Klaus Mann

Klaus Mann - Das literarische Werk


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beinah keine Hoffnung mehr für Ihren Freund«, erklärte er David.

      Ließe nur Kikjous Adresse sich feststellen! Aber Kikjou scheint vom Erdboden verschwunden, niemand weiß, wo er sich aufhält. Martin fragt manchmal nach ihm – nicht sehr oft; aber doch mit einer Dringlichkeit, einer Gier, die zu verbergen er sich nicht mehr die Mühe nimmt oder nicht mehr fähig ist. »Hast du nichts von Kikjou gehört?« – »Doch, er ist in Lausanne, bei seinen Verwandten, er hat eine recht unangenehme Grippe, sowie es ihm besser geht, wird er kommen.« David Deutsch ist so erfinderisch geworden, es fällt ihm so vieles ein, um Martin nur die schlimme Wahrheit zu ersparen: daß Kikjou völlig unauffindbar ist; daß er sich ganz und gar von Martin und von allen, die mit Martin zusammenhängen, zurückgezogen hat. – »So, so, eine Grippe«, sagt Martin, der es zu glauben scheint. »Armer Kikjou, er hat immer Pech. Aber warum schreibt er denn nicht? Das könnte er doch wirklich mal tun.« – »Er hat mir eine Karte geschrieben«, erzählt David flink. »Er läßt dich schön grüßen, und er verspricht dir einen langen, netten Brief.« – »Das ist brav von ihm.« Martin lächelt matt und froh zur Decke hinauf. »Wenn ich mit Mama in der Schweiz bin, soll er mitkommen; dafür wird das Geld meines alten Herrn schon noch langen …«

      Kikjou hält sich rätselhaft verborgen. Marion reist wohl gerade durch die Böhmischen Bäder. Marcel ist in Spanien. Keiner von den nächsten Freunden ist da. Nur aus der »Schwalbe« spricht ab und zu jemand vor: das Meisje oder die Proskauer. Einmal erscheint sogar die Frau Wirtin selbst: energisch, von etwas polternder Munterkeit, dabei gemütvoll – und David kann sie nur mit Mühe daran hindern, sich im Krankenzimmer ihre dicke, kurze Zigarre anzuzünden. »Aber es würde doch gar nichts schaden«, meint Martin mit einer Stimme, die so schwach geworden ist. – Es ist gerade während der kurzen Zeit, da sein Zustand sich zu bessern und das Schlimmste überstanden zu sein scheint. »Ich könnte ja auch selber mal wieder eine Zigarette rauchen … David, hast du keine Chesterfield da?« – »Der Junge ist richtig!« ruft die aufgeräumte Schwalbe und kratzt sich mit Behagen das kurze, borstige, graue Haar. Aber ein bittender, fast drohender Blick Davids bestimmt sie dazu, auf ihre Zigarre dieses Mal zu verzichten.

      Da Martins Befinden sich noch einmal verschlimmert, telegraphiert David an Frau Korella, Nürnberger Straße, Berlin – und sechsunddreißig Stunden später trifft die Mutter ein. »Ich wäre ja noch schneller gekommen«, entschuldigt sie sich, gleich auf dem Bahnhof, bei David Deutsch, der sie abgeholt hat. »Aber ich mußte mir erst ein französisches Visum besorgen, das ist alles so umständlich heutzutage.«

      Frau Korella bittet immer um Entschuldigung; sie wirkt, als wolle sie beständig um Pardon ersuchen für die simple Tatsache ihrer Existenz. Herr Korella sagt es ihr oft: »Du mußt mehr Selbstbewußtsein zeigen, Hedwig. Nur mit Selbstbewußtsein kommt man durch diese harte Zeit.« Aber weder ihr Junge, Martin, noch ihr Gatte haben durch das Benehmen, das sie ihr gegenüber an den Tag legen, dazu beigetragen, Frau Hedwigs innere Sicherheit zu kräftigen und zu stützen.

      Frau Korella sieht stets verweint aus, sie hat immer etwas verschwollene und gerötete Augenlider. Jetzt erscheint ihr Gesicht ganz verwüstet von wahren Exzessen des Schluchzens; sie hat während der ganzen Reise, vom Bahnhof Zoo, Berlin, bis zu der Pariser Gare du Nord, ohne jede Unterbrechung geschluchzt. Die Tränen haben ihre Züge aufgelöst, sie haben sie weggewaschen, wie ein nasser Schwamm die Kreideschrift von einer schwarzen Tafel wäscht. »Aber er lebt noch?« ruft flehend die Mutter, und sie klammert sich mit einem Griff, der überraschend hart und heftig ist, an Davids Arm. – »Er lebt noch«, bestätigt der junge Deutsch, mit einer Stimme, die Frau Hedwig keine Zweifel darüber läßt, daß ihr Sohn nur noch eine kurze Zeit, vielleicht nur noch Stunden wird atmen dürfen.

      Die Mutter besteht darauf, sofort ins Hospital zu fahren, obwohl David sie dringend dazu auffordert, sich erst im Hotel etwas auszuruhen. »Es gibt keine unmittelbare Gefahr für den Augenblick«, versichert er ihr. Aber die Verweinte bleibt hartnäckig: »Ich will keine Minute verlieren. Gleich muß ich ihn sehen …«

      Martin ist gar nicht besonders erstaunt, daß die Mutter plötzlich vor ihm steht. »Bist du auch einmal nach Paris gekommen, Mama?« ist alles, was er sagt, und er lächelt, während er ihr seine schrecklich mager gewordene Hand hinhält. Wie sie glüht, wie heiß und trocken sie ist, die arme schöne Hand ihres Sohnes! Frau Korella muß sich ungeheuer beherrschen, um nicht schon wieder in Tränen auszubrechen. Sie nimmt alle Kräfte zusammen, und ihr Gesicht bekommt einen harmlos-ruhigen, fast vergnügten Ausdruck. Mit einer Stimme, die wirklich beinah unbefangen klingt, sagt Frau Korella: »Ich wollte doch einmal nach meinem alten Jungen sehen – ob er mir in Paris auch keine Dummheiten macht.« Martin geht ein auf das Spiel; er spielt es weiter; er flüstert: »Du siehst doch, ich bin ganz brav …« – Seit einigen Tagen ist er nicht rasiert worden; ein blonder Bart – der auf der Oberlippe nicht mehr wächst – rahmt seine sanfte, strahlend bleiche Miene. ›So sind junge Märtyrer auf Heiligenbildern dargestellt‹, denkt stolz die Mutter. ›Was muß er alles durchgemacht haben, daß er so schön werden konnte!‹

      Eine halbe Stunde lang unterhält Martin sich bei ganz klarem Bewußtsein, fast angeregt, mit seiner lieben Mama. Mühsam flüsternd erkundigt er sich nach allerlei: »Wie sieht es denn aus in Berlin? – Ich kann es mir schon gar nicht mehr vorstellen … Überhaupt«, fällt ihm plötzlich ein, »ich weiß ja gar nicht mehr, was los ist; seit Wochen habe ich keine Zeitungen gesehen. Warum bringt man mir eigentlich keine Zeitungen mehr?« fragt er mit einer gewissen Gereiztheit. David Deutsch lächelt um Verzeihung bittend, wobei er sich seitwärts verneigt. Aber Martin winkt schon wieder ab: »Du hast ja ganz recht. Was soll ich mit Zeitungen? Steht ja doch immer nur derselbe Schwindel drin. – In Deutschland wird es nie mehr besser werden … Du kannst froh sein, daß du jetzt in Paris bist, Mama … Paris ist sehr hübsch, bist du denn schon auf der Place de la Concorde gewesen? Eine großartige Sache … Ich werde dich nächstens mal hinführen …« – »Ja, ja«, sagt die Mutter, »du wirst mich nächstens mal hinführen.«

      Martin verstummt, Schleier scheinen sich vor seine Augen zu senken, ihr Blick gleitet ab ins Leere. Nach einer langen Pause sagt er noch: »Früher konnte es in Berlin sehr nett sein … Reizend … Warum bin ich eigentlich so lang nicht dort gewesen? Zu dumm, so lang von zu Hause fort sein … Ich möchte Kikjou einmal Berlin zeigen … Wo ist Kikjou?!« schreit er plötzlich. »Ich will Kikjou suchen! Ich muß nach Berlin, mit dem kleinen Kikjou!!« Er wirft die Decken von sich, David muß ihn halten, damit er nicht aus dem Bette springt. Die Mutter legt die Arme um seinen Hals. Er wird ruhiger. »Kikjou glaubt an Gott«, erzählt er der Mutter, die gar nicht weiß, wer das Wesen, das diesen sonderbaren Namen – Kikjou – trägt, eigentlich ist. »Er glaubt ganz fest an Gott, an die Erzengel und an alle Heiligen … Kikjou hat jetzt Grippe, ich weiß, deshalb kann er nicht hier sein. Aber sowie er wieder gesund ist und mich wieder besuchen kommt, muß ich alle diese Dinge ausführlich mit ihm besprechen, alle diese Dinge vom lieben Gott …«

      Es dauerte noch mehrere Stunden lang. Der Kranke kam nicht mehr zu einem klaren Bewußtsein. Er phantasierte ohne Unterbrechung. Seine wirren Reden kreisten um Kikjou und den lieben Gott; auch gewisse Verse des verruchten Lieblingsdichters kamen vor. Einmal schrie er: »Kikjou hat den lieben Gott entdeckt – eine enorme Entdeckung! Aber ich stehe nicht in Gunst bei Ihm. Kein Lichtstrahl trifft mich aus Seinen großen, schönen, fürchterlichen Augen. Ich gehe. Ich gehe ja schon … Wenn du die Mythen und Worte entleert hast, sollst du gehen … Niemand wird weinen, wenn du verschwunden bist … Der liebe Gott, den Kikjou entdeckt hat, kennt keine Tränen …«

      Der letzte Kampf war sehr schwer. Martin saß starr aufgerichtet im Bett, mit gereckten Armen. Er bewegte die Arme – nach was griff er denn? Wen wollte er denn berühren? Erschauernd fiel die Mutter über sein Lager. Ihr graute; denn Martin, ihr armer Sohn, ward geschüttelt von Fäusten, die unsichtbar sind. Auch schien es ihr, daß er strahlte. Von seinem Gesicht, das gleich erstarren würde – die Mutter wußte es: nun würde sein Gesicht gleich erstarren – kam Glanz. Um sein immer noch aufgerichtetes Haupt, so schien ihr, zuckte ein Glorienschein wie von Blitzen, ein elektrisches Diadem, eine tödliche Krone.

      Die feurige Zierde um seine Stirn erlosch, seine Hände sanken: sei es, weil sie nun berührt hatten, was zu berühren sie so gierig gewesen; sei es, weil sie es für immer unerreichbar gefunden