liest – er hat nicht die entfernteste Ahnung, was sie bedeuten. Er hat keine Ahnung … Was weiß er von seinem Sohn? Und was wußte Martin von ihm? Er wäre so leicht zu gewinnen gewesen, dieser arme Vater. Aber was lag Martin daran? Er war hochmütig. Wieviel Mißverständnisse! Wieviel Traurigkeiten!‹
Plötzlich ließ Frau Korella einen leisen Schrei hören. Sie hatte auf dem Nachttisch Martins Injektionsspritze entdeckt. Das Instrument sah verwahrlost aus. Das kleine Messingetui blitzte nicht mehr, sondern hatte häßliche grüne Flecken angesetzt. »Was ist das?« fragte Herr Korella mißtrauisch, mit gerunzelter Stirne, während er, die Papiere in der Hand, herbeitrat. Aber Frau Hedwig schluchzte nur: »O Gott … mein Gott …«
Das alte Ehepaar und David Deutsch standen nun dicht nebeneinander. Ihre betrübten Stirnen berührten sich fast über dem rostigen kleinen Gegenstand, dem ihr lieber Martin soviel Trost und Wonne zu verdanken hatte, auch soviel Qualen, und schließlich, nach allen Entzückungen, allen Martern, den Untergang.
Als die kleine Trauergesellschaft – Frau Schwalbe mit ihren Stammgästen, samt Kikjou, Friederike Markus und Walter Konradi – im Lokal eintraf, fand sie dort schon eine andere Gruppe vor: etwa fünf oder sechs Menschen, lauter Deutsche, die sich im Kreis um einen jungen Holländer gruppiert hatten. Sie kannten ihn alle, er hatte ein paar gute Bücher geschrieben; aber seit einigen Monaten schrieb er nicht mehr, sondern kämpfte an der spanischen Front. Vor ein paar Tagen war er im Flugzeug, über Barcelona, in Paris angekommen. Es schien, daß er einen politischen Auftrag hier zu erledigen hatte, den streng geheimzuhalten er verpflichtet war. Gleich am ersten Tage seines kurzen Pariser Aufenthaltes war er hierher gekommen, um Grüße auszurichten von deutschen Freunden, mit denen er dort unten zusammen gewesen war. Alle lauschten andächtig, wenn dieser junge Holländer sprach. Um sein Haupt gab es etwas wie eine Gloriole; er würde ja schon morgen oder übermorgen an die Front zurückkehren, wo sich so Großes entschied. Übrigens war der junge Mann, seit etlichen Tagen, streng und juristisch betrachtet, eigentlich gar kein Holländer mehr. Er hatte seine Zugehörigkeit zum Niederländischen Staatsverband verloren; er war »ausgebürgert«: so geschah es, nach dem Gesetze der holländischen Monarchie, jedem, der sich der Armee einer fremden Macht zur Verfügung stellt. Er war ein Vaterlandsloser, ein »Sans-Patrie«, wie auch jene, an die er sich nun so enthusiastisch wendete.
»Wenn wir da unten siegen!« rief er gerade aus, als die Gesellschaft vom Friedhof das Lokal betrat. »Wenn wir mit der Bande erst fertig geworden sind – das gibt ein Fest!! Ganz Madrid wird tanzen – was sage ich: ganz Spanien wird in einen Freudentaumel fallen – und die Spanier können sich freuen, die verstehen es!! Da wird es Blumen regnen, und Wein wird in Strömen da sein, und überall Blumen … Überall Blumen«, wiederholte er und schaute vor sich hin auf das beschmutzte Holz der Tischplatte, mit einem Blick, als sähe er all die Blüten, mit denen die Straßen und Plätze von Madrid sich schmücken würden – »wenn wir da unten gesiegt haben.«
Auf den ersten Blick sah er aus wie ein flämischer Bauernbursche, mit seinem langen, starkknochigen, kräftig gebräunten Gesicht, dessen untere Hälfte von dicken Bartstoppeln bedeckt war und über dem das dichte, dunkle Haar recht verwildert stand. Erst beim genaueren Hinschauen war festzustellen, daß dies Antlitz doch nicht dem eines gewöhnlichen Burschen vom Lande glich; es gab in ihm jene Zeichen und Male, die nur der Geist einem Menschengesicht aufprägt. Die tief eingeschnittenen Furchen, die von den Nasenflügeln zu den Winkeln eines breiten, sinnlichen Mundes laufen, verraten, daß dieser Mann älter ist, als er zunächst erscheint. Auch über die Stirn sind Falten gezogen, die eine lange Geschichte, die große Chronik vieler Abenteuer erzählen möchten.
Sein Enthusiasmus hatte angesteckt: alle lachten, da seine beinah frevlerische Siegesgewißheit den Festesglanz der Stadt Madrid beschwor. Die Gesichter wurden aber ernst beim Eintritt der Schwalben-Mutter und der jungen Leute. Man wußte, von welchem Ort und von welch melancholischer Veranstaltung sie kamen. Es gab herzliches Händeschütteln; bewegte Blicke wurden getauscht. Mutter Schwalbe machte den jungen Holländer mit Kikjou, der Markus und Walter Konradi bekannt. Dann band sie sich eine große weiße Schürze um und verschwand in der Küche. Sie wollte etwas Anständiges kochen – wie sie vielversprechend versicherte. »Und heute soll es nichts kosten!« – Sie hatte schon wieder die unvermeidliche Zigarre zwischen den Zähnen. Mutter Schwalbe kochte meistens mit der Zigarre im Mund.
Der junge Holländer – in dessen sehr lebhaftem und geschwind vorgetragenem Deutsch der niederländische Akzent kaum spürbar war – erzählte schon wieder von Spanien. Sein Publikum hatte sich vergrößert; die Gruppe, die gerade vom Friedhof kam, lauschte ihm mit derselben gespannten Anteilnahme wie die anderen, die schon vorher im Lokal gewesen waren. »Es gibt ja soviel Wunderbares von da unten zu berichten!« Der Bursche, in seiner rauhen Lederjacke, hatte Haltung und Mimik des Seefahrers, der, aus weit entfernten Ländern zurückkommend, den Daheimgebliebenen, die Mund und Augen aufsperren, von den wilden, schönen Abenteuern meldet, die hinter ihm liegen. – »Ich habe soviel echtes Heldentum gesehen, bei den spanischen Kameraden und bei denen von den Internationalen Brigaden! Ich bin Zeuge von soviel rührenden, einfachen und großen Taten gewesen, daß ich jetzt nie mehr ganz am Menschen verzweifeln kann, was auch immer geschehe. – Was auch immer geschehe!« wiederholte der junge Holländer, wobei er mit der Faust beinah zornig auf den Tisch schlug – und es leuchteten ihm die Augen. – »Da war zum Beispiel dieser Bursche aus Valencia – achtzehn Jahre war er alt, fast noch ein Kind – der in der Ciudad Universitaria einen verwundeten französischen Kameraden aus dem dichtesten Feuer holte. Er wurde selber ziemlich arg dabei zugerichtet, und als er, den halbtoten Franzosen in den Armen, keuchend auf dem Verbandsplatz ankam, brach er zusammen. Ein paar Leute eilten ihm zu Hilfe – und ich sehe noch, wie der Junge lächelte, als er hervorbrachte: ›Blessure, nada. Frère français sauvé.‹«
Der junge Holländer schaute sich strahlend im Kreise um. Alle schienen gerührt und begeistert. Nur das »Meisje« – die schöne Blonde mit dem Gesicht eines militanten Erzengels – schüttelte ein wenig den Kopf, während sie leise, mehr zu sich selber als zu den anderen, sagte: »Es kommt mir oft sonderbar vor … Ich erinnere mich doch noch ganz genau, wie bei uns zu Hause ähnliche Geschichten erzählt worden sind, während des Weltkrieges. Mein Vater und alle Erwachsenen fanden sie wunderbar, und auch wir sollten begeistert sein. Aber wir lernten diese Geschichten hassen, als wir anfingen, selbständig denken zu können. Denn wir lernten den Krieg hassen. Revolutionär wurden wir gerade aus Abscheu vorm Krieg …« Die Blonde verstummte nachdenklich.
»Aus Abscheu vorm imperialistischen Krieg!« rief ihr jemand vom anderen Ende des Tisches zu. »Diesmal handelt es sich um den großen Befreiungskampf, um die heroische Abwehr des faschistischen Überfalls …«
»Das weiß ich doch selber«, sagte das Meisje, dessen schönes, sinnend in die Hand gestütztes Gesicht plötzlich müde aussah. »Du brauchst hier nicht zu reden wie in einem Massenmeeting … Aber sonderbar ist es doch«, schloß sie, nach einer Pause, mit sanfter Hartnäckigkeit. »Unter neuen Voraussetzungen müssen wir plötzlich alles herrlich finden, was wir damals, 1917 und 1918, grauenhaft gefunden haben …«
Der junge Holländer – der die Betrachtung des Mädchens gar nicht gehört hatte oder nicht hatte hören wollen – war schon bei neuen heroischen Anekdoten. »Aller Enthusiasmus ist auf unserer Seite«, erklärte er. »Die besseren Menschen sind auf unserer Seite. Wenn diese Rebellen nicht von Deutschland und Italien offen gestützt würden, wären sie längst schon fertig. Und wir werden sie fertigmachen, trotz all den Flugzeugen und Bomben und all dem vielen Geld, das sie bekommen.«
Man sprach weiter über die Sieges-Chancen. Die meisten in der Runde äußerten sich optimistisch. Einige ließen auch Befürchtungen hören. Plötzlich sagte die Proskauer, mit ihrer sonor murmelnden Stimme: »Und Martin soll also nicht mehr erfahren, wie dieser große Kampf ausgehen wird … Es ist so schwer, sich daran zu gewöhnen …«
Alle schwiegen. Kikjou, der stumm und ein wenig zitternd, als friere er, in eine Ecke gekauert saß, legte die kindlichen, mageren Hände vor sein weißes Gesicht. Walter Konradi räusperte sich respektvoll, als wollte er ausdrücken: Ein Gesinnungsgenosse, viel zu früh verschieden, hier im Kreise allgemein beliebt gewesen, gewiß sehr traurig, sehr bedauerlich, drücke werten Hinterbliebenen meine Teilnahme