eingerichtet. Daran schlossen sich Engagements in Belgien und Luxemburg; dann wieder in der Schweiz und der Tschechoslowakei. Es war ein anstrengender Winter. In Wien durfte sie nicht auftreten, weil die österreichische Regierung auf die Empfindlichkeiten des Dritten Reiches Rücksicht nahm. In Zürich machten faschistische Studenten Skandal, als sie das Gedicht eines Autors sprach, der in einem deutschen Konzentrationslager ermordet worden war. Die Polizei warf die Ruhestörer – von denen sich später herausstellte, daß sie Geld vom deutschen Konsulat bekommen hatten – aus dem Saal. Seit diesem Zwischenfall hatte Marion Schwierigkeiten, die Arbeitserlaubnis in der Schweiz zu bekommen; von einigen besonders vorsichtigen Kantonen wurde sie ihr verweigert. Nicht nur in der Schweiz, auch in der Tschechoslowakei und in Holland interessierten sich nun die Behörden für die Auswahl der Verse, die sie sprechen wollte. Überall vermied man mögliche Schwierigkeiten mit den reizbaren deutschen Gesandtschaften oder Konsulaten. Marion kämpfte wie eine Löwin um jede Zeile ihres Programms. Manches mußte sie opfern. Was stehen blieb, war immer noch genug, um den Nazispionen, die von ihren Vorgesetzten in den Saal geschickt worden waren, den kalten Schweiß auf die Stirnen zu treiben.
Deutsche Dichter im Exil schrieben Verse, eigens für die Vortragskünstlerin Marion von Kammer. Oft waren es nur gereimte Leitartikel, politische Manifeste in »freien Rhythmen«, denen Marion durch ihre Stimme, durch das Pathos ihrer Haltung und ihres Blickes erst die Würde und das Gewicht verlieh. Aber inniger war sie bei der Sache, wenn sie Gedichte oder Prosa der Klassiker sprach. Am populärsten war der Heinrich-Heine-Abend. Alle im Saal erschauerten, wenn die Zürnende rief:
»›Nicht gedacht soll seiner werden …!‹
Ausgelöscht sein aus der Menschen
Angedenken hier auf Erden,
Ist die Blume der Verwünschung –
Nicht gedacht soll seiner werden!
Herz, mein Herz, ström aus die Fluten
Deiner Klagen und Beschwerden,
Doch von ihm sei nie die Rede –
Nicht gedacht soll seiner werden!
Nicht gedacht soll seiner werden,
Nicht im Liede, nicht im Buche –
Dunkler Hund im dunklen Grabe,
Du verfaulst mit meinem Fluche!
Selbst am Auferstehungstage,
Wenn, geweckt von den Fanfaren
Der Posaunen, schlotternd wallen
Zum Gericht die Totenscharen.
Und alldort der Engel abliest
Vor den göttlichen Behörden
Alle Namen der Geladenen –
Nicht gedacht soll seiner werden!«
Jeder begriff, wen diese fürchterliche und schöne Stimme, die jetzt wie eine große Glocke drohend läutete, meinte und verdammte. Marions Gesicht war sehr starr, wenn sie diese schauerliche Formel des Fluches sprach. Aber unter der lockigen Purpurfülle des Haars brannten grausam die schräggestellten Katzenaugen.
Ihre Stimme wurde berühmt in Europa. Junge Schauspielerinnen begannen, ihre stürmischen und zärtlichen, zornigen und schmelzenden, aufrührerischen und süßen Akzente zu kopieren. Sie wurde viel bewundert und viel geliebt. Ihr Blick erschreckte; aber es verführte ihr großer, leuchtender Mund, und Lyriker oder hysterische junge Mädchen schrieben Hymnen auf ihre mageren, nervösen und kraftvollen Hände. – Sie wurde sehr geliebt und bitterlich gehaßt. Die Zeitungen im Reich brachten Schmähartikel gegen sie. In den Witzblättern von Berlin und München erschien ihre Karikatur: das kurze Gesicht unter dem wilden Haar, die gespreizten Hände, die mageren Glieder im eng anliegenden schwarzen Kleid. Hatte man Angst vor ihr und vor ihrer Stimme, daß man sich so viel und zornig mit ihr beschäftigte? Die Naziregierung entzog ihr die deutsche Staatsbürgerschaft: sie ward »ausgebürgert« – was wiederum nur eine Reklame für sie bedeutete. Schon ehe ihre Feinde sie mit dieser hilflosen und etwas komischen Geste zu züchtigen und erniedrigen meinten, hatte sie ihrerseits öffentlich erklärt, daß sie ihren deutschen Paß nicht mehr benutzen wolle. Sie reiste mit einem provisorischen tschechischen Papier, einem »Fremdenpaß«, den man ihr in Prag zur Verfügung gestellt hatte. Ihre Popularität in den Kreisen, auf die sie wirken wollte, steigerte sich noch dank den Beleidigungen, mit denen die Herren aus Berlin sie verfolgten. Niemals war Marion so gefeiert worden wie in den ersten Wochen nach der »Ausbürgerung«. Damals kam sie gerade in die Tschechoslowakei zurück. Es war im Januar des Jahres 1936.
Immer zahlreicher, immer inniger wurden die dankbaren, enthusiastischen Briefe. Häufig kamen sie von Deutschen – Feinden des Naziregimes, die es aber im Reiche aushalten mußten und nur für kurzen Aufenthalt im Ausland waren. »Wir hatten angefangen, unsere Heimat zu hassen«, schrieben sie. »Das Deutschland, in dem wir leben müssen, ist hassenswert. Sie haben uns wieder an ein anderes erinnert, haben ein besseres Deutschland für uns lebendig werden lassen. Das vergessen wir Ihnen nie.«
Marion beantwortete viele Briefe, vermied es aber, halb aus Scham, halb aus Trägheit, mit ihren Bewunderern persönlich in Berührung zu kommen. Manche waren von bemerkenswerter Insistenz. Als sie einen Monat lang in einem Prager Kabarett auftrat, gab es eine Dame, die ihr jeden Abend Blumen schickte: dreißig kleine rote Rosensträuße. Als das Engagement zu Ende ging, am 31. Januar endlich, schickte Marion dieser zähen Verehrerin einen Zettel ins Parkett: es würde ihr eine Freude sein, sich persönlich für die vielen schönen Blumen bei ihr zu bedanken. Drei Minuten später war die Dame da und sah düster aus. Sie trug ein streng geschnittenes dunkles Kostüm und das glatte schwarze Haar sehr kurz geschoren. »Ich heiße Emma von Barlow«, sprach sie und verneigte sich knapp. »Von Beruf bin ich Bildhauerin. Ich möchte Sie modellieren, Marion von Kammer.« Ihre Stimme tönte sonor und tief; auf der Oberlippe lag ein starker Flaum von brünettem Schnurrbart. »Ich möchte Sie modellieren«, fuhr sie fort, ohne auf Marions Antwort zu warten, »ehe ich Europa verlasse. Denn hier bleibe ich nicht!« versicherte sie, fast zornig, als hätte jemand sie zurückhalten wollen. »Was soll ich noch in Europa? Niemand interessiert sich mehr für Skulpturen. Europa ist fertig, aus, zu Ende – das weiß ich schon lang. Ich gehe nach Ekuador.« Dies erklärte sie nicht ohne einen düsteren Triumph, und sie fügte leiser hinzu: »Ganz allein.« Geld habe sie gerade genug für die Reise und um ein paar Monate drüben auszuhalten, erklärte sie noch. »Dann wird man weitersehen.« Das Leben in jener Gegend sei billig – hatte man ihr berichtet. »Ein reiches Land; keine Staatsschulden.« Sie sprach fast drohend vor Sachlichkeit. »Ölschätze!« rief sie, als ob dies alles für sie bedeutete. »Und ein schöner Menschenschlag – was mich übrigens kaum noch zu interessieren braucht; denn ich wechsle meinen Beruf. Sie, Marion von Kammer, sollen mein letztes Modell sein! Vielleicht werde ich nun Pianistin in einer Jazzkapelle. Ich spiele recht gut Klavier.«
Als Marion endlich zu Worte kommen durfte, suchte sie der Besucherin plausibel zu machen, daß es ihr leider nicht möglich sei, sie im Atelier aufzusuchen. »Ich habe morgen einen Abend in Bratislava; übermorgen einen in Brünn. Wenn man nur etwas mehr Zeit hätte …« Es tat ihr wirklich leid, Emma von Barlow enttäuschen zu müssen. Die stand einen Augenblick sprachlos; blieb indessen gefaßt. »Es macht nichts.« Die Stimme klang etwas heiser. »Es macht wirklich gar nichts. Denn ich kenne Sie ja. Ich habe Sie lange genug beobachtet, um Ihr Porträt aus dem Kopfe zu schaffen. Ich weiß jede Linie an Ihrem Körper.« Dabei funkelte es in ihren Augen, die dunkel waren und sehr nah beieinanderlagen, unter einer trotzig vorspringenden, niedrigen Stirn. Marion, etwas beunruhigt, zog sich einen Schritt von ihr zurück. »Jetzt muß ich wirklich gehen«, sagte sie. »Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Reise.« Während sie dies vorbrachte, schnürte ihr plötzlich ein großes Mitleid die Kehle zu. Sie meinte, schluchzen zu müssen. Sie sah diese Frau – diese einsame Frau, die vielleicht eine echte Künstlerin war – auf dem Deck eines kleinen Schiffes, das sie wochenlang über den Ozean trug. Schließlich würde es sie absetzen in einem Lande, wo sie niemanden kannte. Wen hatte sie in Deutschland zurückgelassen? Eine alte Mutter? Einen Mann? Eine Freundin? – Eine Freundin, taxierte Marion. Und warum mußte diese Dame, Emma von Barlow, in die Einsamkeit und in die Fremde? Warum hatte sie es in der Heimat nicht aushalten können? Durch