soviel Gefühl darin, ich wollte es dem lieben Herrn Ottinger immer schon gelegentlich sagen.« Jetzt waren ihre Augen so naß, daß alles vor ihnen verschwamm. Sie suchte nach einem Taschentuch in allen kleinen Taschen ihres Pyjamas. Sie fand keines und erhob sich stöhnend, um es sich aus dem Handkoffer zu holen.
›Nun muß ich noch an Mama und an Marion schreiben‹, dachte sie, während sie sich gründlich schneuzte und die Augen wischte. ›Aber ich mache es kurz. Denn ich kann nicht mehr. Ich kann bald wirklich nicht mehr.‹
Als sie wieder am Tischchen saß, ließ sie die Hände noch eine Weile im Schoße liegen. Sie hatte nicht die Kraft, gleich wieder nach dem mageren, abgekauten Federhalter zu greifen. ›Ein Glück, daß ich die Adressen von meinen zwei Liebhabern, von Konni und Ernst nicht weiß; sonst müßte ich denen auch noch schreiben‹, dachte sie, wie eine kleine Sekretärin, die sich freut, daß ihr Chef eine Adresse verloren hat und sie also um lästige Arbeit herumkommt. Dann aber erschrak sie gleich über den Zynismus ihrer Überlegung. ›Wie kann nur ein fast erwachsenes Mädel so faul sein!‹ Sie benützte in ihren Gedanken die Worte, die früher eine Handarbeitslehrerin so oft mit gerechter Empörung zu ihr gesagt hatte.
›Ich habe in meinem Leben nur zwei gern gehabt, und nur mit zweien geschlafen, und von beiden weiß ich nicht, wo sie sind, vielleicht sind beide schon tot, und ich weiß es nicht. Den Konni haben sie vielleicht in Deutschland umgebracht, oder sie haben ihn so lang gequält und geschunden, daß er gar kein richtiger Mensch mehr ist, sondern schon ganz kaputt, und ich würde ihn kaum noch erkennen. Würde ich ihn denn überhaupt noch erkennen, wenn er jetzt hier ins Zimmer träte und sähe noch fast aus wie früher, nur ein bißchen älter natürlich? Ich habe sein Gesicht ganz vergessen. An seine Stimme erinnere ich mich noch und auch an die Art, wie er ging. Aber sein Gesicht habe ich vergessen. Alle Züge verwischen sich mir, wenn ich dran denken will. Ach, Konni, Konni – und wir hätten glücklich sein können! Wir haben doch so fein zueinander gepaßt!
Aber wie der Ernst aussieht, das weiß ich noch ganz genau, ich spüre noch die Berührung von seinem Körper mit meinem, und wie seine Hände waren, spüre ich noch, ich spüre noch alles. Als ich hier mit dir im Bett lag, Ernst, da wußte ich wohl noch gar nicht, daß ich dich lieben würde, wenn du nicht mehr da bist, sondern ganz verschwunden … Daß ich dich lieben werde … Daß ich dich liebe.
Ich hätte das Kind gern von dir bekommen, lieber Ernst, das glaubst du mir doch, wenn ich es dir ganz aufrichtig sage in dieser Stunde, die schließlich eine ziemlich ernste Stunde für mich ist. Aber was sollten wir mit einem Kind? Und was soll denn unser Kind auf der Erde? Schau, so was darf man doch einem Kind nicht antun – es mit solchen Eltern auf die Welt zu bringen! Was für ein hilfloses kleines Geschöpf ist so ein Baby – und wären wir ihm denn eine Hilfe gewesen? Bist du denn ein Papa, wie er sein soll? Ich will dich ja nicht kränken, lieber Ernst, und deiner männlichen Ehre nicht zu nahe treten. Du kannst ja auch nichts dafür, daß du wie ein Verbrecher durch die Länder gejagt wirst, weil du keinen Paß hast. Wenn du mir nur mal geschrieben hättest, dann wäre alles anders gewesen, und ich hätte vielleicht sogar den Mut gehabt, das Kleine zu kriegen. Aber nun muß ich denken, du bist vielleicht einfach tot. – Und – das liegt doch auf der Hand – ich bin auch keine Mama, wie sie sein sollte, sicher nicht. Ich habe nicht die Kraft und den Willen, mein eigenes Leben auszuhalten. Wie sollte ich es da verantworten, ein anderes Leben in die Welt zu setzen und aufzuziehen und immer zu beschützen?‹
Als sie nun die müden Augen ein wenig schloß, stand gleich vor ihr sein Gesicht, das Gesicht des Geliebten, das in diesem Zimmer, auf diesem Bett eine kurze Nacht lang ihr so nah gewesen war. Ganz deutlich sah sie seine sehr hellen Augen – sogar die blonden Augenwimpern konnte sie unterscheiden – und die breiten, hochsitzenden Wangenknochen, über denen sich die etwas unreine, angestrengte, fleckige Haut spannte; und die kurzgeschorenen Haare an den Schläfen – auch am Hinterkopf war das Haar kurzgeschoren, wie Tilly sich wohl erinnerte; das war der preußische Haarschnitt; aber den Nacken sah Tilly jetzt nicht, ihr bot sich nur die nackte, weiße, ernste Fläche seines Angesichts. Auch Hals, Schultern und ein Teil der Brust waren noch erkennbar, und sie überlegte sich, was für eine merkwürdige Art von Uniform es sein mochte, die ihr Ernst da trug – war es ein Sträflingskittel oder ein Soldatenrock? Übrigens stand ihm der hohe, steife Kragen der grauen Jacke nicht schlecht; entschieden besser jedenfalls, als ihm damals das zu lang getragene dicke rote Hemd gestanden hatte.
An die Mutter schrieb Tilly nur ein paar Zeilen: »Versuche mir zu verzeihen … ich konnte nicht anders …« Es war ein konventionelles Selbstmörder-Abschiedsbriefchen. Als Tilly es durchlas, schämte sie sich ein wenig, so etwa, wie man sich etwas geniert, wenn man einem guten Freund Neujahrs- oder Geburtstagsgrüße geschrieben hat und dann konstatieren muß, daß sie zu korrekt und inhaltslos ausgefallen sind. Tilly setzte noch mit großen Lettern unter den Text: »Ich habe Dich immer lieb gehabt, Mama.« Und dann, als zweites Postscriptum, in kleinerem Format: »Grüße bitte meine Schwester Susanne von mir.«
Der Brief an Marion wurde der längste; die arme stöhnende, ab und zu weinende, von Unterleibsschmerzen und Todesgier arg geplagte, auch noch unter der kratzenden Stahlfeder leidende Tilly schrieb fast eine ganze Stunde an ihm.
In Sätzen, die sich häufig verwirrten und nicht immer logisch nebeneinander standen, versuchte sie, der großen Schwester zu erklären, wie alles zusammenhing und was sie zu dem erleichternd-schauerlichen Entschluß gebracht hatte, den auszuführen sie nun im Begriffe war. Dabei ließ sie sich auf mancherlei Einzelheiten ein, deren Bedeutung nicht ganz plausibel wurde, die ihr aber jetzt von besonderer Wichtigkeit zu sein schienen. Zum Beispiel erwähnte sie ausführlich ihre Besuche bei der gräßlichen Anwältin, die im Bett liegend telefoniert hatte und in deren Augen ein infamer, kalter Glanz gewesen war – »ein teuflischer Glanz«, malte Tilly mit der rostigen Feder.
Dann schrieb sie von der einen Liebesnacht mit Ernst, und wie der Kriminalbeamte frühmorgens an die Tür geklopft hatte, und wie peinlich es gewesen war, als Ernst sich so ungeschickt schlafend stellte. »Aber das Kind konnte ich nicht bekommen, da gibst Du mir doch recht, Marion, ich durfte das Kind doch nicht haben, was hätte ich denn mit ihm anfangen sollen!«
Sie versuchte zu schildern, wie fürchterlich die Prozedur beim Arzt gewesen war: »Ich glaube, die Instrumente sind nicht sauber gewesen, dieser Doktor war ein ekelhafter Kerl, und jetzt tut es mir immer so weh, es ist wirklich kaum auszuhalten.
Mir ist einfach alles schiefgegangen. Ich habe den Konni sehr gern gehabt, und ich hätte sicher gut mit ihm leben können. Aber dann ist in Deutschland die Riesensauerei passiert, und ich habe den Konni verloren, daran ist die große Sauerei schuld. Ich habe auch den Ernst sehr gern gehabt – laß es Dir sagen, Marion: ich habe ihn noch sehr gern, jetzt, während ich dieses schreibe – und ihn habe ich auch verloren, es hängt auch mit der Sauerei zusammen, wahrscheinlich hängt mein ganzes Pech und all unser Jammer mit ihr zusammen. Vielleicht habe ich auch sehr Heimweh, aber ich glaube eigentlich nicht, daß ich so besonders stark Heimweh habe, mir liegt gar nicht soviel an Berlin und am Schwarzwald und an den deutschen Ostseebädern und an den alten Burgen am Rhein und an all dem Zeug – mir liegt wirklich gar nicht so kolossal viel daran.
Natürlich bleibt es schrecklich, wenn das Land, in dem man geboren ist und dessen Sprache man redet und an das man hunderttausend Erinnerungen hat – wenn das plötzlich zu stinken beginnt wie ein Misthaufen und auch gar nicht mehr aufhören will, so zu stinken, als fühlte es sich recht wohl in seinem eigenen Dreck.
Für Dich ist das etwas ganz anderes, Marion, Du bist ein starker Charakter, und Du kannst kämpfen, Du kannst herrlich kämpfen, es ist eine Freude, Dich kämpfen zu sehen.
Aber ich kann nicht kämpfen.
Ich kann kein Kind haben, und kämpfen kann ich eigentlich auch nicht.
Ich interessiere mich ja im Grunde gar nicht für Politik.
Einen einzelnen Menschen hätte ich glücklich machen können, und dann wäre ich wohl auch glücklich gewesen. Aber damit ist es nun nichts. Die Zeit ist nicht dazu geeignet, in ihr glücklich zu sein. Das begreife ich mehr und mehr. Es ist also nichts mit dem großen Glück, von dem wir als Kinder geträumt haben, und mit dem kleinen Glück ist es auch nichts. Nur ein