Klaus Mann

Klaus Mann - Das literarische Werk


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trinken, Aspirin nehmen und zu Bette gehen … Der Engel aber wiederholt mit grausamer Hartnäckigkeit: »Marcel ist tot! Ins Herz getroffen! Tot! Tot! Tot!«

      Nun darf Madame nicht mehr zweifeln: ihr Sohn ist tot, sie hat es endlich begriffen. Unter fremden Himmeln ist er hingerichtet worden und hat vorher nicht einmal Abschied von ihr genommen. Nicht umsonst hat Madame Poiret, eine gute Französin, seit eh und je eine so starke Aversion gegen das Ausland gehabt. Alles Internationale war ihr stets verhaßt. Hieß die Mörderbande, zu der ihr Sohn sich gemeldet hatte, nicht Internationale Brigade? Sie haben Kirchen verbrannt, Priester gefoltert, Gott gelästert. Die Strafe folgt auf dem Fuße. Eine Kugel kommt geflogen, der Heilige Geist selber hat sie geschickt. Ins Herz getroffen. Tot.

      Ins Herz getroffen, tot. – ›Es ist mein Sohn, den sie getroffen haben!! Es gibt viele Söhne; dieser aber war mein. Ich habe ihn in Schmerzen geboren; als Kind hatte er Scharlach, ich habe ihn gepflegt. Er hat mich nie geliebt, ich habe ihn nie gekannt, er hat abscheuliche Dinge geschrieben, ich habe sie nie verstanden; Blasphemien kamen von seinen Lippen, die haben mich mehr gekränkt als alle schauerlichen Beleidigungen, die er sich ausdachte gegen mich – seine Mutter. Ich bin seine Mutter, er ist mein Sohn, ich habe nur ihn, sonst niemanden auf der Welt; ich hatte nur ihn, er ist tot, ins Herz getroffen, tot.‹

      Welch ein Schauspiel für die beiden Unsichtbaren, für Kikjou und seinen Engel! Madame Poiret reckt klagend die Arme – es mutet seltsam an, wenn eine distinguierte, böse ältere Dame sich zu so ausschweifenden Gesten genötigt sieht. ›Mein Sohn! Mein Sohn! Er ist tot! Ich habe ihn geboren – er lebt nicht mehr! Er ist Fleisch von meinem Fleische, und lebt nicht mehr. Wie darf ich noch leben?‹ Eine halb groteske Mater Dolorosa – sonderbar geputzt in ihrem schwarzen Spitzenüberwurf – bricht sie vor dem Kamin zusammen, in dem nur ein künstliches Feuer brennt. ›Ich habe ihn geliebt!‹ jammert ihr Herz. ›Hat er mich denn wirklich gar nicht ausstehen können? Ach, im Grunde hing er wohl an mir! Nur seine deutschen, amerikanischen und jüdischen Freunde haben ihn mir vorübergehend entfremdet. Mein Leben war glücklos: Monsieur Poiret hat mich schlecht behandelt und ist im Bordell gestorben, jetzt kann ich es ja zugeben. Weil ich glücklos war, bin ich hart geworden. Marcel, Marcel – im Grunde mußtest du doch wissen, wie lieb ich dich hatte – nur dich, nur dich; denn du warst mein Sohn.‹

      Bleibe allein mit deinem Schmerz, alte Frau! Die Krusten um dein Herz schmelzen, die harte Rinde weicht auf, du wirst weinen dürfen, der Schmerz macht dich besser, bleibe allein mit ihm! Drücke das kleine Kinderbild deines Sohnes an die Lippen – die einzige Photographie, die du von ihm besitzest. So hat Frau von Kammer geweint, als ein anderer Bote – um welchen freilich keine Flammenglorie wehte – ihr stockend ausrichtete: Tilly lebt nicht mehr. So hat Frau Korella geweint, im Krankenhaus, an Martins Sterbebett, und später, auf dem Friedhof, als die Schwalbe etwas taktlos wurde. So weinen die Mütter, so weinen die Menschen – Herr Jesus Christ, unser Erlöser, habe Erbarmen mit ihnen!

      »Herr Jesus Christ, Erlöser, habe Erbarmen mit uns!« Kikjou betet, heimgekehrt von seiner entsetzlichen Fahrt. Der Engel hat ihn abgesetzt, hat ihn abgeworfen, ohne ein Wort des Abschiedes zu finden; ein Geruch nach Mandelblüten und überirdisch feinem Benzin ist zurückgeblieben in der mönchischen Zelle.

      Unfaßbar milde und unfaßbar streng empfängt der Blick des Heilands diesen Sterblichen. Geduldig hat es auf ihn gewartet, das Haupt voll Blut und Wunden, das dornengeschmückte. Es neigt sich der Schulter zu, wie beim aufmerksamen Lauschen. Die Lippen stehen ein wenig offen – durstige, trockene, blutig aufgesprungene Lippen: sie werden den Essigschwamm kosten. – ›Ich habe gelitten wie diese‹, sagt der Heiland dem jungen Sterblichen. ›Ich kenne die Schmerzen, deren Zeuge du gewesen bist. Auch du sollst leiden. Gehe hin. Nimm es auf dich. Es ist bitter, ein Mensch zu sein. Ich war des Menschen Sohn, und ich habe noch den bitteren Geschmack davon auf der Zunge und den ausgedörrten Lippen. Weißt du aber nicht, wie sich das Bittere verwandelt? Leidend und liebend verwandelt sich der Mensch. Mein Vater im Himmel verzeiht uns, wenn wir geliebt und gelitten haben. Gehe hin, Knabe! Nimm es auf dich! Sei ein Mensch!‹

      Professor Benjamin Abel hatte, einige Wochen nach der Katastrophe mit Herrn Wollfritz im »Huize Mozart«, Amsterdam verlassen. Er war später noch einmal nach Holland gekommen, um Vorträge an der Universität Leiden zu halten. Bei dieser Gelegenheit sah er Stinchen wieder, die irgendwie von seiner Anwesenheit Kenntnis bekam und herbeireiste – »weil ich Sie doch nicht vergessen kann, Mijnheer«, wie sie errötend gestand. Sicherlich wußte die maskuline, eifersüchtige Mama nichts von diesen zärtlichen Ausflügen, die sich im Lauf der nächsten Wochen mehrfach wiederholten. – Auch Fritz Hollmann tauchte wieder auf – ein tapferer Kerl, schlug sich tüchtig durchs Leben – übrigens nicht mehr allein; eine nett aussehende »Genossin« war an seiner Seite, Hollmann stellte sie vor: »Meine Braut!« Der Professor war etwas neidisch. »Ach, diese Jugend! Ihr wißt ja gar nicht, wie gut ihr es habt!« meinte er säuerlich; freute sich aber, ganz im verborgenen, doch schon auf Stinchens nächste Visite.

      Als Hollmann mit seinem Mädchen gegangen war, trat Benjamin vor den Spiegel. ›Ich sehe immer noch passabel aus‹, meinte er feststellen zu dürfen. Die Gestalt, die er kritisch musterte, war nicht groß und ein wenig gedrungen, aber aufrecht und fest. Das Gesicht, über einem zu kurzen Hals, wirkte zugleich sinnend und energisch. Seine große, rundliche Fläche ward beherrscht von den Augen, die den Blick einer verhaltenen und gründlichen, fast pedantischen Leidenschaft hatten. Der Mund war merkwürdig klein – fast frauenhaft zart gebildet; ›übrigens bekomme ich ein Doppelkinn‹, dachte der Alternde ziemlich bitter. ›Ein Doppelkinn und eine Glatze – komisch, daß Stinchen mich mag …‹

      Die letzten Jahre waren, alles in allem, nicht leicht gewesen; wenig oder nichts sprach dafür, daß die folgenden besser sein würden. Es hatte furchtbare Heimwehkrisen für Benjamin Abel gegeben; qualvoll heimwehkrank war er oft gewesen und hatte gemeint, es nicht mehr aushalten zu können in den fremden Städten. Das war wohl nun überwunden. Er wünschte sich nicht mehr nach Deutschland zurück; seine Beziehungen zur Heimat hatten sich gelöst. Die Mutter in Worms war gestorben. Die alten Freunde ließen nichts mehr von sich hören. Auch von Annette Lehmann kamen keine Briefe mehr. Sie hatte einen Staatsanwalt in Köln geheiratet – »ein prächtiger Kerl!« wie sie in ihrem letzten Schreiben versicherte. »Du würdest ihn sicher mögen. Friedrich ist ein weitherziger, grundgescheiter Mensch; ein überzeugter Nationalsozialist, aber gar nicht fanatisch …« Auf diesen Brief hatte Benjamin keine Antwort; die Korrespondenz hörte auf. – ›Leb wohl, meine Liebe! Zehn Jahre unseres Lebens sind wir beieinander gewesen, vergiß das doch bitte nie! Vergiß, zum Beispiel, bitte nie die so sehr gemütlichen Kammermusikabende in Marienburg! Was wäre denn nun, wenn ich dich geheiratet hätte, damals, als wir beide jung gewesen sind? Sähe dann alles besser aus oder noch komplizierter? – Ach, zu wem spreche ich und wen rufe ich an? Lebt die Annette noch, an die ich mich erinnere? Eine andere, fremde spaziert nun durch die Straßen von Köln, am Arme ihres prächtigen Staatsanwaltes – durch diese Straßen, die unbetretbar für mich geworden sind; ein Abgrund liegt zwischen mir und ihnen – ein Abgrund zwischen mir und Annette – ein Abgrund …‹

      Professor Abel – alternd, heimatlos und sehr allein – fand seinen Trost in der Arbeit. Denn arbeiten konnte er wieder. Die Lähmung war gewichen. Er fühlte sich unverbraucht und frisch, bei aller Betrübtheit. ›Schon aus Trotz will ich tätig sein‹, beschloß er grimmig. ›Schon aus Wut und Haß bin ich widerstandsfähig. Glauben diese Barbaren drinnen im Reich, deutscher Geist höre auf zu wirken, weil sie ihn, durch Dekret, verbieten oder verstümmeln? Denen wird man es zeigen! Professor Besenkolb und alle seinesgleichen – zerspringen sollen sie, und schämen sollen sie sich, wenn sie mein neues großes Buch zu Gesicht bekommen!‹

      Benjamin – von Natur bescheiden – war selbstbewußter geworden. Er wollte sich behaupten; war entschlossen, nicht unterzugehen. Zweifel am eigenen Wert wäre ein Luxus gewesen, den er sich, bei so harten Lebensumständen, durchaus nicht leisten konnte. Vielmehr zwang er sich, den Kopf hoch zu tragen und Stolzes zu denken. ›Ich bin keiner, der bettelt. Was ich zu bieten habe, ist kostbar. Die Welt soll mich dafür bezahlen.‹ – Die Welt fügte sich seinem Anspruch; sie zahlte – nicht eben üppig, nicht gerade verschwenderisch; aber doch so, daß er halbwegs anständig leben konnte, obwohl die Universität Bonn längst