und gelitten wie er; viele sind hier gestorben: hier und überall in diesem kämpfenden Lande. Er ist einer von Tausenden, von Zehntausenden – Marcel Poiret, ein Soldat – er gehört zum Ganzen, zum Kollektiv: dies hat er sich immer gewünscht, es ist seine Sehnsucht gewesen, erst im Tode soll sie sich erfüllen.
Kikjou, der Gefangene seines Engels, darf nicht hin, die Augen seines Freundes, seines großen Bruders zu schließen. Es ist eine spanische Arbeiterfrau, die dem Fremden diesen letzten Dienst erweist, und es ist ein deutscher Soldat, der dabeisteht und weint. Kikjou, in seiner Verzauberung, kann nicht weinen. Die spanische Frau hat ein großes, ernstes Gesicht mit tief eingegrabenen, schweren, etwas hängenden Zügen; der ganze Schmerz ihres Landes scheint versammelt auf ihrer Stirn. Man nennt sie die Pasionaria; sie hat harte, abgearbeitete Finger – aber mit welcher Zartheit berühren sie nun die Augenlider des toten Soldaten!
Der deutsche Kamerad holt ein großes, bunt kariertes Taschentuch hervor, um sich die Augen zu trocknen. Er schnauft heftig; dann schimpft er: »Verfluchte Scheißbande! Das ist wahrscheinlich wieder so ein verdammter Nazi gewesen, der diese Kugel geschickt hat – oder ein Italiener im schwarzen Hemd oder so ein blöder Araber, der gar nicht weiß, auf wen er eigentlich schießt! Und immer die Besten müssen es sein, die sie treffen – immer die feinsten Kerle! War so ein feiner Kerl, dieser Marcel – un bon copain, wie er es genannt hätte … Verflucht noch mal! Immer die Besten!« – Die Pasionaria versteht kein Wort; aber sie nickt. Sie nickt dem toten Franzosen zu und dem lebenden, weinenden, schimpfenden Deutschen – den zwei Kameraden. Der Deutsche hat kurz geschorene, dunkle Haare auf einem runden Schädel und etwas kugelig hervortretende, kluge, sympathische Augen. Es ist Hans Schütte: ein tapferer, zuverlässiger Bursche, sehr beliebt bei den Spaniern und bei den Kameraden von der Internationalen Brigade. Man hat ihn zum »Politkommissar« gemacht – eine verantwortungsvolle, wichtige Stellung; als eine Art von Verbindungsmann zwischen den Offizieren und den Soldaten muß er die Befehle erläutern und erklären, warum sie so und nicht anders sind; er muß sich um die einzelnen kümmern und sich ihre Sorgen erzählen lassen und ihnen gut zureden, wenn ihnen etwas nicht paßt; er hat viel zu tun und ist immer in der vordersten Linie. Auch dem Marcel Poiret ist ein solcher Posten angeboten worden, für den man gern »gebildete Leute« verwendet. Marcel aber hat abgelehnt. Er wollte einer sein unter vielen, zum Ganzen gehören, zum Kollektiv; nicht mehr auffallen, nicht mehr herausfallen; leiden und kämpfen mit den anderen; mit den anderen sterben.
Die Pasionaria ist fortgegangen; der Politkommissar Hans Schütte bleibt noch ein paar Minuten lang stehen bei seinem toten copain, dessen Sprache er kaum verstanden hat und mit dem er sich doch so gut verständigen konnte. ›Große Scheiße!‹ denkt der Deutsche – und Kikjou, an seinen Engel geschmiegt, begreift die Gedanken des Fremden. ›Große Scheiße! So ein feiner Kerl … Hat sich das nun gelohnt, daß er hier draufgegangen ist wie ein Hund? Hätte vielleicht noch gute Sachen schreiben können; hatte sicher eine Menge Grips im Kopf. Ich habe ja nichts von dem kapiert, was er mit seinen französischen Freunden geschwätzt hat; aber seinen Augen war doch anzusehen, daß er die richtigen Dinge gesagt hat, und schöne Dinge … Himmel Herrgott noch mal – hatte der Kerl großartige Augen. Nun ist er hin. Ist ein Sinn dabei …? Natürlich ist ein Sinn dabei. Der hat schon gewußt, warum er hergekommen ist und hier mit uns gekämpft hat und sich hat totschießen lassen von den verfluchten Faschisten. In Paris hat er wahrscheinlich so für sich gelebt – so ein begabter Einzelner, was kann der schon machen? Und als es dann hier losging, hat er sich gedacht: da muß ich dabei sein, das ist die große Gelegenheit, da muß ich alles aufs Spiel setzen – genau so, wie ich mir’s auch gedacht habe. Und wir haben ja hier was geleistet – wir, alle zusammen! Wir haben Madrid gehalten: tolle Sache das, wenn man es recht bedenkt, gegen so eine verfluchte Übermacht! Wir haben die Nazis und die Faschisten und die Franco-Leute und ihre Fremdenlegionäre zurückgeworfen, und hier sitzen wir in der Universitätsstadt und sind nicht rauszukriegen, Teufel noch mal. Da war der also dabei, dieser Schriftsteller: einer von uns. Das hat doch wohl seinen schönen, richtigen, geraden Sinn gehabt – klar, Mensch! Er wollte nicht mehr allein sein, sondern lieber mit den anderen zusammen sterben … Ja, so ist das wohl … Jetzt versteh ich eigentlich gar nicht mehr, warum ich nie in die Partei eintreten mochte … Das ist auch nur so ein Eigensinn gewesen – als ob ich besser als die anderen wäre! Unterordnen muß man sich können! Organisieren muß man sich können! Das lernt man hier, das habe ich hier gelernt. Die anderen sind ja auch organisiert, die Faschisten marschieren in Reih und Glied, in Kolonnen fallen sie über uns her, und wir sollen uns einzeln wehren? So’n Quatsch. Ich habe das jetzt satt – so als interessanter Einzelgänger herum zu laufen. Ich trete in die Partei ein. Hoffentlich nehmen sie mich. Na, die nehmen mich schon …‹ Hans Schütte geht – zu den anderen. ›Verdammt nochmal – wenn es heute nur ein paar Zigaretten gäbe!‹ denkt er, während er den öden Hörsaal verläßt. Dort bleibt der Tote allein, mit Kikjou und mit dem Engel.
Etwas von dem weißen Licht des paradiesischen Boten fällt auf Marcels Stirn und Haar. Stirn und Haar glänzen auf; noch einmal schimmert es zwischen den schönen Bögen der Brauen; noch einmal scheinen diese Lippen sprechen oder lächeln, verführen oder klagen zu wollen. Da entfernt sich das Licht. Der Engel ist aufgestiegen: emporgeschnellt ist er wie ein Geschoß. Unbarmherzig führt er mit sich den Knaben – den Beter, den Sünder, den Verzauberten: Kikjou, le petit frère de Marcel; einsamer nun denn je – einsam, einsam, mit seinen Gebeten, seinen Verzückungen, seinen Zweifeln.
Hinauf in die Nacht, in den Äther, in die Sphäre, die ihm den Atem verschlägt … Darf Kikjou nun zurückkehren in seine Zelle, zu seinem Kruzifix, seinem schmalen Bett, seinem petit déjeuner, das unberührt auf dem Tischchen steht? – Einige Aufenthalte werden ihm noch zugemutet. Der Engel – dieses eigenwillige, ungeheuer geschwinde, majestätisch klirrende Vehikel – setzt ihn noch zweimal ab: Erst in einem engen Raum, wo es nach Schminke, Puder, staubigen Kostümen riecht. Es ist eine Theater- oder Kabarettgarderobe. Vor einem Spiegel sitzt eine Frau und frisiert sich: Marion – Kikjou erkennt sie, schon von hinten, an der Purpurmähne, die an seines Führers schaurig-schöne chevelure erinnert. Kikjou – unsichtbar und stumm – muß erleben, daß sein grausamer Engel mit tiefer, etwas brummender, beinah höhnischer Stimme ruft: »Marcel ist tot! Ins Herz getroffen! Tot!« – daß Marion auffährt, ihr entsetzensvolles Gesicht nach der Stimme wendet, niemanden findet, schreit, zur Türe stürzt, zum Spiegel zurückkehrt, ihr Gesicht in die Arme wirft und endlich weint. – Marcel ist tot. Ins Herz getroffen. Tot. Nun weiß es Marion. Sie zweifelt nicht: Diese Stimme hat die Wahrheit gesprochen; nur die Wahrheit kann so furchtbaren Klang haben. – Martin ist tot. Die kleine Tilly ist tot. Marcel ist tot: ins Herz getroffen. – Ins Herz getroffen schluchzt Marion vor dem Spiegel. ›Verlassen mich alle? Bleibe ich ganz allein? Warum muß gerade ich leben? Warum gerade ich? Warum muß ich die Überlebende sein?‹ – Und Kikjou darf sie nicht trösten, darf sich nicht von ihr trösten lassen; muß hilflos stehen, sprachlos, atemlos, blicklos, unsichtbar; muß wieder auf und davon, mörderisch gepackt von seinem heiligen Monstrum, geschüttelt und gerüttelt von seinem monstre sacré; in die Lüfte geworfen wie ein leichter Ball; emporgerissen, in die Nacht entführt – und nun ist es eine unbekannte Dame, in deren Salon er niedersteigen soll. Die Dame ist Madame Poiret, Marcels Mutter – die Verhaßte, »das alte Scheusal«, »die reaktionäre Hexe«, wie der Sohn von ihr zu sprechen pflegte. Er hat nicht Abschied von ihr genommen; durch Fremde hat sie erfahren müssen, daß ihr Sohn nach Spanien gefahren ist; daß er kämpft – Seite an Seite mit den Gottlosen, gegen die allein seligmachende Kirche. Ist dies schmerzlich gewesen für Madame Poiret? Niemand weiß es; niemand wird es je wissen. Sie sitzt starr und steif in ihrer halbdunklen Stube, zwischen Plüschportieren und verstaubten Palmen, vielen Nippes-Sachen, zahllosen Photographien. Über ihr hängt das Porträt des Monsieur Poiret, der einem Schlaganfall erlegen ist – sei es im Restaurant Larue, nach einem Diner mit Geschäftsfreunden, sei es im Bordell, Rue Chabanais, nach gar zu anstrengenden Amüsements – Madame weiß es wohl selber nicht mehr recht genau. Er ist tot; er hatte einen würdigen Spitzbart und im Knopfloch die Rosette der Légion d’honneur – alles dies sehr deutlich zu sehen auf dem Porträt, das über der Einsamen hängt. Sie sitzt unbeweglich, ohne Handarbeit, ohne Buch, und auf die Patience, vor ihr auf dem Tischchen, hat sie schon lang nicht geschaut. Eine alte Frau, voller Bosheit und Vorurteilen; aber durch die Einsamkeit gestraft: schrecklich gestraft durch ihr