ihres Sohnes zu entfernen. David Deutsch begleitete sie in ein Hotel, wo er ihre Koffer schon hatte unterbringen lassen. Er übernahm es auch, an Martins Vater nach Berlin zu telegraphieren. Ihm war es angenehm, daß er noch irgend etwas zu tun hatte, und wenn es auch melancholische Kleinigkeiten waren – ehe er nach Hause gehen mußte, wo nur die furchtbaren Gedanken, die Erinnerungen und die Einsamkeit ihn erwarteten.
Als er, eine Stunde später, sein Zimmer betrat, saß im Halbdunkel ein Mensch auf dem Sessel am Fenster. »Wer ist das?« rief David, der sehr erschrak. Eine leise, glockenhaft reine Stimme antwortete: »Ich bin es, verzeihen Sie bitte.« Es war Kikjou. Als er ihn erkannte, brach David in Tränen aus. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht weinen können. Kikjou fragte schnell: »Er ist also tot?« Da der Schluchzende nickte, faltete Kikjou die Hände. »Gott sei seiner armen Seele gnädig.«
Auf diese Worte hin, die Kikjou mit wunderbarer Glockenstimme, leise, aber innig akzentuiert vorbrachte, machte David eine ungeheure Kraftanstrengung, um seinen Weinkrampf zu unterdrücken. Er ballte die Fäuste, biß die Zähne aufeinander, daß sie knirschten, und bog den Rumpf in heftiger Verrenkung nach rechts, wobei er die Schenkel beinah bis zu den Schultern hochzog und sogar etwas hüpfte. Ja, die ungeheure physische Mühe, die es ihn kostete, des Weinens Herr zu werden, brachte ihn dazu, mit geschlossenen Füßen, etwa zwei Zentimeter hoch in die Luft zu springen. Es war ein grotesker und erschreckender Anblick. Erschreckend war auch das Zornesfunkeln in Davids Augen, als er jetzt Kikjou anschrie: »Sparen Sie sich Ihre frommen Wünsche und Gebete! Wenn es Ihren lieben Gott überhaupt geben sollte, dann ist Martin ihm näher gewesen als Sie mit allen Ihren Sprüchen und Litaneien!«
Kikjou schwieg, sein fahles, liebliches Gesicht blieb starr. Die Augen, in denen Grün, Hellblau, Goldbraun, Violett und Schwarz sich in einer zugleich undurchdringlichen und strahlend hellen Tiefe mischten, schauten an David vorbei. Nach einer großen Pause sagte er: »Wahrscheinlich haben Sie recht. Wir wissen nicht, wen der Herr liebt und bevorzugt.« Er verstummte noch einmal; in seinen Augen wurden alle Farben von dem Schwarz verschlungen; sein Blick war in Finsternis getaucht wie ein Gewässer, über das finstere Wolken ziehen. »Ich bringe Unglück«, sagte er noch, wieder nach großer Pause. Und er stand schön und trostlos da. – ›Wie ein Todesengel‹, dachte David, der seine Heftigkeit von vorhin bereute. Da Kikjou immer noch schwieg, fragte David nach einer Weile mit etwas bebender Stimme: »Warum sind Sie nicht bei ihm gewesen? Ich werde es niemals verstehen, warum Sie nicht gekommen sind. Er hat immer wieder nach Ihnen gefragt – nur nach Ihnen. Haben denn all meine Nachrichten Sie nicht erreicht? Die Briefe und die drei Telegramme?«
»Nein«, antwortete Kikjou, »ich habe nichts bekommen.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Aber ich wäre wohl auch in Belgien geblieben, wenn alle Ihre Botschaften mich erreicht hätten. – Martin brauchte mich nicht, er wollte mich nicht mehr. Er hat etwas anderes mehr geliebt als mich. Er hat dem Dunklen Engel Stirn und Lippen zum Kuß geboten. Der Dunkle Engel zog ihn innig an sich. Gott sei Martins armer Seele gnädig.«
Der kleine Kikjou hatte wieder die Hände gefaltet. Aber er neigte das Gesicht nicht, wie man es zum Gebet neigt. Er hielt es aufrecht, und er lächelte.
David Deutsch erschrak. ›Warum lächelt er? Er sieht fast aus, als habe er den Verstand verloren; aber ein Wahnsinniger ist er nicht. In was für Geheimnisse ist er eingeweiht, und was für Bilder schauen nun seine Augen? – Spielt er Komödie? Heuchelt er? Aber Heuchler haben nicht diese Flamme im Aug, und nicht dies bleiche Leuchten über Stirn, Haar und Mund …‹
Zur Beisetzung von Martins Asche ist Herr Korella in Paris eingetroffen – ein ziemlich gebrochener Mann. Es ist zuviel für ihn gewesen in den letzten Jahren: erst der Verlust seines Notariats, dann seiner Praxis, und nun diese Tragödie mit dem Jungen. Was hat Herr Korella denn getan, womit hat er sich denn versündigt, daß ihm soviel Entsetzliches zugemutet, soviel Schreckliches über ihn verhängt wird, von einer Instanz, die Herr Korella, Atheist und Freimaurer, niemals »Gott« nennen würde, aber deren unbegreifliche und unbarmherzige Macht er erschauernd spürt. Er hält sich sehr aufrecht, Herr Korella, der Vater. Aber eben durch diese krampfhaft steife Haltung wirkt er besonders zusammengebrochen; alle haben den Eindruck, daß es diesem Mann natürlicher wäre, gebückt zu gehen, ja, vielleicht auf allen vieren zu kriechen, die Stirn in den Staub gepreßt. Über den Lippen, die immer ein wenig zittern, hat der Vater ein kleines Schnurrbärtchen, welches wie bereift aussieht: kein graues Schnurrbärtchen, sondern ein schwarzes, auf das Reif gefallen ist. Unter den Augen, die glasig blicken, gibt es traurige Säckchen: rötliche Verdickungen, wahrscheinlich tun sie immer ein wenig weh. Herr Korella trägt einen abgeschabten schwarzen Paletot mit speckigem Samtkragen, dazu weiße Gamaschen, runden steifen Hut und einen dicken, schwarz lackierten Spazierstock mit Silberkrücke. Zur schäbig-altväterlichen Eleganz solchen Aufzuges paßt die mühsame Grandezza seines Benehmens. Er bietet Frau Korella den Arm – arme Frau Korella, die buchstäblich in Tränen zu zerfließen droht und deren Gesichtszüge auf eine beängstigende Art weggewischt und abgewaschen scheinen; er führt Frau Korella zum Eingang des Friedhofes wie zum Portal eines Ballhauses; seine Gesten, sein Gang sind marionettenhaft zuckend, ach, eigentlich möchte er auf allen vieren kriechen, zerfurchte Stirne und bereiftes Schnurrbärtchen im Staube, zu dem wir alle zerfallen werden …
Nicht sehr viele Leidtragende sind auf dem Friedhof erschienen; einige Stammgäste aus der »Schwalbe«: Kikjou, David Deutsch, die Proskauer, Dr. Mathes, und eine hagere Dame, die nur wenigen bekannt ist. Sie hält ein helles Lederköfferchen, in dem es klappert, unter dem Arm; es ist Friederike Markus – war sie denn befreundet mit dem Verstorbenen? Stand sie denn auch mit ihm in Korrespondenz? Martin ist doch ein so fauler Briefschreiber gewesen, aber Frau Viola ist es ja gewohnt, auf lange Ergüsse nur kärgliche Antwort zu erhalten. Wie dem auch sein möge: sie ist anwesend, und sie drückt als erste der aufgelösten Mutter Korella stumm die Hand. Übrigens befindet sie sich in Begleitung eines blonden jungen Mannes, der gleichfalls allen unbekannt ist und sich im Hintergrund hält. – Während die Schwalbe mit großen, gleichsam zornigen Schritten breitbeinig auf und ab geht, wie ein Kapitän auf Deck seines Schiffes bei bewegter See, sagt Dr. Mathes zu Dora Proskauer: »Martins Lungenentzündung war von sehr besonderer Art. Da er nun tot ist, darf man wohl davon reden. Er war durch und durch infiziert. Ich möchte annehmen, daß er sich die intravenösen Injektionen mit einem nicht desinfizierten Instrument gemacht hat. Daher bildeten sich die Abszesse in seinem Inneren.« Die Proskauer sagte leise – ohne jeden Affekt, wie es schien, aber doch energisch: »Hören Sie bitte auf.«
Übrigens regnet es, zu Beisetzungen gehören Regen, nasse Parapluies und der Geruch feuchter Mäntel. David Deutsch hat vorgehabt, eine kleine Rede zu halten – damit doch etwas gesprochen werde; denn es ist ja kein Geistlicher zugegen. Martin hat keiner Religionsgemeinschaft angehört, weder der israelitischen, deren Mitglied sein Vater ehemals gewesen ist, noch der protestantischen, zu der sich Frau Korella bekennt. Aber David versagt, er hat seine Kraft überschätzt. In verzweifelt schiefer Haltung steht er da; er verneigt sich seitwärts, lächelt verzerrt, eine ganz kleine Pantomime von hilflosen und närrischen Höflichkeitsbezeugungen führt er auf; aber über seine Lippen kommt kein Wort. Die rüstige alte Schwalbe ist es, die die Situation halbwegs rettet; sie schiebt David resolut beiseite – ihr zerzaustes, borstiges Grauhaar ist naß vom Regen, ihr energisch gutmütiges Kapitänsgesicht naß von Tränen, und ihre Stimme ist rauh, zittert wohl auch ein wenig, gibt aber doch markige Töne her, da sie nun ausruft:
»Martins Vater und Martins Mutter! Meine lieben Kinder! Ich kann keine Worte machen, und das hätte unser Kamerad auch nicht von mir verlangt, unser Freund, von dem jetzt nur noch dieses bißchen Asche übrig sein soll. Aber seine Gedanken und die Anmut seines Wesens und alles, was er gewesen ist, das darf doch nicht einfach so verlorengehen, das muß doch nachwirken – in uns, in uns nachwirken, meine ich; wir bewahren es doch. Er hat ja auch ein Dutzend sehr schöne Gedichte geschrieben, schlimm genug, daß es nicht mehr gewesen sind.« Hier hört man, wie Herr Korella sich gramvoll und ein wenig indigniert räuspert, und wie Frau Korellas Schluchzen heftiger wird – es ist erstaunlich, wieviel Tränen sie herzugeben hat, es scheint, als sei der Brunnen ihrer Tränen unerschöpflich, nun fließt das salzige Naß wieder so reichlich, als beginne die arme Frau gerade jetzt erst zu weinen, während sie doch in Wahrheit seit so vielen Stunden ohne jegliche Unterbrechung schluchzt. – Leichte Bestürztheit