habe ich auch Angst, aber es ist eine ziemlich schöne Angst, weißt Du, ein bißchen wie die Angst vorm ersten Kuß, nur viel heftiger, aber auch viel schöner.«
Der Brief war schon sechs eng beschriebene Seiten lang. Tilly mußte ein Ende finden. Sie kaute ein wenig an dem dünnen, befleckten Federhalter, wie so viele vor ihr an ihm gekaut hatten. Dann schrieb sie noch:
»Du mußt nicht traurig sein, daß ich weggehe, Marion. Es ist nicht so besonders schade um mich. Ich sage das ganz ohne Bitterkeit. Viel wichtiger ist, daß Du lebst und so bleibst, wie Du bist. Glaube bitte nicht, daß ich das aus Bitterkeit sage! Ich bin zwar sehr traurig und furchtbar müde, und alles tut mir weh; aber ich bin gar nicht bitter. Du wirst tausend Sachen erleben, die ich nicht mehr erleben kann – oder mag. Du wirst auch sicher mal nach Deutschland zurückkommen, das wird sehr schön und aufregend sein, eine Art von großem Fest, aber auch viel Arbeit; denn Du wirst viel zu tun haben. Du hast viel auf dieser Erde zu tun, Marion. Ich habe nichts mehr auf dieser Erde zu tun – beinah nichts mehr. Deine Schwester Tilly.«
Als Nachschrift fügte sie hinzu: »Vielleicht hätte ich diesen braven Schweizer, den Peter Hürlimann, heiraten sollen. Das wäre noch ein Versuch gewesen, mich am Leben zu halten. Aber es wäre kein guter Versuch gewesen. Ich hätte ihm das nicht antun können – mit ihm zu leben, ohne ihn zu lieben. Er ist ein guter Mensch.«
Nun war auch dieser Brief fertig – der letzte. Sie steckte ihn ins Couvert. Sie schichtete die Briefe sorgsam zu einem Häufchen. Der Zettel an die Wirtin lag obenauf. Dann stand sie auf und klingelte. Zu der Wirtin, die gleich erschien – als hätte sie vor der Türe gewartet – sagte sie: »Bringen Sie mir doch bitte eine Tasse Tee, Frau Bärli.« Sie war stolz darauf, daß sie den Namen der Frau jetzt wußte. Die Wirtin erwiderte ernst: »Sicher, Fräulein.« Das »ch« in »sicher« sprach sie mit einem rauhen, langgezogenen Kehllaut.
Die Wirtin ging. Tilly setzte sich aufs Bett und wartete. Sie dachte: ›Wie müde ich bin, ehe ich noch das Veronal genommen habe‹, und sie schloß die Augen. Ihr fiel ein kleines Gebet ein, das sie als Kind, mit Marion zusammen, vor dem Zubettgehen hatte aufsagen müssen. »Müde bin ich – geh zur Ruh – schließe beide Augen zu. – Vater, laß die Augen dein – über meinem Bette sein.« Dann wußte sie nicht mehr weiter. Sie war sich auch nicht ganz sicher, ob die Zeilen mit den »Augen dein« und dem »Bette« nicht eigentlich etwas anders gelautet hatten.
Plötzlich erinnerte sie sich mit fast erschreckender Deutlichkeit eines Hauses, in dem sie als Kind jahrelang einen Tag der Woche – den Sonntag – verbracht hatte. Das Haus gehörte einer Großtante, einer Schwester von Papas Vater. Sonntagmittag versammelte sich dort ein großer Teil der Familie; man blieb bis zum Tee, an hohen Feiertagen bis zum Abendessen. Es gab gut zu essen; die Großtante mußte ziemlich reich gewesen sein. Ihr Haus war schön und geräumig. Es lag in einem weiten Garten, der umso kostbarer war, als er sich inmitten der Stadt befand. In dem Garten, so schien es Tilly jetzt, hatten immer die Vögel gesungen, und zwar auf eine sehr besondere, zugleich gedämpfte und eindringliche Art. Es war ein reizender und etwas verwunschener Garten. Nie wieder in ihrem Leben hatte Tilly einen Garten gesehen, in dem die Blumenbeete so starke, liebliche Farben hatten und wo die Brunnen so hübsch und einschläfernd rauschten. Es gab zwei Brunnen im Garten der feinen alten Großtante: eine Fontäne, die ihren schlanken Strahl in ein rundes Marmorbecken fallen ließ, und einen Brunnen, der als kleine Grotte zurechtgemacht war; hier floß das Wasser aus dem drohend aufgesperrten Maul eines riesengroßen, fetten, giftgrünen Frosches, vor dem Tilly Angst hatte. – Ganz im Hintergrund des Gartens stand ein Gerätehäuschen, angefüllt mit interessantem Gerümpel. Zwischen den alten Schubkarren, Gießkannen und Leitern versteckten die beiden kleinen Schwestern, Marion und Tilly, sich manchmal vor den Erwachsenen. Es war lustig, die großen Leute im Garten draußen schreien zu hören, während man sich in der warmen, dumpfig eingeschlossenen Luft des Schuppens aneinanderpreßte und ein Kichern unterdrückte, das einen hätte verraten können.
Vom Garten führten ein paar Stufen zur Terrasse hinauf, wo Tee getrunken und im Sommer manchmal gegessen wurde. Hier waren die Wände mit Malereien geschmückt, die nicht nur verblaßt, sondern im Begriffe schienen, völlig zu zerbröckeln. Von einem Sankt Sebastian, der die Jünglingsanmut seines Leibes in stolzer Pose den Pfeilen der Peiniger bot, war nichts übrig geblieben als ein bleicher Schatten, so als ob der Heilige allmählich seine Unsterblichkeit einbüßte und in schöner Haltung, milde und nur ein klein wenig gekränkt lächelnd, verweste.
Wie tief hatte sich dies alles eingeprägt in Tillys Gedächtnis! Mit welch schauerlich-süßer Genauigkeit stieg es nun auf, während sie in diesem kalten, trostlosen Hotelzimmer fröstelnd auf ihren Tee wartete. Sie wartete auf den Tee, in dem sie die zwanzig Veronaltabletten auflösen wollte.
Stand das schöne alte Haus der Großtante noch? Die alte Dame war wohl schon lange tot …
Von der Diele führte eine Freitreppe mit reich geschnitztem braunem Mahagonigeländer zum ersten Stockwerk hinauf. Etwa auf der Mitte der Treppe gab es einen kleinen Erker oder Balkon, von dem aus man auf die Diele mit ihren Teppichen, Gobelins und bunten Majolikakrügen schauen konnte, wie in eine dämmrige, mit freundlichen Figuren reich belebte Landschaft. Der kleine Treppenbalkon hatte ein schmiedeeisernes, mit barocken Arabesken üppig verziertes Gitter. Hinter dem Gitter saß Tilly gerne stundenlang an den Sonntagnachmittagen, um durch die krausen und phantastischen Windungen des Metalls hindurch auf die Diele zu schauen. Lange wagte sie es nicht, sich umzudrehen; denn hinter ihr stand auf seinem Postament der große, bunte, ausgestopfte Pfau. Noch schöner als die grüngoldenen Kreisaugen auf seinem langen Gefieder war die sattblaue, ins Goldene spielende Farbe seines seidig schimmernden Bauches. In Gegenwart eines Erwachsenen traute die kleine Tilly sich manchmal, diese leuchtende Pracht zu berühren. Alleine brachte sie es nicht über sich. Ihre Lust, das stolze, bunte, schweigende Tier zu liebkosen, war ungeheuer. Aber wußte man, wie das strahlende Geschöpf es aufnehmen würde? Vielleicht wäre seine Antwort ein gräßlicher, rauher Schrei, und es würde rauschend mit den Flügeln schlagen und die kleinen, schwarzen Augen böse funkeln lassen und mit dem spitzen, harten Schnabel hacken. Die kleine Tilly riskierte es lieber nicht.
Alle Gerüche in dem schönen alten Haus waren ihr gegenwärtig, wie sie nun auf ihren Todestee wartete: der Geruch der Garderobe, wo man die Mäntel abgab; der Geruch im Speisesaal, der viel zu weiträumig und pompös erschien für den runden Familientisch in der Mitte; in der dämmrigen Bibliothek, wo der Großonkel gearbeitet hatte (er war gestorben zu einer Zeit, von der Tilly nichts wußte); im großen Musiksaal, wo es gar nichts gab außer zwei Flügeln auf einem Podium und, die Wände entlang, schmale Bänke, mit blauseidenen Kissen belegt. Früher aber hatten hier die großen Feste stattgefunden, von denen die Großtante zuweilen so träumerisch berichtete, als spräche sie von märchenhaften Turnieren, deren wahren Hergang kein Lebender mehr nachprüfen konnte. Sehr eindrucksvoll und unvergeßlich war auch der Geruch in einem weiten, unbenutzten Kellerraum, der einmal als Billardzimmer gedient hatte. Die grüne Bespannung des langen Tisches war jetzt von Motten zerfressen. In den Wandschränken verwahrte die Großtante Teegebäck und Schokoladeplätzchen. Tilly liebte es, mit der alten Dame die gewundene, geheimnisvolle Treppe hinunterzusteigen, die vom Speisesaal ins Billardzimmer führte. Das kleine Mädchen war ganz versessen darauf, den Gang aus der Sphäre des Lichts in die Grabkammer der fleckigen Billardkugeln und süßen Kuchen zu tun; teils aus Naschhaftigkeit, teils aber auch, weil das Aroma der kühlen, kellerig dumpfen Luft in diesem Raum unwiderstehlichen Reiz für sie hatte.
Während die sich innig Erinnernde im geheimnisvollsten, tiefstgelegenen Raum des versunkenen Hauses weilte, klopfte es an der Tür. Tilly sagte: »Herein.« Frau Bärli präsentierte den Todestee. Tilly lächelte ihr zu: »Danke schön, Frau Bärli. Vielen Dank. – Übrigens, ich möchte morgen früh nicht gestört werden. Lassen Sie mich ausschlafen. Ich habe einen anstrengenden Tag gehabt.« – »Sicher«, sprach mit rauhem Kehllaut die Wirtin. Sie nickte ernst und zog sich langsam zurück. Tilly schloß die Augen, um nicht die Türe sich hinter ihr schließen zu sehen: hinter dem letzten Menschen, mit dem sie auf dieser Erde gesprochen hatte. Hinter dem letzten Menschen.
Als sie allein war, stieg gleich der Garten der versunkenen Kindheit wieder auf, als hätte er nur geduldig darauf gewartet, tröstlich wieder da zu sein: der verwunschene