Klaus Mann

Klaus Mann - Das literarische Werk


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Du bist kaum erstaunt, da du den Engel gewahrst.

      Er steht hinter dir und bewegt unruhig die Flügel, wodurch das metallische Klirren verursacht wird. Es ist wie ein nervöser Tick; dabei aber sehr großartig. Der Engel muß die großen Flügel regen, als käme er sonst aus der Übung und würde das Fliegen verlernen – ganz ähnlich wie ein Rekordschwimmer oder Radfahrer, der auch aus der Form geriete, wenn er nicht immer trainierte.

      Dies ist das Wunder – da du am wenigsten mit ihm gerechnet hattest, ist es plötzlich da. Du empfindest kaum, daß es ein Wunder ist. Ein Engel ist an dich herangetreten, daran kann kein Zweifel sein. Wenn es nicht das Flügelpaar an seinen Schultern bezeugte, so verriete es sein ungeheurer, lächelnder Blick und der sehr besondere Geruch, den er ausströmt – ein Geruch nach Mandelblüten und einem feinen Benzin. Ja, es muß eine Benzinsorte geben, von so erlesener Qualität wie das kräftig-zarte Parfüm dieses Engels. Seine glanzumflossene Figur läßt, auf geheimnisvolle Weise, an ein starkes, elegantes Fahrzeug denken – an ein schnittiges Automobil oder ein flottes Motorboot. Der befiederte Jüngling ist groß und schlank; sein Gesicht mit dem übermäßig leuchtenden Blick hat die überanstrengte Magerkeit, wie man sie bei Sportsleuten findet. – ›Wie geschwind er ist!‹ denkt Kikjou, und dies ist das erste, was er denken kann.

      Der Engel bewegt sich – großer Vogel, der auffliegen möchte; dem der irdische Aufenthalt nicht behagt. – »Komm!« ruft der Engel mit einer tiefen, nicht sehr melodischen, etwas brummenden Stimme. »Komm, Knabe!« – Kikjou, in seinem Trancezustand vor dem Kruzifix, scheint diese Worte nicht recht ernst zu nehmen. Deshalb wiederholt sie der Himmlische Bote, wobei er stärker mit den Flügeln rasselt: »Komm, Knabe! Komm!« – »Wohin?« erkundigt sich Kikjou und wendet sich, um seinen Gast genauer zu betrachten. Der Engel hebt langsam, mit schöner, runder Geste den Arm; zwei lässig und majestätisch erhobene Finger weisen zum Fenster, hinter dem der Schnee fällt. »Komm, komm! So komm doch!« Es klingt mehr mahnend als lockend. Er schüttelt das Haar, und die Duftwolke wird intensiver, als niste das Parfüm von Mandelblüten und sehr feinem Benzin vor allem in seinen Locken.

      Sein Haar ist fast wie eine Mähne – ›eine Löwenmähne‹, stellt Kikjou fest – sehr lockig und üppig, wohl auch widerspenstig; wenn nicht ein schmales Silberband es zusammenhielte, würde es wie ein barocker Glorienschein um dieses sportlich harte Jünglingsgesicht wehen und flattern. Das Silberband hält es halbwegs in Ordnung. Trotzdem bleibt es eine erschreckende chevelure – purpurne Fülle, durch die goldene Lichter zucken. Kikjou konstatiert eine gewisse Ähnlichkeit mit Marions Haar – das freilich nur eine dezente Purpurnuance zeigt, während das Gelock des Engels schamlos flammt: blutrotes Feuer über der harten Stirn.

      Die exzentrische Pracht solcher Kopfbedeckung kontrastiert seltsam zu dem schmucklosen Anzug des Engels. Er trägt eine Art von eng anliegendem Overall aus festem, silbergrauem Gewebe, sehr einfach geschnitten, Hose und Jackett in einem Stück. Ähnlich findet man junge Leute gekleidet, die in einer Garage arbeiten. Da der Stoff von seinem erhobenen Arm etwas zurückfällt, wird, am Handgelenk, ein breiter, heller Lederriemen sichtbar – Schmuck oder Stütze für die magere, sehnige Hand, deren Finger zum Fenster deuten. – Kikjou würde gerne herausbekommen, wie an dem Overall die Flügel befestigt sind; der Engel aber zeigt ihm nicht seinen Rücken. – »Komm! Komm!« mahnt er wieder, und die trippelnden Schritte, die er tut, sind schon Vorbereitung zum Flug – er fliegt schon fast, er wird immer leichter, um ihn weht heftiger der weiße Glanz. – »Aber es schneit doch draußen!« Kikjou versucht es, wieder einmal, mit törichten kleinen Ausflüchten. Er schielt feige zum Fenster; denn er ahnt ja: dort hinaus geht die Fahrt … Wirklich ist die Luft vom weißen Schneefall erfüllt. Langsam schweben die kristallischen Flocken. Der Winter ist da, der Schnee – ach bitte, lieber Engel – nicht hinaus in die Kälte! Nicht in den bösen Winter hinaus!

      Die sinnlose Bemerkung über das Schneien hätte Kikjou vermeiden sollen; denn nun ist die Geduld des Engels erschöpft. Er läßt seine Stimme hören, welche grauenhaft brummt: »Unsinn! Sei still! Das ist Unsinn!« Und ehe der zurechtgewiesene Knabe sich von seinem Schrecken erholen kann, hat der Engel sich sehr gräßlich verwandelt. Er flattert, er hebt sich, saust und kracht; er wird zum Bienenschwarm, wird zur eisigen Wolke, zur Flamme; er löst sich auf, sammelt sich wieder; scheint ein Raubvogel, der über Kikjou kreist; ein Flugzeug, surrend, mit starren Flügeln; ein Monstrum ohnegleichen ist der schlanke Jüngling geworden; auf den Knaben stürzt er sich, wie ein Habicht auf das zitternde Lamm – wie Zeus, in einen Vogel verwandelt, sich auf Ganymed stürzt, so umklammert das himmlische Ungetüm mit furchtbar bewegten, furchtbar harten Gliedern den Kikjou. Hinaus in den Schnee! Hinaus in die Nacht! – keine Barmherzigkeit kennt der Engel. Er selbst ist Schneesturm geworden, rasendes Element; seine Umarmung ist teuflisch, ist himmlisch, ist viel zu stark; überwältigend sind die Geräusche, die er hören läßt; Motorenlärm, holde Sphärenmusik, Raubvogelgeheul, Stöhnen der Liebenden, gellendes Hohngelächter, tiefe, klagende Menschenstimme – alles in Einem, betäubende Melodie.

      Komm, komm, Kikjou – durchs Fenster hinaus, durch das Glas hindurch, in die Nacht, in den Schnee, ins Weiße, ins Ungeheure! Fliege hin, sause über die Länder, man hat dir ein Fahrzeug erster Klasse zur Verfügung gestellt, schauerlich und wohlig ruhst du in den Armen deines süßen, rasenden, monströsen Engels. Hören und Sehen vergehen dir, du klammerst dich an seinen stählernen Nacken, er redet dir freundlich zu – mit Vogelstimme, Menschenstimme, Engelstimme. »Keine Angst … keine Angst … Der Schnee hört auf … Wir sind gleich am Ziel, und du wirst erwartet … Ton grand frère t’attend … Le voilà … Tu le reconnais …? Le voilà … Le voilà …«

      Kikjou, le petit frère de Marcel, schlägt die Augen auf. Neben ihm steht der Engel, kaum erschöpft von der Fahrt; wieder in seinem Overall, mit dem Silberbändchen in der Purpurmähne. Er legt den Zeigefinger an die lächelnden Lippen: Sei still jetzt, man sieht uns nicht, wir sind unsichtbar, du und ich – unsichtbar, Kikjou und sein geschwinder Engel …

      Wo sind wir? – Wir sind in Spanien, am Rande der Stadt Madrid, in der Universität, der Ciudad Universitaria. Dies muß ein Hörsaal gewesen sein; auf dem Fußboden liegen zerfetzte Kolleghefte, leere Tintenfässer, zertretene Bleistifte und Federhalter. Vor den leeren Fensterhöhlen aber sind Barrikaden oder Schießscharten aufgebaut, aus Büchern und zerschlagenen Bänken. Es ist kalt – noch kälter als in Kikjous mönchischer Zelle; der steinerne Boden atmet eisige Feuchtigkeit. Draußen wird geschossen; das Geknatter der Maschinengewehre hört nicht auf. Ein Maschinengewehr steht auch hier, auf einem der improvisierten Hügel aus Papier und Holz. Im Augenblick ist niemand da, um es zu bedienen. Von den drei Personen im Raum scheint eine ganz entschieden außer Gefecht gesetzt; die beiden anderen sind um ihn bemüht – eine Frau und ein junger Mann.

      Nun erst erkennt der unsichtbare Kikjou den Verwundeten: es ist Marcel, son grand frère, sein Gesicht ist von Blut und Tränen entstellt – übrigens auch vom stark gewordenen Bart verändert. Er hat die rechte Hand ans Herz gepreßt, unter einem graugrünen, dicken Hemd sickert Blut hervor, er ist in die Brust getroffen – ins Herz getroffen ist Marcel, er stirbt. – ›Wie weiß seine Lippen sind!‹ Kikjou möchte zu ihm hin, ihn anfassen, ihn liebkosen; aber er ist ja zur Unsichtbarkeit verurteilt wie zu einer Strafe; er ist der Gefangene des Engels, dessen Zorn man nicht reizen darf – sonst wird er ein Bienenschwarm und ein Sturmwind und ein rasendes Element.

      Marcel sagt: »Merde alors!« und versucht zu lächeln – liebenswürdig bis zum Schluß, verführerisch noch am Ende. Aber sein Mund, der soviel Worte gesprochen hat, kann nur noch zucken. Seine Lippen, von denen Blasphemien kamen und Liebesworte, Flüche und Zärtlichkeiten und immer wieder Worte – nun werden sie lahm und steif. Die Hände machen ein paar kleine Bewegungen; hilflose, flatternde Gesten – was sollen sie bedeuten? Wohin weisen sie? Welchen Sinn hat diese Pantomime des Sterbenden? Und in welche Fernen schweift nun der Blick seiner wunderbar aufgerissenen, kindlichen, unergründlichen Augen – dieser trauernden, wilden Sterne unter den kühnen Bögen der Brauen? Erkennen sie den Engel, der ihm gegenübersteht und nun seinerseits Zeichen macht – tröstliche, sanfte Winke mit den zwei erhobenen Fingern der rechten Hand? Erkennen sie Kikjou? Oder sehen sie gar nichts mehr? Denn nun werden sie glasig. – In einem Hörsaal der zerschossenen Universität von Madrid stirbt Marcel Poiret, ein Soldat. Er wollte das Opfer bringen;