Ländern Zuflucht suchen vor der Schmach der Nazibarbarei, hier nicht nur der Not begegnen, sondern neuer Erniedrigung … Gibt es den Begriff der Menschenwürde nicht mehr?«
Am nächsten Morgen meldete sich telefonisch Herr Nathan. Die Stimme, mit der er um Verzeihung bat, klang dumpf. »Mein lieber Herr Professor – wie unglücklich bin ich, daß gerade Ihnen dies geschehen mußte! Erlauben Sie mir, gleich zu Ihnen zu kommen. Mir liegt daran, Ihnen einiges zu erklären …«
Benjamin empfing ihn ein paar Stunden später. Herr Nathan mochte sechzig Jahre alt sein; sein sorgenvolles Gesicht war sehr grau und müde. Unter den Augen gab es dicke Säcke – wie bei einem, der viel geweint hat oder gar zu oft bemüht gewesen ist, Weinende zu trösten. Nathan begann das Gespräch: »Ihr Brief war nicht gerecht, Herr Professor!« Da Abel schwieg, fügte der Alte hinzu: »Ich begreife, daß Sie ihn so schreiben mußten. Aber – glauben Sie mir! – ganz gerecht ist er nicht. Der Mann, der Sie angeschrien hat – mein Freund Petersen – ist ein unermüdlicher Arbeiter. Jeden Tag, den Gott werden läßt, plagt er sich acht Stunden oder noch länger für unsere Flüchtlinge, ohne irgendeine Bezahlung dafür zu nehmen; ohne irgendeinen Vorteil davon zu haben – einfach aus Anständigkeit; weil er es für seine Menschenpflicht hält.« – »Das konnte ich nicht wissen«, bemerkte Benjamin leise, schon etwas beschämt. »Sein Ton war trotzdem abscheulich.« – Nathan räumte ihm ein: »Man sollte niemals die Nerven verlieren. – Wir sind aber alle nur Menschen«, stellte er kummervoll fest. Abel sagte, nicht ohne Schärfe: »Gerade deshalb muß man die Menschenwürde des anderen achten.« Der Leiter des Comités nickte müde. »Gewiß, gewiß …« Er schwieg eine Weile; strich sich den grauen Schnurrbart und blickte, trübe sinnend, über die dicken Säcke hinweg, die wie Gewichte unter seinen Augen hingen. – »Man macht es uns aber nicht leicht«, meinte er endlich, wie als Abschluß eines langen Selbstgespräches, das gewiß nicht heiter gewesen war. »Die Menschenwürde des anderen zu achten – nein, leicht macht man es uns gewiß nicht …«
Dann erzählte er: zu diesem Zweck war er hergekommen. Es wurde deutlich: ihm war nicht nur daran gelegen, das unbeherrschte Verhalten seines Mitarbeiters zu entschuldigen und den Professor solcherart zu versöhnen; er wollte sein Herz ausschütten – sein schweres, betrübtes Herz. »Manchmal könnte man ganz hoffnungslos werden«, sagte der alte Mann. »Mit soviel Enthusiasmus bin ich an diese Arbeit gegangen – und wieviel Enttäuschungen habe ich erleben müssen. – Freilich ist mir auch viel Schönes vorgekommen.« Hierbei lächelte er, zum ersten Mal; es war ein etwas mühsames Lächeln, aber kein künstliches, kein konventionelles. So lächelt einer, dessen Gesicht meistens ernst ist und sich nur selten, nur ausnahmsweise erhellen darf, bei der Erinnerung an ein paar gute Augenblicke.
Was die Enttäuschungen betraf, so waren sie mannigfacher Natur. Vielen von denen, die um Hilfe baten, war kaum zu helfen. Den Unglücklichen fehlten Kraft und Lebenswillen, manchen auch die Intelligenz, einigen sogar die Anständigkeit. Herr Nathan hatte sich für Menschen eingesetzt, von denen später erwiesen ward, daß sie Nazispitzel und Agenten waren: »Einige von diesen Schuften sind sogar Juden gewesen!« konstatierte er mit Ekel und Bitterkeit. Andere wieder waren zu keiner Arbeit mehr fähig; sie klagten nur noch, jammerten den ganzen Tag über ihr hartes Los. »Damit ist kein Geld zu verdienen«, sagte Nathan, der sich dies alles mit ansehen mußte. Er war auch dabei gewesen, als eine junge Frau, deren Gatte in einem deutschen Konzentrationslager saß, sich im Vorzimmer des Comités erschoß. »Solche Szenen vergißt man nicht!« sagte er leise. »Vielen hat das Furchtbare, was sie in Deutschland mitmachen oder mit ansehen mußten, das moralische Rückgrat zerbrochen. Sie sind wie gelähmt; wie Krüppel sind sie geworden, können sich gar nicht rühren. Da sitzen sie nun, und man soll etwas für sie tun. Sie selber aber sind wie gelähmt; reden nichts als Unsinn. Manche sind auch noch mißtrauisch und renitent; kein Wunder, bei all den Erfahrungen, die sie gemacht haben; uns aber erschwert es die Arbeit. Man ist oft so müde. Wüßten Sie nur von all den Schwierigkeiten, all den Schikanen, mit denen wir täglich zu kämpfen haben! Manchmal verliert man die Nerven. Aber wir wollen das Beste! Wir tun, was wir irgend können – glauben Sie mir!« Er sagte es beinah flehend – was nicht nötig gewesen wäre; Abel glaubte ihm. Er zweifelte nicht daran: Nathan war ein guter und gescheiter Mensch; gab sich Mühe; rieb sich auf für eine Sache, die nicht Gewinn brachte, und viel Ehre schien kaum zu erwarten. »Auch das Geld wird knapp«, ließ er wissen. »Zu Anfang wurde reichlich gespendet. Aber die Tragödie dauert zu lange, das allgemeine Interesse läßt nach. Auch scheint das Ganze zu hoffnungslos – ein Faß ohne Boden, wenn ich mich so ausdrücken darf. Es werden immer mehr Flüchtlinge, täglich kommen neue an, unsere Fonds sind beinah erschöpft, unsere Geldgeber lassen sich kaum noch sprechen …«
Die beiden Männer saßen sich gegenüber; eine Weile sagte keiner etwas. Schließlich war es Nathan, der wieder zu sprechen begann. »Es ist schade um die Menschen.« Seine Stimme bebte vor Gram. Der Literaturhistoriker bemerkte: »Das hat Strindberg gesagt.« Nathan nickte. »Vor vielen Jahren … Aber es ist immer noch wahr. Schade um die Menschen – jammerschade um sie …«
Später kam er auch auf Erfahrungen zu reden, die freundlicher waren. »Ganz vergeblich ist die große Arbeit nicht! Manchmal wird einem bestätigt: es hat Sinn gehabt. Irgendein junger Mensch schreibt uns – aus Argentinien oder Palästina oder Neuseeland – und er berichtet: Es geht ihm gut dort, er hat zu tun. Wir haben ihn hingebracht. Wir haben ihn hier etwas lernen lassen und haben ihm zu dieser Stellung in einem fernen Lande verholfen. Nun denkt er dort drüben an uns … Das macht Freude!« Herr Nathan sah plötzlich beinah vergnügt aus und rieb sich die Hände, wie einer, der ein gutes Geschäft gemacht hat – ein redliches, feines Geschäft. »Manche von unseren Schützlingen haben auch in Europa irgendwo Stellung gefunden«, sagte er noch. »Einige sogar hier im Lande. Die besuchen mich dann ab und zu. Nicht alle, natürlich: manche legen Wert darauf, mich nie wieder zu sehen und das Comité zu vergessen – was ich begreiflich finde. Andere aber lassen sich zuweilen sehen. Männer, denen ich im Jahre 1933 helfen konnte, haben inzwischen hier geheiratet; dann bringen sie wohl auch ihre Frau mit, manche sogar ein Kind – ein Emigrantenkind; aber es kann schon ein bißchen in der Sprache unseres Landes plappern. – Das macht Spaß!« sagte Herr Nathan wieder, und noch einmal ging das ungeübte, schwere, innige Lächeln über sein sorgenvolles altes Gesicht.
Schließlich fiel Benjamin ein: »Ich wollte mit Ihnen ja einen bestimmten Fall besprechen. Es handelt sich da um einen jungen Mann, der früher bei der Berliner Polizei angestellt war. Ein sehr anständiger Bursche, wie mir scheint – vielleicht durch Leiden etwas aus der Form gekommen …«
Herr Nathan lauschte – gleich interessiert; schon bereit, zu helfen; sich alle Möglichkeiten zu überlegen; von Herzen willens, diesen Menschenbruder, wenn es irgend angehen sollte, zu retten.
Im Spätsommer des Jahres 1937 beschloß Marion, im Herbst nach Amerika zu fahren. Ein wichtiger New Yorker Agent war in Prag und Zürich Zeuge ihrer Erfolge gewesen; von ihm kam das Angebot: sie sollte eine Vortragstournee durch die Vereinigten Staaten machen. Erst hatte sie gezögert; nun aber nahm sie an. Sie meinte, Europa nicht mehr ertragen zu können. Es waren zuviel der Verluste, zuviel der Erinnerungen, überall. Sie empfand schon seit langem: ›Es ist zuviel – ganz entschieden zuviel. Entweder auch ich sterbe, oder ich muß etwas Neues anfangen.‹
Sie studierte einen Teil ihres Programms auf englisch; andere Partien sollte sie im deutschen Original mit englischen Erläuterungen bringen. Übrigens hatte ihr der Agent versprochen, daß in den Kreisen, vor denen sie auftreten würde – Klubs, Universitäten, literarische Gesellschaften – mindestens ein Teil des Publikums Deutsch verstehe.
Das Visum hatte sie bekommen. Sie behielt ja den guten französischen Paß; sie war die Witwe des citoyen Marcel Poiret. Das Schiffsbillet war besorgt. Die Abschiede konnten beginnen. Marion, wehmütig und empfindsam gestimmt, hatte nur das eine Wort im Herzen: Abschied … Abschied von den Gräbern; Abschied von den noch Lebenden. Ich bin die Überlebende. Ich bin die Abreisende. Ich bin die, welche etwas Neues beginnt. Ich reise nach Amerika und mache mich in Klubs wie auch in Universitäten bemerkbar. Dieses ist Abschied – eine Realität; die Realität unseres Lebens. Das ganze Leben ist Abschied. Abschied auf Bahnsteigen, auf Flugplätzen, Landungsstegen; Abschied in Schlafzimmern, Cafés, Hotelhallen, auf der Straße, an einer Haustür. Adieu,