauffälliges Wesen zur Schau tragen und langsam gehen, dann bleibe ich vielleicht unbemerkt. Warum schauen mir denn die Leute so nach? Mein Gott, ich habe ja eine von diesen Emigrantenzeitungen in meiner Tasche, die sind hier doch verboten, es gilt als ein Verbrechen, sie mit sich zu führen – ich kann die Zeitung nicht mehr verstecken, alle haben sie schon bemerkt. Jetzt muß ich aber machen, daß ich davonkomme – wohin fliehe ich nur? Da steht ein SA-Mann, und dort noch einer – ich bin umzingelt … Man weist mit Fingern auf mich …‹
Keuchend und in Schweiß gebadet wachte sie auf, wissend übrigens, daß der Schreckenstraum sich keineswegs nur ihr so häufig wiederholte. Die Refugiés träumten ihn alle, er war der Alptraum par excellence der Emigration.
Kikjou ist fort. In Martins Zimmer mit den schönen großen Fenstern ist es still geworden. Keine Wutausbrüche mehr, keine Versöhnungsszenen mit endlosen Tränen und Schwüren. Kikjou hat versprochen zurückzukommen – wenn Martin frei sein wird von der Droge.
Sich befreien von der Droge – Martin verspricht es jeden Tag sich selbst und den drängenden Freunden: Es muß sein! David Deutsch, liebevoll und besorgt, hat einen ganzen Kriegsplan ausgearbeitet. Martin soll zur Entziehungskur nach Zürich fahren; dort kennt David einen guten Schweizer Arzt, mit dem er schon seit langem befreundet ist und zu dem er unbedingtes Vertrauen hat. Der ist bereit, die Kur in einem kleinen Privatsanatorium vorzunehmen. Es soll relativ wenig kosten. Wann wird Martin reisen?
Die Tage vergehen, es vergehen die Wochen – er bemerkt es fast nicht. Der Heroinkonsum steigert sich: ein Gramm, anderthalb Gramm, fast zwei Gramm pro Tag … Die Zeit hat keine Realität, wenn man sie nur noch mit Träumen füllt. Zuweilen erschrickt Martin, tief im Herzen, wenn er konstatieren muß, bis zu welchem Grade er sich von der Wirklichkeit schon entfernt hat. ›Ich bin der Welt abhanden gekommen‹, denkt er entsetzt. ›Fehle ich ihr? Sie kommt ohne mich aus … Das Entscheidende aber für mich ist, daß sie mir kaum fehlt und daß ich sehr leicht ohne sie auszukommen weiß …‹
Bei der Schwalbe kann es ihm geschehen, daß er mitten in einer politischen Diskussion – an der er übrigens mit Intelligenz und Lebhaftigkeit teilnimmt – mit einem Schauder, in dem Hochmut und Grauen sich mischen, empfindet: ›Wovon sprechen die guten Leute? Warum regen sie sich so auf? Illegale Arbeit in Deutschland … Interne Schwierigkeiten der Spanischen Republik … Italiens Raubzug gegen Abessinien: Was ist dies alles? Wie berührt es uns? – Warum schreien