Klaus Mann

Klaus Mann - Das literarische Werk


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spurlos verschwunden, hinweggehuscht – wir aber müssen weiterleben; müssen hier sitzen und uns nochmals umarmen: Adieu, liebste Mama! Grüße die dumme kleine Susanne – ist sie immer noch so gräßlich reaktionär? Ein komisches Kind! Wie lange muß sie eigentlich noch in diesem teuren Internat bleiben? – Na, adieu also, ich rufe dich aus Paris wohl noch an, ehe ich fahre …

      Und dann, in Paris. – Adieu, liebste Schwalbe – Kopf hoch, altes Ding! Aber wer wird denn weinen … Wir schaffen es schon! Sind doch zwei tüchtige alte Kerle – du und ich: wind- und wetterfest, möchte ich sagen, wir erleben auch noch bessere Tage – laß dich küssen – laß dich sehr küssen, alte Schwalben-Mutter!

      Adieu, liebes Meisje – bist du immer noch glücklich? Ja, du siehst immer noch glücklich aus; schön und glücklich, wie ein militanter Erzengel. Erstaunlich, daß es so was gibt; großartig, daß es so was gibt. – Braver alter Dr. Mathes – adieu.

      Ilse Ill war beim Abschied säuerlich; denn sie hatte so gut wie überhaupt keinen Erfolg mehr. Weder grünes Haar noch violette Wangen halfen ihr auf die Dauer; auch ihre Affäre mit einem veritablen Negerkönig hatte nicht das erwartete Aufsehen gemacht – kein Wunder, daß sie sich verbittert zeigte. »Ich möchte wohl auch nach Amerika!« schmollte sie. »Wenn ich Talent habe, bin ich doch nicht häßlich.«

      Was den Bankier Bernheim betraf, so schien er ein wenig abgekämpft, wenngleich immer noch würdig. »Liebes Kammermädchen«, sagte der reiche Mann schlicht, »mir tut es leid, daß du fährst.« Dann stellte sich heraus: Er war es müde, immer nur Geschäfte zu machen. Das schlimme Abenteuer von Mallorca hatte nachhaltig auf ihn gewirkt. »Ich bin innerlicher geworden«, erklärte er und ließ durchblicken, daß er vielleicht zum Katholizismus übertreten werde. Übrigens wollte er aufs Land ziehen, nach Österreich, in die Nähe von Wien. Dort hatte man ihm ein reizendes altes Haus angeboten: es kostete beinah nichts. Professor Samuel war aufgefordert mitzukommen, glaubte aber nicht an die Stabilität der österreichischen Regierung und zog es vor, eine andere Einladung, nach Palästina, anzunehmen. »Ich möchte nicht noch eine dritte faschistische Invasion erleben, nachdem ich die in Deutschland und in Spanien mitgemacht habe«, sagte der alte Künstler: nicht bitter, aber ziemlich mißtrauisch geworden. Bankier Bernheim fand solche Äußerungen einfach albern. »Die österreichische Unabhängigkeit wird von Frankreich und England garantiert«, eröffnete er allen, die es hören wollten. »Und außerdem hat der Bundeskanzler Schuschnigg das Heft fest in der Hand; die Mehrzahl der Bevölkerung ist ihm treu ergeben …«

      Marion fand ihn seltsam verändert, und übrigens nicht nur ihn. Auch Nathan-Morelli, zum Beispiel, war nicht mehr völlig der gleiche, als den man ihn einst gekannt hatte – ermattet, auch er, und sein gelbliches Mongolengesicht, das so spöttisch und blasiert gewesen war, zeigte jetzt mildere, auch tiefere Züge. Marion war befremdet; denn Morelli gestand, daß er um Deutschland litt. »Ich habe Heimweh« – gerade von ihm hätte dies niemand erwartet. Nun aber sprach er es aus und blickte wehmütig sinnend aus seinen schiefgestellten, schmalen Augen. Warum sehnte er sich nun nach Landschaften, Menschen, Städten, die er früher vernachlässigt hatte? »Es ist eine Schmach, was mit Deutschland geschieht«, sagte er. »Es verfolgt mich in meinen Träumen … Wenn ich meine Sirowitsch nicht hätte, ich könnte wohl gar nicht mehr leben. Sie bedeutet ein Stück der verlorenen Heimat für mich.«

      Theo Hummler, inmitten seiner politischen Aktivität, war herzlich traurig über Marions Abreise. Seiner alten Schwäche für sie war er treu geblieben. Er gab ihr Aufträge für New Yorker Freunde mit und erkundigte sich schließlich, ob er sie küssen dürfe. Sie gestattete es, er bekam feuchte Augen. Adieu, adieu, schreib mir mal, vergiß mich nicht, dieses ist Abschied.

      Auch bei Madame Rubinstein machte Marion ihre Abschiedsvisite. »Es ist immer so schön, in eurer Stube zu sein«, sagte sie, wie vor viereinhalb Jahren – und wirklich, hier hatte sich nichts verändert: die gleichen Modelle alter Segelschiffe, die auf der Kommode und auf mehreren Regalen plaziert waren; die gleichen ausgestopften Vögel und Fische an den Wänden. »Ja, es ist ein gemütlicher Raum«, sagte Anna Nikolajewna, während sie ihrem Gast Kirschenkonfitüre und kleines Gebäck auf den Teller legte. »Aber mon pauvre Léon wird immer trauriger …« Auch die kleine Germaine machte ihr weiter Sorgen; sie schien nun beinah dazu entschlossen, sehr bald nach Rußland, in die unbekannte Heimat, zurückzukehren. – Adieu, Anna Nikolajewna – ich will nicht werden wie du, ich bin nicht wie du, unsere Fälle sind wesentlich voneinander verschieden. Du trauerst dem unwiederbringlich Verlorenen nach; ich träume dem entgegen, was wir gewinnen wollen … Adieu!

      Marion sah noch einmal den vornehmen und hoffnungslosen Schachspieler im »Café Select«: den ungarischen Grafen, der seine Güter verteilt und sich solcherart bei den Standesgenossen unmöglich gemacht hatte. Sie sah David Deutsch, der seinen soziologischen Studien nachging, erschreckend bleich war und sich schief verneigte. Er lehnte es aufs entschiedenste ab, von sich selbst zu sprechen: »Mein Fall ist melancholisch«, sagte er kurz. »Ich muß irgendwie mit ihm fertig werden.« Indessen sprach er von Martin. »Weißt du noch, Marion? Weißt du noch?« – Ja, sie wußte noch. Sie vergaß die Gesichter nicht, die untergetaucht waren ins Nichts; nur zu genau erinnerte sie sich ihrer. Ach Martin – deine kokett-pedantische Stimme – »Natürlich bin ich eigentlich kein Morphinist – weißt du« – wohin, wohin? Ach Marcel – dein lockend-klagender Vogelschrei auf der Treppe – wohin? Und dann die Sturzflut der Worte; der Blasphemien, Flüche, Zärtlichkeiten – wohin?

      Ein paar Tage, ehe Marion reiste, kam noch eine Aufforderung, die sie nicht ablehnen wollte. Eine Massenversammlung für die spanischen Loyalisten wurde veranstaltet in einem der größten Pariser Säle. Marion sollte unter den Sprechern sein – nicht als Rezitatorin diesmal, sondern als einfache Rednerin; es war ihr eigenes Wort, was man hören wollte, ihren Protest, ihren Aufruf. Hierüber freute sie sich und war auch etwas erstaunt. ›Bin ich eine – Persönlichkeit, daß man mich heranzieht zu so großen Anlässen?‹ dachte sie, fast erschrocken. ›Habe ich mir einen Namen gemacht im Lauf dieser bitteren Jahre? Ich bin herumgereist und habe Verse aufgesagt … Bin ich dadurch berühmt geworden?‹

      Später fiel ihr ein, daß man sie auf dem Podium haben wollte, um Marcel Poiret zu feiern – den Soldaten, den Dichter, Helden, Märtyrer. Sie war seine Gattin gewesen. Sie trug seinen Namen. – Alle im Saal erhoben sich von ihren Sitzen, als die Witwe des Märtyrers ans Rednerpult trat. Tausende standen stumm – Pariser Arbeiter und Intellektuelle und Frauen – sie reckten schweigend die Faust; sie senkten die Stirnen zu seinem Gedächtnis. Marion hatte Tränen in der Stimme, als sie zu sprechen begann. Wie glücklich wäre ihr Marcel, wenn er dies sehen dürfte! (Vielleicht darf er es sehen; vielleicht darf er glücklich sein …) Sein Leben lang hatte er darunter gelitten, daß er von der Masse nicht verstanden wurde. Nun, da er tot war, huldigte sie ihm. Die einfachen Leute konnten ihn erst begreifen, da er sein Blut vergossen hatte, für die gemeinsame Sache. Er hatte gekämpft, gelitten und sich geopfert; deshalb reckten sie nun die Fäuste, ihm zu Ehren und im Gedenken an ihn. – Marion redete einfach zu ihnen, wie sie empfanden. Sie rief: »Er ist in einem großen Kampf gestorben, der Kampf geht weiter, vielleicht stehen wir erst am Anfang.« Sie erzählte – als wären es gute alte Bekannte, an die sie sich wendete: »Ich fahre jetzt nach Amerika, dort haben wir Freunde, ich werde sie von euch grüßen. Überall finden wir tätige Kameraden. Gerade weil die Freiheit überall gefährdet ist, gibt es überall Tapfere, die sie verteidigen wollen. Schließlich aber gewinnen wir unseren Kampf!« Dies erklärte sie zuversichtlich; hatte dabei auch den altbewährten Flammenblick, und sah schön aus, wie sie nun ihrerseits die Faust hob – als Abschiedsgruß an das französische Volk.

      Die Tausende im Saal hatten noch mehrfach Gelegenheit, von den Sitzen zu springen, Lieder zu singen und die Fäuste zu recken; verschiedenen Rednern gelang es noch, sie aufzurütteln und zu begeistern. Der junge Deutsche, der gerade erst aus Madrid hier eingetroffen war und auf zwei Krücken humpelte – denn ein Granatsplitter hatte ihm den Hüftknochen zerschmettert – erntete Beifallsstürme, als er gelobte: »In Spanien habe ich für die spanische Freiheit gekämpft. Ich würde auch für eure Freiheit in Frankreich kämpfen, wenn es jemals sein müßte – das verspreche ich euch!« Daraufhin wurde die »Internationale« gesungen. – Mit ihr empfing man auch den jungen Holländer, der damals, bei der Schwalbe –