kam ein Ruf nach Amerika: es war eine kleine Universität im Mittelwesten der USA, die sich, mit maßvollem, aber akzeptablem Angebot um ihn bemühte. Das war im Frühling 1937. Benjamin hielt sich in Skandinavien auf. Er sprach in dänischen, norwegischen und schwedischen Universitäten über »das große deutsche Jahrhundert« – wobei es ohne polemisch-aktuelle Anspielungen auf eine entartete Gegenwart nicht abgehen konnte. Schon hatten die Vertretungen des Dritten Reiches gegen die »schamlos deutschfeindliche Agitation« dieses aggressiven Gelehrten feierlich-gekränkt protestiert – woraufhin dem temperamentvollen Sprecher von amtlich-skandinavischer Seite nahegelegt wurde, er möge vorsichtiger sein.
Vorfälle solcher Art bestimmten Abel dazu, die ehrenvolle Depesche aus den USA positiv zu beantworten. Hierzu war er nicht gleich entschlossen gewesen. Nun aber dachte er – trotzig und unternehmungslustig, wie die harte Zeit ihn hatte werden lassen. – ›Ich habe Europa satt. Überall Einschränkungen, feige Rücksichtnahme auf die deutsche Tyrannis – und unsereiner ist nur knapp geduldet. Dort drüben wird man doch den Mund wieder auftun dürfen …‹
Er hatte noch einige Monate bis zum Termin der Abreise. Das war gut; denn das Buch mußte fertig werden, mit dem er sich nun seit zwei Jahren beschäftigte: »Das Jahr 1848 und die deutsche Literatur«. Für dieses Thema hatte er sich entschieden, gerade als er in Wien war, um Material für seine Schrift über die österreichischen Dichter zu sammeln. Wien war eine Enttäuschung für ihn gewesen – eine Stadt, die von ihrer Vergangenheit lebte und deren Gegenwart wenig Begeisterndes hatte. Die Luft unter der klerikalen Diktatur war dumpf und muffig; der Kampf gegen den andrängenden Nationalsozialismus wurde falsch und ängstlich geführt. Professor Abel ließ seine liebevollen Notizen über Hofmannsthal und Schnitzler in einer Mappe verschwinden, die er bis auf weiteres nicht mehr zu öffnen gedachte. Das Jahr ’48 – seine geistigen Ursprünge und seine Konsequenzen – war erregender und dem Heute näher als die farbenvolle Untergangsstimmung des Wiener Fin de siècle. Es gelang Abel, trotz allen Ablenkungen und mancherlei Pflichten, die neue Arbeit langsam, aber stetig vorwärtszubringen. Nun hatte er ruhige Wochen vor sich. Er etablierte sich in einer mittleren skandinavischen Stadt. Hier wollte er das umfängliche Unternehmen vollenden.
Freilich blieb man niemals völlig ungestört. Nur ein vollkommener Egoist hätte sich gänzlich abschließen, durchaus auf die eigene Arbeit zurückziehen können. Was Abel betraf, so brachte er es nicht mehr übers Herz, Briefe, die so dringlichen Inhaltes waren, unbeantwortet zu lassen; Besucher, die mit so fürchterlich akuten Sorgen kamen, abzuweisen. Ihm selber ging es relativ gut – dies wußte er und war sogar ein wenig stolz darauf. Andere hatten nichts zu essen, wurden überall ausgewiesen und als elende Vagabunden durch die Länder gejagt. Früher aber waren sie achtbar gewesen, manche von ihnen sogar angesehen. Diesen oder jenen hatte Abel in Deutschland gekannt; andere wieder waren durch Freunde empfohlen. Doch meldeten sich auch solche, die sich auf niemanden berufen konnten; ihre offenkundige Armut allein wies sie aus – und ihre Behauptung, daß sie im Dritten Reich, aus politischen oder anderen Gründen, verfolgt würden. Das konnte man nun glauben oder nicht. Benjamin war nicht skeptisch. Es war besser – so schien ihm – dreien geholfen zu haben, die Schwindler sind, als einen Anständigen zu enttäuschen.
Sogar solchen gegenüber, die sich gleich zu Anfang schlecht benahmen, blieb er geduldig, ohne übrigens je die Miene des Edlen, eines salbungsvollen Menschenfreundes aufzusetzen. Ein junger Mann erschien, der behauptete, er sei einmal Schupo in Berlin gewesen. Dergleichen war ihm jetzt nicht mehr anzusehen; im Gegenteil, ein pflichtbewußter Berliner Polizeibeamter würde ihn wohl auf offener Straße festgenommen, mindestens aber sehr mißtrauisch beobachtet haben, einfach seines suspekten Äußeren wegen. Der graue Anzug, den er trug, war dünn und abgeschabt, an mehreren Stellen geflickt, an anderen durchlöchert; er glänzte speckig, und die Farbe spielte ins häßlich Grüne. Auch mit den Schuhen war kaum viel Staat zu machen. Am besten schien noch das dicke, rote Wollhemd. Es war aus solidem Material; doch wirkte es, als hätte der junge Mann es schon seit Jahren am Leib. Der Verdacht drängte sich auf, daß es unfrisch roch. Auch sein Gesicht zeigte unfrische Farben – eine bleiche, verwüstete Miene, mit fleckig angegriffener Haut auf den slawisch breiten Wangenknochen. Die hellen, engen Augen schauten trüb zwischen arg entzündeten Lidern. Rasiert hatte er sich wohl seit Wochen nicht; der harte Bart schimmerte rötlich, während das verwilderte Haupthaar einen reinen, fast goldenen Glanz zeigte.
Der Bursche hatte lang nichts gegessen, er bekam Kaffee und belegte Brote, Abel ließ sich von ihm erzählen. »Ich heiße Ernst«, begann er seinen Bericht – als ob dies am wichtigsten wäre. Was folgte, war etwas wirr und recht traurig. Die triste Chronik wurde oft unterbrochen durch allgemeine Betrachtungen schwermütiger und bitterer Natur, die sich meistens in den Worten: »Es ist alles eine große Scheiße!« resümierten. Die ersten Jahre des Exils hatte Ernst – wenn man ihm glauben durfte – in Prag zugebracht, mit einem Kameraden zusammen, einem feinen Kerl, der jetzt verschollen war. »So einen finde ich nie mehr. Den haben sie inzwischen sicher auch irgendwo umgebracht.« Seither hatte er nirgends länger bleiben dürfen als nur einige Wochen. »In der Schweiz«, sagte der Bursche – und plötzlich hatte er ein sanftes, beinah seliges Lächeln – »da ist es mir gut gegangen. In Zürich – da war es schön … Aber die Fremdenpolizei … Es ist eine große Scheiße … Aus dem Bett hat man mich rausgeholt, ohne Rücksicht auf die Dame, die bei mir war …« Dies hatte keineswegs zynischen Klang, auch prahlerisch war es nicht gemeint. Im Gegenteil verstand Abel, daß jenes dankbar ergriffene Lächeln, das eben noch die abgemagerte Miene des Vagabunden verklärt hatte, mit der erwähnten »Dame« in Zusammenhang stand.
Er erzählte noch lange von seinen Abenteuern auf den Landstraßen und in den Herbergen vieler Länder; von den Zusammenstößen mit der Polizei in Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland. Manches klang unwahrscheinlich, einiges war wohl gelogen, am Ende stimmte vielleicht nicht einmal die Geschichte mit dem freundlichen Mädchen in Zürich. Abel indessen war geneigt, alles zu glauben oder doch für möglich zu halten. »Es muß etwas für Sie geschehen, junger Mann«, meinte er väterlich. Er hatte Beziehungen zu einem Comité für Flüchtlingshilfe in dieser Stadt. Eigentlich war es für Juden da, nahm sich aber auch anderer Emigranten an, wenn sie ihre Not und die Ursachen ihrer Emigration nachweisen konnten. »Zwar kenne ich den Leiter der Organisation noch nicht persönlich« – Abel sprach mehr zu sich selber als zu seinem Besucher. »Aber sicher wird er mich empfangen. Der könnte Ihnen wohl behilflich sein … Ich will mir nur einige Notizen über Ihre Vergangenheit machen.«
Während der Professor am Schreibtisch saß, unternahm Ernst einen sehr ungeschickten, dilettantischen Versuch, die goldene Taschenuhr zu stehlen, die auf dem Kaminsims lag. Abel bemerkte es gleich; er war mehr gelangweilt und etwas angewidert als empört oder erstaunt. »Lassen Sie doch den Unsinn!« sagte er müde, ohne den Kopf ganz von seinen Papieren zu wenden. Daraufhin fing der junge Mann zu weinen an. Er weinte heftig, ohne übrigens das Gesicht mit der Hand zu bedecken. Sein Mund, zwischen dem roten Bart, verzerrte sich wie bei einem kleinen Kind, und aus den hellen, schmalen Augen flossen die dicken Tränen. Die Uhr legte er behutsam wieder auf den Kaminsims; es war eine hübsche Uhr, mattgolden, mit einem altmodisch verschnörkelten Monogramm verziert; Abel hatte sie von seinem Vater geerbt, ein Familienstück, er hätte sie ungern verloren. Eigentlich war er selbst etwas erstaunt darüber, daß er fast keinen Unwillen gegen den Burschen empfand, der da stand und flennte. Um nur irgend etwas zu sagen, erkundigte er sich – nicht sehr lebhaft interessiert, wie ein Arzt, der eine pflichtgemäße Frage stellt: »Sind Sie Kleptomane?« – »Keine Spur!« beteuerte der Bursche, der vielleicht gerade die Vorstellung, er könnte ein Dieb aus krankhafter Veranlagung sein, als besonders verletzend empfand. »Sicher nicht! So was Gemeines bin ich nie gewesen! Aber man kommt ja vollständig herunter! Der Mensch verdirbt und verfault ja bei so einem Leben. Mit dem Gesetz ist man sowieso ständig in Konflikt, weil man sich doch illegal im Lande aufhält. Da meint man schließlich, es kommt gar nicht mehr darauf an …« Dies schien dem Professor einzuleuchten. Er nickte ernsthaft; dann riet er dem jungen Mann: »Trocknen Sie doch mal Ihr Gesicht ab! Es ist naß von Tränen.« Der erfolglose, reuige Dieb schüttelte tragisch den Kopf, als wollte er sagen: ›Es geschieht mir gerade recht, daß ich hier vor Ihnen stehen muß mit einem Gesicht, über das Tränen laufen – wie ein Schulbub, den man ausgeschimpft hat. Nein, ich trockne meine Backen nicht. Ich fühle