Klaus Mann

Klaus Mann - Das literarische Werk


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nicht eigentlich. Einmal läßt jemand einen bösen, gereizten Ton hören: »Was du da zum besten gibst, ist kleinbürgerlicher Idealismus, jeder marxistisch geschulte Arbeiter lacht dir ins Gesicht, wenn du ihm mit so was kommst …« Aber ein anderer mischt sich versöhnlich ein: »Zankt euch nicht, haltet Frieden! Hat es denn Sinn, jetzt über Probleme, die noch nicht aktuell sind, aneinanderzugeraten? Erst müssen wir siegen!« Es ist der junge Walter Konradi, der so vorzüglichen Ratschlag erteilt. Alle schauen ihn an: Freilich, der Mann hat recht. Nur hat leider seine Stimme etwas ölig geklungen. Auch der scheinheilig sanfte und kluge Ausdruck seiner Miene wirkt plötzlich auf alle unangenehm. Man will sich aber den fatalen Eindruck nicht zugeben und versucht, möglichst schnell darüber hinwegzukommen.

      Jemand erkundigt sich: »Wo ist denn der kleine Kikjou?« Während der Debatte über die Einheitsfront und den Begriff der Freiheit ist er weggegangen – so leise, daß niemand es gemerkt hat, außer Friederike Markus. Diese berichtet es nun, mit ihrer schrillen und geborstenen Stimme, die den Klang einer schwer lädierten alten Türglocke hat.

      Kikjou irrte durch die Straßen, stundenlang. Alle Wege wollte er wieder gehen, die er mit Martin je gegangen war. Boulevard Montparnasse, Jardin du Luxembourg, Boulevard St.-Germain, Boulevard St.-Michel, und die Seine entlang, und über die Place de la Concorde, und die Grands Boulevards hinunter, und zurück, und wieder über die Place de la Concorde, und die große Strecke der Champs-Élysées: da war er schon am Zusammenbrechen. Nun mußte er eigentlich noch nach Montmartre. Aber das schaffte er nicht mehr. Und würde er denn Martin auf dem Boulevard de Clichy, auf der Place Blanche begegnen, da er ihn an all den anderen Orten vergeblich gesucht hatte? Il n’est nulle part … il n’est nulle part …

      Am Arc de Triomphe nahm sich Kikjou ein Taxi. Er wollte in dem Hotel übernachten, wo er mit Martin so viele Monate logiert hatte – so viele strahlende, finstere, unendlich bittere, unsagbar schöne Wochen lang …

      Er mußte weinen, als er die Rue Jacob wiedersah – enge, dunkle Rue Jacob. Und da war die kleine »Bar Tabac«, wo man die teuren Camel-Zigaretten gekauft und, zu unpassenden Tageszeiten, den Apéritif genommen hatte. Es ist ein Uhr morgens. Kikjou ist so müde, daß er sich kaum aufrecht halten kann. Ihm schwindelt, und die Fußsohlen brennen ihm. Er hat geklingelt und wartet darauf, daß die Haustüre aufspringt. – ›Wie oft bin ich neben Martin durch diese Türe gegangen … Il n’est nulle part …‹

      Die Patronne öffnet; sie scheint erstaunt, Monsieur Kikjou zu sehen. Gewiß, ein Zimmer ist frei, ob Monsieur kein Gepäck habe? Nein, Monsieur hat überhaupt nichts, keine Zahnbürste, kein Hemd, kein Stück Seife; er hat vergessen, wo er seinen Handkoffer gelassen hat, vielleicht auf dem Bahnhof. – Die Eltern des armen Monsieur Korella sind auch im Hotel, weiß die Patronne zu berichten. Ja, sie haben die Hotelrechnung für den armen jungen Herrn bezahlt – sehr liebenswürdige und korrekte Herrschaften! Und nach der Beerdigung, bis spät in die Nacht hinein, haben sie die Sachen und Papiere des Verblichenen aufgeräumt. Quelle histoire! Wer hätte das gedacht! Monsieur Martin war doch noch so jung! – Ob Monsieur Kikjou auf der Beerdigung war? Sie, die Patronne, hatte die feste Absicht gehabt, hinzugehen, schon um den Eltern, die sich so korrekt in finanziellen Dingen benahmen, ihren Respekt zu beweisen. Aber dieses Wetter! – und sie war erkältet; gerade auf Beerdigungen konnte man sich so leicht den Tod holen.

      Kikjou nickte gequält. Danke, er hatte nun keine Wünsche mehr. Es war ziemlich kalt im Zimmer, aber das ließ sich nicht ändern. Er überlegte, ob er den Versuch machen sollte, Martins Eltern noch ein paar Minuten zu sehen und sich von ihnen zu verabschieden. Aber wahrscheinlich schliefen die schon. Übrigens erinnerte er sich auch der eisigen Blicke, mit denen Herr Korella an ihm vorbeigesehen hatte.

      Er sank angezogen aufs Bett. Ob Martins Eltern im Zimmer ihres Sohnes wohnten – ›In unserem Atelier … Ich will jedenfalls morgen früh gleich hinaufgehen‹, beschloß er. ›Wahrscheinlich sind auch noch irgendwelche Sachen von mir dort …‹

      Kikjou dachte an die Gespräche von Martins Freunden in der »Schwalbe«.

      Wie heftig sie sich bemühten, all diese Menschen, von denen einige Kikjou nie besonders sympathisch gewesen waren! Wenn man von außen, als ein Fremder, Unbeteiligter, in ihren Kreis trat, wirkte der ungeheure Ernst, die Aufgeregtheit, mit der sie ihre theoretischen Gespräche führten, fast etwas komisch. – ›Nein, nicht komisch‹ – Kikjou nahm innerlich diesen lieblosen Ausdruck gleich zurück – ›aber rührend wirkt ihr gespannter Eifer. Sie streiten sich darüber, welches Maß von Freiheit der Opposition zu gewähren sein wird, wenn »der Tag« erst da ist – welcher Tag? Nun, der Tag des Umsturzes, auf den sie warten; der Tag der großen Veränderung …

      An den hat auch Martin geglaubt, von ganzem Herzen. Aber er war zu müde, zu hochmütig und zu traurig, um ihn abzuwarten. Er hatte es eilig, sich davonzumachen …

      Für die anderen aber, für die, welche geduldig genug sind, auszuharren und wohl auch zu kämpfen – wird es wirklich ein so großartiger Tag sein, wenn er dann schließlich kommt? Wird er dann einen so schönen Trost, eine so herrliche Erlösung bringen?

      Für den Augenblick scheinen diese Menschen gründlich ausgespielt zu haben; wie nach einem verlorenen Kampf liegen sie auf der Erde. Hilfe für sie scheint es jetzt nicht zu geben; von der Welt bekommen sie keine, und die Hilfe des Höchsten nehmen sie nicht in Anspruch. Sie beten nicht. Sie behaupten, nicht an Gott zu glauben … Wie schwer es sein muß, nicht an Gott zu glauben! Sein Dasein ist evident. Es zeugt die ganze Schöpfung für Seine gewaltige Existenz … Vielleicht ist Gott aber bei ihnen, obwohl sie sich darin gefallen, Ihn zu leugnen. Man weiß ja nie, wem Er gerade den Blick Seiner Gunst oder Seines Zornes zuwendet …

      Sie erkundigen sich wohl spöttisch bei mir, wie mein lieber Gott eigentlich aussehe; ob er einen langen weißen Bart habe. Dann sitze ich da als der Dumme. Natürlich hat er keinen langen weißen Bart. Er ist ja furchtbar schwer zu beschreiben. Es ist schon heikel genug, jemandem eine unbekannte Person zu schildern und halbwegs anschaulich zu machen. Meistens kommt etwas total Falsches dabei heraus, wenn man das unternimmt. Jede Individualität ist tausendfach zusammengesetzt, ihr eigentliches Wesen ist mit Worten kaum anzudeuten. Und nun erst der liebe Gott! Er hat so ungeheuer viele Eigenschaften! Er hat unendlich zahlreiche Charakterzüge: alle Adjektive, alle beschreibenden Worte aller Idiome passen auf Ihn. Denn Er ist beladen mit allen Tugenden und Lastern, Schönheiten und Monstrositäten, allen reizenden, fürchterlichen, komischen und erhabenen Zügen, die wir uns irgend ausdenken können. Und wenn wir uns alle ausgedacht und zusammengestellt haben, dann ist es uns immer noch nicht gelungen, den ersten Schleier von den unendlich vielen Verhüllungen zu lüften, hinter denen Er Sein Angesicht verbirgt. Aber das mit den Schleiern ist natürlich auch wieder eine façon de parler und ein sprachlicher Notbehelf; denn Sein Gesicht ist nicht nur das verhüllteste, sondern auch das nackteste – und Er ist nicht nur der Geheimnisvollste, sondern auch der Klarste, Einfachste. Seine Existenz ist nicht nur das Mysterium aller Mysterien; es ist auch das Selbstverständlichste vom Selbstverständlichen. – Wie Gott ist? Was Gott ist? Wo Gott ist? Kindische Fragerei! Gott ist – da gibt es nichts zu beweisen oder zu untersuchen. Er ist der Ausgangspunkt und das Ziel; das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige. Alles, was wir tun oder lassen, tun oder lassen wir nach Seinem Plan. Auch die, die Ihn leugnen, streben auf Ihn zu. Andererseits gibt es viele, die Seinen Namen oft im Munde führen und Ihm doch ein Ärgernis sind. Es ist ja erstaunlich, daß überhaupt Dinge in der Schöpfung vorkommen dürfen, die Ihm zum Ärgernis werden, da Er doch mit Seiner Schöpfung identisch ist oder die Schöpfung einen Teil Seines Wesens ausmacht. Aber dies ist, höchst rätselhafterweise, eben doch möglich. Vielleicht haben wir es uns ungefähr so vorzustellen, daß Er, in solchen Fällen, Anstoß an eigenen Charakterzügen nimmt. Eine so enorm vielfältige und komplexe Individualität wie Gott hat natürlich auch grausame, selbstsüchtige, tückische und selbst ordinäre Züge – die Er in sich bekämpft …

      Die ganze Frage, wie das Böse in die Schöpfung und besonders in den Menschen kommt, obwohl Gott doch sicherlich in Seiner eigenen Schöpfung steckt – diese Frage könnte uns ungeheuer weit führen. Keinesfalls dürfte es von Gott so gemeint sein, daß wir uns durch diese Frage ablenken sollten lassen von einem sehr notwendigen Kampf gegen das Böse.

      Da