Sie lächelte nachsichtig, als hätte sie ihre Kinder bei einer harmlosen Marotte, einem oft verwehrten, wenngleich keineswegs bösartigen oder gefährlichen Unfug ertappt. Dabei gab es keinen Gegenstand, über den die brave Frau ihrerseits derartig viel zu reden und zu klagen, zu grübeln und zu lamentieren, zu jubeln und zu schelten wußte wie über diesen. »Wir haben über Spanien geredet«, versetzte jemand am Tisch. »Aber das hat auch mit Deutschland zu tun.«
Sie aßen, die meisten von ihnen mit einem heftigen Appetit; nur Kikjou rührte nichts an, und Frau Markus verschlang zwar mit nervöser Gier ein paar Bissen, schob dann aber den Teller von sich, wobei sie angewidert den Mund verzog. Sie aßen, und während sie Kartoffeln, Gemüse und gebratenes Fleisch zum Munde führten – längst nicht täglich gab es solchen Schmaus, und dieser war obendrein gratis – während sie sich also genußvoll sättigten, kreisten ihre Reden um die Heimat. Alle durcheinander äußerten sie ihre Hoffnungen und Befürchtungen, ihre Gefühle, Berechnungen und Forderungen, die Gegenwart wie die Zukunft betreffend. Jeder hatte etwas Besonderes beizusteuern zu dem ewig erregenden, höchst komplexen Thema. Dem einen waren gerade gestern sehr bedeutsame Mitteilungen über die Stimmung bei den Industriearbeitern im Ruhrgebiet zugekommen; der andere hatte die Cousine eines Diplomaten getroffen, der seinerseits den französischen Botschafter in Berlin kannte und diesen eingeweihten Herrn unlängst ausführlich gesprochen hatte. »Eines steht fest«, wurde behauptet, »die Unzufriedenheit nimmt überall zu, besonders bei den Arbeitern, auf die es schließlich ankommt.« – »Beinah Hungersnot, mitten im Frieden!« ließ ein anderer sich hören. »Auf die Dauer kann keine Regierung das aushalten.« Und ein Dritter: »Die ganze Schweinerei ist innerlich morsch, unterhöhlt, reif zum Sturz – da kann keine Frage sein. Aber niemand weiß, was nachfolgen soll. Den Nazis ist es gelungen, den Deutschen und der ganzen Welt einzureden, daß nach Hitler ›das Chaos‹ hereinbrechen wird.« Bei dem Wort »Chaos« wurde allgemein gelacht. Nur Friederike und Kikjou, eingesponnen in eigene und andere Gedanken, waren es, die ernst blieben. Die Schwalben-Mutter, die sich zu ihren Gästen gesetzt hatte, rief – nun schon ganz bei der Sache, enthusiasmiert wie je: »Freilich, das Entscheidende ist: daß die aktive Opposition es ganz genau weiß und unzweideutig formuliert – was nachher kommen soll!«
Der junge Holländer, der aß, wie ein Knecht nach der Arbeit eines langen Tages zu Abend ißt, nickte leidenschaftlich. Alle bewegten mit ihm die Köpfe. Sogar Friederike und der kleine Kikjou schienen plötzlich beteiligt. Kikjou ließ die vielfarbigen Augen gleichsam flehend von einem zum anderen wandern, als erbäte er Auskunft: Sagt es mir, was nachher kommen soll!
Hier war es, das große Problem, die dringlichste Frage, mit der ihre Gedanken und ihr Herz so tief beschäftigt waren. Was soll kommen nach dem Sturz des verhaßten Regimes? Wie wollen wir Deutschland?
Da saßen sie, in ihrem etwas schmutzigen kleinen Lokal; mitten in dieser großen, mit allen Reizen reich begnadeten Stadt – und doch weiter von Paris entfernt als vom Monde. Denn für sie war Paris versunken, ins Nichts gestürzt, samt seinen Avenuen und Quais, den Boulevards, Brunnen, Kirchen und Palästen. Was ging all diese Schönheit sie an? Sie wußten beinah nichts von den fremden Lieblichkeiten. Sie saßen in ihrer Kneipe, nahe der Gare de Montparnasse, dem »Café du Dôme«; nicht weit entfernt vom Jardin du Luxembourg, dem Panthéon, dem Dôme des Invalides – unbeteiligt am belebten Treiben auf diesen Bahnhöfen, diesen Straßen, und übrigens ziemlich unwissend in der Historie dieser Baulichkeiten, in denen Frankreichs Ruhm sich versammelt. Um sie hätten auch die Wolkenkratzer von New York sich in den Himmel heben oder eine südliche Landschaft sich freundlich breiten können: diese Menschen würden immer die gleichen Gedanken im Kopfe haben und immer denselben faszinierten, verzauberten Blick auf die Eine Frage, das Eine Thema:
Wie wollen wir Deutschland?
Und wie erreichen wir, daß es so wird, wie wir es wollen?
»O Deutschland, bleiche Mutter …« hatte einer ihrer Dichter geklagt.
O Deutschland, bleiche Mutter …
Alle hier im Kreise wollen die große Veränderung der sozialen Struktur, der Besitzverhältnisse – da gibt es kaum eine Meinungsverschiedenheit. Aufteilung des Großgrundbesitzes, Sozialisierung der Schwerindustrie – es muß kommen, so rufen sie sich zu, es kann nicht ausbleiben, da es notwendig ist. Übrigens wird mit einem bösen und ironischen Triumph festgestellt, daß die Nazis selber, durch die kriegswirtschaftliche Staatskontrolle der Produktion, den Sozialismus, gegen ihren eigenen Willen, vorbereiten. »Wenn wir heimkehren«, erklärt einer von ihnen, »werden wir manches schon fast in unserem Sinne eingerichtet finden. Man wird nur gleichsam die Vorzeichen umkehren müssen, damit die Sache stimmt und ins richtige Geleise kommt.«
Es wird Gewalt nötig sein, da ist gar keine Frage. Die jetzt so schamlos herrschende Schicht tritt keineswegs freiwillig ab; man darf Blutvergießen nicht scheuen. »Ihr werdet ein paar Dutzend an die Wand stellen müssen!« Der junge Holländer ruft es aus, es klingt wie ein Kriegsschrei. »Oder ein paar hundert!« korrigiert ihn ein anderer. »Ich könnte dir leicht ein paar hundert aufzählen, die weg müssen.« Sanft wird es keinesfalls zugehen können, wenn die Schuldbeladenen zur Hölle geschickt werden – wo sie hingehören. Keiner in diesem Kreise verlangt oder hofft, daß man Sanftheit walten lasse.
Und wenn die großen Mörder erst abgetreten und weggefegt sind – die regierenden Kriminellen, die man heute so machtlos haßt: wird dann die »Freiheit« zu etablieren sein oder eine neue Diktatur – die Diktatur der revolutionären Sieger? Ein junger Mensch, der den Kommunisten immer ferngestanden hat, aber heute für die politische Zusammenarbeit mit ihnen ist, fragt einen anderen, der seinerseits seit Jahren zur »Partei« gehört: »Ihr erklärt jetzt, daß es die Demokratie ist, für die ihr kämpft. Wollt ihr sie wirklich? In Manifesten setzt ihr euch ein für die Pressefreiheit. Werdet ihr sie dulden?« Statt des jungen Kommunisten, der noch bedenkt, was er zu antworten hat, rief das Meisje: »Werden wir sie ganz dulden können? Soll der neue Staat sich wieder begeifern und beschimpfen lassen, wie die Weimarer Republik höchst unseliger Weise dies geduldet hat? Unsere neue, echte Demokratie muß vor allem eine Eigenschaft haben, die der vorigen, falschen fehlte: Selbsterhaltungstrieb. Ihren geschworenen Feinden muß sie zeigen und beweisen, daß sie ausgespielt haben. Es wird in Deutschland immer geschworene Feinde der Demokratie geben.«
Der erste: »Eine Demokratie, die irgend jemandem das Wort verbietet, ihn in seiner Meinungs- und Redefreiheit beschränkt, verdient den Namen nicht mehr, den sie sich selber gibt.«
Und das Mädchen: »Eine autoritative Demokratie muß möglich sein. Die Demokratie, die nicht mehr mit sich spaßen läßt, bedeutet noch nicht den ›totalen Staat‹, noch nicht die Diktatur.«
Andere vertreten mit Emphase die Meinung: Für eine Periode des Übergangs sei die Diktatur unvermeidlich. Die reaktionären, selbstsüchtigen, dem sozialen Fortschritt feindlich gesinnten Kräfte würden jede Freiheit ausnutzen, mißbrauchen in ihrem Interesse – was bedeutet: zum Schaden der Allgemeinheit.
Es ist der junge Kommunist, der erklärt: »Das deutsche Volk wird selber zu entscheiden haben über die Regierungsform, die es sich geben will, wenn die Tyrannen endlich abgetreten sind. Es ist nicht anzunehmen, daß dann noch viel Sympathien und Stimmen da sein werden für die Mächte, Gruppen und Personen, die jetzt das Land zur Katastrophe treiben. Wir müssen darauf vertrauen, daß die Deutschen, nach den fürchterlichen Erfahrungen, durch die sie jetzt gehen, mehr politischen Instinkt haben werden als 1918 … Wir brauchen und wollen die Demokratie – und sei es nur als ein Übergangsstadium. Unter Demokratie verstehen wir aber: die Zusammenarbeit aller antifaschistischen Kräfte. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen muß antifaschistisch sein, wenn unser Tag da ist.«
Großes, wirres, tief erregtes Gespräch. Die Begriffe fliegen durcheinander, sie kreuzen sich in der Luft, die mit dem Zigarettenrauch und dem Geruch der Mahlzeit gesättigt ist. Der Wert der Freiheit wird diskutiert und die Planwirtschaft; der Begriff der Nation, der Klassenkampf, die Stellung der Kirche. Wird ein Krieg nötig sein, damit das Regime stürze? Und wie werden die verschiedenen Mächte sich verhalten im Falle des Krieges? Was erwartet man von den Vereinigten Staaten? Was geht in London vor? Und was wird aus Österreich …? Die Mienen röten sich, auf den Tisch schlagen Fäuste. – Wie wollen wir Deutschland