Korella bei Martins Kameraden Gegenstand eines gewissen Mißtrauens und sogar von Antipathie gewesen. Wer jenseits des feurigen Kreises, wer innerhalb der unüberschreitbaren Reichsgrenzen seinen Aufenthalt hat, muß sich vor den Losgelösten, den Emigranten auf eine besondere Art rechtfertigen und beweisen, um sich ihr Vertrauen zu gewinnen oder gar ihre Freundschaft. Die Losgelösten sind argwöhnisch, und wer aus dem Lande kommt, das für sie unbetretbare Gegend ist – die verlorene Landschaft, der zugleich ihr ganzer Haß und ihre ganze Sehnsucht gelten – der hat sich ihren scheelen Blick, ihr prüfendes, überlegendes Schauen wohl gefallen zu lassen. Zwischen jenen, die sich über die Straßen deutscher Städte noch mit Selbstverständlichkeit bewegen, und zwischen den anderen, denen diese Gassen und Plätze höchstens noch in nächtlichen Gesichten erscheinen, die halb Alpträume, halb Wunschträume sind – zwischen den Daheimgebliebenen und den Ausgewanderten springt ein Abgrund auf, wenn sie durch Zufall irgendwo einander begegnen. Es gibt Worte, es gibt vielleicht sogar Blicke und Erkennungszeichen, die geeignet sind, solchen Abgrund zu überbrücken oder ganz zu schließen und die Atmosphäre des Vertrauens zwischen den Sichentfremdeten herzustellen. Herr Korella hat dieses Wort, diesen Blick, dieses Zeichen nicht gesucht oder doch nicht gefunden. Der Abgrund blieb, und er vertiefte sich noch durch des Vaters würdevoll-steifen Abgang. »Uff!« machte Mutter Schwalbe. Dann forderte sie die ganze Gesellschaft auf, im Lokal bei ihr »einen Happen« zu essen.
Friederike Markus, die schon seit geraumer Weile in einen Zustand völliger Geistesabwesenheit versunken schien und, mit zugleich starrem und ruhelosem Blick, seltsam lächelnd ins Leere träumte, wollte sich hastig verabschieden; doch ihr sympathischer Kavalier – sportliche und vertrauenerweckend saloppe Figur im gegürteten hellen Regenmantel – bettelte schulbubenhaft: »Aber Viola! Sei doch nicht langweilig! Es tut dir so gut, einmal unter Leute zu kommen!« Woraufhin das abgestorbene Lächeln der Markus sich zärtlich belebte. »Wenn es dir Freude macht, Gabriel«, sagte sie, und ihr trostlos wandernder Blick blieb liebevoll an seinem hübschen, harten Gesicht hängen. – Frau Schwalbe, die Friederike flüchtig kannte und viel über sie gehört hatte, sagte besonders herzlich: »Das ist recht, daß Sie auch mal mit uns sein wollen, Frau Markus!« Auf ihre resolute Art machte sie sich selber mit Friederikes jungem Begleiter bekannt: »Ich bin Mutter Schwalbe.« Und er, korrekt sowohl als sonnig, ein Hackenzusammenschlagen mit eleganter Nachlässigkeit andeutend: »Walter Konradi mein Name.« – »Warum nennt Frau Markus Sie dann Gabriel?« wollte die Schwalbe wissen, die Unklarheiten nicht ausstehen konnte. Statt seiner antwortete Friederike, schwärmerisch und hastig: »Weil er für mich – nur für mich – Gabriel heißt!« – »Aha, ich verstehe«, lachte behaglich die Wirtin. »Und Sie heißen, nur für ihn, Viola.«
Genosse Konradi wurde auch mit den jungen Leuten bekannt; »sonderbar eigentlich, daß man sich noch nie begegnet ist«, bemerkte einer von ihnen. Konradi erzählte, daß er während der letzten Monate in der Schweiz gewesen sei. Übrigens war er allen sympathisch durch sein offenes, frisches und intelligentes Wesen, das, dem Ernst der Stunde entsprechend, gleichzeitig auf eine dezente Art beschattet schien. Nur der Proskauer fiel die erschreckende Härte seiner stahlblauen Augen unter den blonden, dicken Brauen auf. Sie tadelte sich aber selbst wegen des leichten Widerwillens, den sie spürte. ›Das sind unkontrollierte Affekte‹, sagte sie sich. ›Er ist sicher ein anständiger, brauchbarer Mensch.‹
In der Métro, auf der Fahrt vom Friedhof nach Montparnasse, berichtete er von seinen Abenteuern im Konzentrationslager. »Lustig war es auch manchmal!« Dabei hatte er ein trotziges kleines Auflachen, und was folgte, war eine umständliche Anekdote von der humoristischen Sorte, in der heimliches Zigarettenrauchen, die Dummheit eines SA-Führers und die schlauen Einfälle eines »jüdischen Kameraden« die Hauptrolle spielten. Jemand erkundigte sich, wann er denn ins KZ gekommen sei – worauf er munter erwiderte: »Na, doch natürlich schon im Frühling 33, ist ja Ehrensache. Mich haben die Hunde doch besonders auf dem Strich gehabt, wegen meiner Tätigkeit an den Universitäten. Hat denn keiner davon gehört, was ich da alles angestellt habe?« Jemand glaubte sich zu erinnern. Konradi kramte in seiner Brieftasche und holte Papiere hervor, die seine Einlieferung ins Konzentrationslager bestätigten. »Ein offizielles Abgangszeugnis habe ich nicht«, lachte er geheimnisvoll. Er sprach gedämpft und schickte ängstliche Blicke durch den Waggon. »Man weiß doch nie, wer einem gegenübersitzt«, raunte er, wobei er die Stahlaugen mißtrauisch zusammenkniff. »Hier in Paris wimmelt es ja von Spitzeln …«
Die Patronne des Hotels hatte das Ehepaar Korella und Monsieur David Deutsch selber nach oben geleitet. Es bedeutete einen heftigen und quälend-rührenden Eindruck für David, den Raum wiederzusehen, in dem er Martin so unzählige Male besucht hatte – das stattliche Atelier mit dem hübschen Blick aus dem großen Fenster; das komfortable Studio mit breitem Divan und eigenem Bad, das eigentlich immer über Martins Verhältnisse gewesen war und auf dem er so eigensinnig bestanden hatte.
Nun hielt sich Herr Korella über das »luxuriöse Appartement« auf, in dem sein Junge logiert hatte. »Wir sparen in Berlin mit jeder Briefmarke und jedem Trambahnbillet«, sagte der Vater gekränkt, »damit wir dem Jungen was schicken können – und er etabliert sich hier wie ein Millionär!« Dann kam Herr Korella wieder auf die hohen Begräbniskosten zurück, von denen er schon unterwegs ausführlich geredet hatte. Was ihn jedoch am allermeisten kränkte und erregte, das waren gewisse anstößige und mysteriöse Posten auf Martins Hotelrechnung. »Warum hat er denn so oft Löcher in die Bettbezüge gebrannt?« wollte Herr Korella erbittert wissen. »Immer wieder ist etwas für verbrannte Leintücher und Kissen zu bezahlen. Ich kann mir das gar nicht erklären; es sieht geradezu nach böser Absicht aus – als hätte es ihm Vergnügen gemacht, das gute weiße Zeug zu ruinieren – auf meine Kosten, natürlich!«
Für David war es ein fast körperlicher Schmerz, sich derlei anhören zu müssen. Alles an ihm zuckte; dabei gab er sich die größte Mühe, ein liebenswürdiges Gesicht zu machen. Das Lächeln aber, das er produzierte, ward immer verzerrter. Übrigens hatte er den besten Willen, innerlich nicht ungerecht gegen Martins Vater zu sein. ›Sicherlich gab es für den Alten Grund genug, sich Martins wegen Sorgen zu machen‹, dachte er. ›Martin verhielt sich dem Vater gegenüber oft merkwürdig brutal. »Der Alte ist reicher, als er zugibt; der Alte soll zahlen …« Vielleicht ist dieser Alte eher noch etwas ärmer, als er es gerne zeigen möchte …‹
Inzwischen war Herr Korella in eine Art von nervös-schimpfendem Lamentieren geraten. »Der Junge wußte eben überhaupt nicht, was das bedeutet: Geld!« rief er weinerlich. »Diese ganze sogenannte Emigration war doch nur ein ungeheurer Luxus, und ich mußte ihn zahlen! Der Junge hatte ja immer schon die fixe Idee, daß er nur in Paris leben könne – wie oft mußte ich ihm diese verrückte Bitte abschlagen: ihn nach Paris übersiedeln zu lassen! Nun, und dann kam Hitler, und unser Martin hatte endlich seinen Vorwand, zu behaupten, es sei in Deutschland nicht mehr auszuhalten! Andere haben es auch ausgehalten!« rief der Vater mit bitterer Miene. »Aber unser Martin tat sich ja immer soviel auf seine Sensibilität zugute – diese elegante Empfindsamkeit auf meine Kosten!« Herr Korella hatte sich sehr in Zorn geredet; das Weiße seiner Augäpfel färbte sich rötlich.
Hier war es die verweinte Frau Hedwig, die eingriff. Sie nahm all ihren Mut zusammen, um auszurufen: »Aber Felix! Vergiß doch nicht, wo wir sind! Hast du denn kein fühlendes Herz im Leibe?«
Der Alte, halb noch ärgerlich, halb schon beschämt und besänftigt, murrte: »Der Junge mußte ja seinen Willen immer durchsetzen. Du wirst wohl selbst zugeben, liebe Hedwig, daß es besser für ihn gewesen wäre, wenn man ihm diese sogenannte Emigration einfach verboten hätte wie einen dummen Streich.«
David, der vor qualvoller Verlegenheit völlig schief wurde – die rechte Schulter schien nach oben zu wachsen, während die linke melancholisch herabsank – schlug zitternd vor: »Es scheint mir ratsam, die Durchsicht der Papiere in Angriff zu nehmen.«
Die Schreibtischlade war nicht zugesperrt. Der Vater öffnete sie; Frau Korella griff gierig nach dem Blatt, das zuoberst lag. Aber der Gatte nahm es ihr aus der Hand. »Laß mich, bitte!« bat er streng, wobei er sich schon die Brille aufsetzte. »Ein Gedicht«, stellte er fest, beinah triumphierend, als hätte er überraschend einen kleinen Schatz entdeckt. »Es ist betitelt Sterbestunde«, sagte er, etwas mißbilligend. Dann versuchte er, die Strophen zu deklamieren, die David