Klaus Mann

Klaus Mann - Das literarische Werk


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Gedanken zu bringen, bot er ihm noch Kaffee und Butterbrot an. Ernst zeigte immer noch Appetit, obwohl er doch schon vorher viel gegessen und außerdem inzwischen seelisch einiges durchgemacht hatte. »Kein Mensch braucht einen!« erklärte er, während er kaute. »Man verliert alle Selbstachtung, wenn man das Gefühl hat, überflüssig auf der Welt zu sein. Ohne Selbstachtung kann man nicht leben.« Auch dies war richtig; Abel mußte wieder bestätigend nicken. »Haben Sie denn keine politischen Ideale?« wollte er wissen. – »Ich hatte mal welche.« Der heruntergekommene Schupo zuckte bitter mit den Achseln. »Aber so was wird einem ja ausgetrieben in dieser beschissenen Welt. Wie soll man denn noch an die Demokratie glauben, wenn sogenannte demokratische Staaten sich so gegen unsereinen benehmen? Behandelt wird man, als wäre man ein räudiger Hund – und soll Idealist bleiben!« Er lachte höhnisch, wobei schadhafte Zähne sichtbar wurden. Sein Gesicht war immer noch naß von den salzigen Tropfen, die abzuwischen er sich aus lauter Trotz und Gram geweigert hatte. – »Na, wir wollen mal sehen, was wir für Sie tun können!« meinte abschließend Abel. Ehe der Besucher ging, wiederholte er noch, es sei alles eine ungeheuer große Scheiße; dann bat er nochmals um Verzeihung wegen der Sache mit Benjamins goldener Uhr. Abel sagte: »Das habe ich schon vergessen.« Der andere konnte es gar nicht fassen und hätte beinah wieder zu weinen begonnen – aber aus Dankbarkeit, vielleicht auch aus Erstaunen; denn er hatte nicht mehr an die Güte geglaubt.

      Abel setzte sich, durch die Vermittlung eines Bekannten, mit dem Leiter des Jüdischen Hilfscomités in Verbindung. Der erklärte sich sofort bereit, ihn zu sehen. »Kommen Sie bitte am nächsten Donnerstag gegen vier Uhr!« schlug er brieflich vor. »Ich werde Sie sofort persönlich empfangen. Es wird mir eine Ehre sein, Herr Professor, Ihre Bekanntschaft zu machen.« – Benjamin ging hin; die Visite wurde ein kompletter Mißerfolg.

      Der Vorplatz, in dem dreißig oder vierzig Menschen warten mußten, sah trostlos aus. Es gab keine Stühle, nur eine schmale Holzbank an der getünchten Wand; auf der saßen, eng aneinandergedrängt, jammervolle Figuren: alte Weiber oder ausgemergelte Männer – die Gesichter unbeweglich in die Hände gestützt oder die Köpfe nervös hin und her wendend, als lauschten sie in die Ferne, aus der irgendeine angenehme Botschaft überraschend kommen könnte. Indessen war nichts zu hören als die mürrische Stimme eines Mannes, der hinter einem Schalterfenster stand und von dort aus speckig abgegriffene Pappschilder mit Nummern verteilte. Auch Abel sollte eine bekommen; erklärte aber: »Ich habe eine persönliche Verabredung mit Ihrem Chef. Ich nehme an, er wünscht mich gleich zu sehen.« Der Beamte erwiderte nur: »Warten Sie!« Machte jedoch keineswegs Miene, Namen oder Wunsch des Professors an irgendeine andere Instanz weiterzuleiten.

      Benjamin hatte Muße, sich seine Umgebung genauer zu betrachten. Neben dem Schalter hing ein großes Schild, auf dem stand in fetten Lettern zu lesen: »Absolute Ruhe! Vermeidet politische Gespräche! Sie könnten belauscht werden und Anlaß zu Gerüchten geben, die uns schaden!« Übrigens sahen die Unglücklichen, die sich hier drängten, durchaus nicht aus, als hätten sie Lust, über die Weltlage zu debattieren. Ihre eigenen Sorgen waren gar zu groß; für die allgemeinen blieb ihnen kaum Interesse. Sie unterhielten sich, trotz der warnenden Tafel – freilich mit angstvoll gedämpften Stimmen und nur über ihre tristen Privataffären. Benjamin unterschied mehrere deutsche Dialekte; auch östliche Idiome kamen vor: Polnisch, Ungarisch, Tschechisch, Rumänisch. – »Nach England ist überhaupt nicht mehr reinzukommen!« behauptete pessimistisch ein junger Mann. Ein anderer sagte: »Ich warte schon seit zweieinhalb Jahren auf mein französisches Visum.« Der Verdacht lag nahe, daß er während all dieser Zeit nichts getan hatte, als eben auf das französische Visum zu warten. Trotzdem blieb er hoffnungsvoll. »Aber nächste Woche bekomme ich es – der Konsul hat mir’s versprochen!« Ein dritter klagte: »Mich wollen sie nach Deutschland zurückschicken! Dabei habe ich, ehe ich wegfuhr, auf der Berliner Polizei einen Schein unterschreiben müssen, daß ich niemals wiederkommen will. Wenn ich nun wieder anrücke – die sperren mich doch glatt ein! So was kann man doch nicht von mir verlangen! Die sperren mich doch ganz bestimmt ein!« – In einer anderen Gruppe sprach man von Palästina. »Mein Vetter ist Kellner in Tel Aviv; verdient ganz anständig, ist recht zufrieden …« – »Aber in Südamerika soll es besser sein!« wußte ein ganz Gescheiter. »Meine Schwester hat einen Hutsalon in Buenos Aires …«

      Andere versammelten sich um eine weibliche Person von dürftigem Aussehen, die heftig weinte. Sie hielt ein kleines Kind, das sie nun dramatisch in die Höhe reckte. »Nein, ich gehe nicht zum deutschen Konsul!« rief sie flehend. »Dort werde ich eingesperrt und mein Kleines auch! Mein Bräutigam – ich meine: der Vater meines Kindes – hat mir fest versprochen, daß ich das holländische Visum bekomme, ohne daß ich vorher beim deutschen Konsul war!« Mitleidige und tröstliche Stimmen ließen sich hören; vor allem die Frauen nahmen sich der hysterisch Schluchzenden an. Man redete ihr vernünftig zu: »Aber seien Sie doch nicht so ungeschickt! Nicht so ängstlich! Man beißt Sie doch nicht auf dem deutschen Konsulat! Sie müssen sich Ihren Paß verlängern lassen!« – Die Ärmsten: es tat ihnen wohl, ihrerseits einmal mitleidig sein und sich im Vorteil fühlen zu dürfen gegenüber einer, die nicht mehr aus noch ein zu wissen schien. Denn die Weinende blieb dabei: »Ich kann nicht und ich will nicht! Mit meinem Kind zu den Nazis?!« fragte sie pathetisch – um dann selbst zu erwidern: »Nie und nimmer!« Schließlich berief sie sich nochmals auf das Versprechen ihres Bräutigams – vielmehr: »des Vaters meines Kindes«, wie sie pedantisch hinzufügte.

      Ihre Klagen machten viel Lärm – was zur Folge hatte, daß ein Herr mit zorngeröteter Miene eintrat und seinerseits brüllte: »Was ist hier los?! Ich verbitte mir das!« Sofort verstummten alle; der Herr jedoch schimpfte weiter; nun war es ein bleicher Unterbeamter, der den großen Zorn des Vorgesetzten über sich ergehen lassen mußte. – »Habe ich Ihnen nicht zehnmal gesagt, die Leute sollen im oberen Wartesaal bleiben, wenn sie ihre Nummern haben? Immer wieder dieser Radau direkt vor meinem Bureau! Wozu haben wir denn das zweite Stockwerk? – Das ist eine Unordnung! Eine Sauerei! Gar nicht auszuhalten!« Der Herr hielt sich die Fäuste an die Schläfen; er schien fürchterlich enerviert. Die Wartenden drängten sich schon zur Treppe; der Unterbeamte – selbst ganz gebückt vor Schrecken – trieb sie wie eine Herde. »Marsch, marsch! Hinauf! Was steht ihr denn noch herum! Marsch, marsch, marsch!« Er trat auch an Abel heran, der zögernd zurückblieb. – »Worauf warten Sie denn? Sie hören doch, was befohlen worden ist. Hier ist die Treppe – marsch, marsch, marsch – hinauf!«

      Abel meinte zu träumen. ›Wo bin ich denn?‹ – besann er sich entsetzt. ›In einem Kasernenhof? Dort kann es so schlimm nicht sein … In einem Konzentrationslager …? Mein Gott: die Unglücklichen fliehen Deutschland – um hier dies zu finden …‹ – Er sagte, mit etwas bebenden Lippen: »Wenn ich recht verstanden habe, so sollen nur die Herrschaften, die im Besitz von Nummern sind, ins obere Stockwerk gehen. Ich habe keine.« – »So lassen Sie sich gefälligst eine geben!« fuhr der Mann ihn an. »Jeder braucht eine Nummer.« – »Ich nicht«, versetzte Benjamin, möglichst gelassen. »Ich habe eine persönliche Verabredung mit Ihrem Chef.« – Hier war es der wütende Herr, der sich einmischte. »Was ist denn hier los?!« Nur die Stimme eines preußischen Unteroffiziers kann solchen Klang haben. »Weigern Sie sich etwa, nach oben zu gehen – he?!« – Abel sagte: »Ich möchte lieber hier warten. Ich habe eine persönliche Verabredung mit Herrn Nathan.« – »Eine persönliche Verabredung mit Herrn Nathan! Ist ja ausgezeichnet!« Der Herr schien vor lauter Ingrimm beinah wohlgelaunt zu werden. Er lachte krächzend, schlug auch die Hände, in einem Anfall von wilder Amüsiertheit, über dem Kopf zusammen. »Sie möchten lieber hier warten! Ist ja famos! – Da könnte jeder kommen!« brüllte er, plötzlich wieder entsetzlich ernst. »Bei uns gibt’s keine Ausnahmen, keine Extrawürste! Alles geht hübsch in Ordnung! Jeder bekommt seine Nummer! Alle werden nach der Reihe vorgelassen! – Gehen Sie hinauf!« forderte er gedämpfter, aber erst recht unheilverkündend. »Oder scheren Sie sich fort!« Dies war als sein letztes Wort gemeint; er stand drohend da, schien auch dazu bereit, mit den Fäusten auf den anderen loszugehen. Abel brachte nur noch hervor: »Eine Schande! Eine unsagbare Schande!« – und war schon am Ausgang. Der Zornige höhnte hinter ihm her: »Auf Wiedersehen!«

      In einem langen Brief an Herrn Nathan formulierte Benjamin seine Entrüstung und seinen Schmerz. »Nicht mich hat man gekränkt oder beleidigt«, schrieb er mit einer Hand, die noch zitterte.