Elke Schwab

Kullmann stolpert über eine Leiche


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ihn verraten könnte. Hollmann hatte auch gesagt: »Solange er nichts hinterlässt, womit sich seine Aktivitäten nachweisen lassen, können wir nichts tun … Es wird uns nicht gelingen, die Staatsanwaltschaft von strafbaren Handlungen zu überzeugen, wenn wir keine Fakten liefern.« Roland wollte keine Fakten liefern – er verfolgte sein Ziel mit aller Vorsicht und machte Trixi damit wehrlos.

      Das brachte sie auf eine neue Idee. Bevor sie den Rechner wieder ausschaltete, startete sie eine Recherche bei Google über Stalking. Es gab erstaunlich viele Treffer. Sie las fasziniert einiges über dieses unerwünschte Nachstellen und die psychischen und physischen Auswirkungen. Darin fand sie auch bestätigt, was Hollmann ihr gesagt hatte. In Deutschland war es schwierig, mit dem Problem Stalking bei Polizei, Staatsanwaltschaft oder Gericht Gehör zu finden, weil es erst allmählich ins Bewusstsein drang.

      Eine Weile starrte sie auf die vielen Informationen auf ihrem Bildschirm, bis die Buchstaben vor ihren Augen flimmerten. Besser wäre ein Buch. Aber woher nehmen und nicht stehlen? Kurzerhand klickte sie den Internetkatalog der Stadtbibliothek an, der ihr unvermittelt anzeigte, dass einige Titel verfügbar waren. Aufgeregt suchte sie die Spalte mit den Öffnungszeiten. Erleichtert las sie, dass die Bibliothek von Dienstag bis Samstag durchgehend geöffnet hatte. Also würde sie gleich morgen in der Mittagspause dorthin gehen, sich Fachlektüre über das Phänomen Stalker heraussuchen und im Lese-Café, das eigens dafür eingerichtet worden war, darin schmökern.

      Dieser Entschluss gab ihr das beruhigende Gefühl, nicht tatenlos zuzusehen. So gelang es ihr, mit der Tatsache, dass jemand etwas vor ihre Haustür gelegt hatte, besser fertig zu werden.

      *

      Am nächsten Morgen stolperte sie über einen Käfig. Ihr Herzschlag setzte aus, ihr wurde ganz schlecht. Vor ihr stand ein Katzenkäfig, in dem ein kleines Kätzchen lag – erfroren!

      Nach mehrmaligem Würgen machte sie sich auf den Weg zur Arbeit. Den Katzenkäfig stellte sie zur Seite, weil sie das arme Geschöpf jetzt nicht anfassen konnte. Sie schob ihr Fahrrad an den Autowracks vorbei, als sie eine Stimme hörte: »Mörderin! Mörderin! Du bist schuld an ihrem Tod.«

      Diese körperlose Stimme, die vom Autofriedhof herüberklang, ging ihr durch Mark und Bein. Diese hässlichen Worte klangen in ihren Ohren, bis sie am Friseursalon ankam. Sie war zu spät dran. Käthe bedachte sie mit einem besorgten Blick und fragte: »Ist wieder etwas passiert?«

      Trixi schämte sich maßlos, dass sie das arme Kätzchen hatte erfrieren lassen. Deshalb wollte sie den Vorfall lieber für sich behalten.

      »Du hast doch was.«

      »Ich werde von dir immer nur belehrt, wie ich es besser machen könnte. Darauf kann ich verzichten.«

      »Entschuldige, dass ich es gut mit dir meine.«

      »Mit diesem Kerl ist einfach nicht zu reden, er ist ein Psychopath. Er tut Dinge, die mir Angst machen.«

      »Ich glaube nicht, dass er gefährlich ist. Du hast zu viel Fantasie. Zurzeit schadet sie dir. Denn so viel, wie du in der kurzen Zeit erlebt haben willst, schafft einer allein gar nicht anzustellen.«

      »Egal«, murrte Trixi. »Ich möchte heute kurz weggehen. In der Mittagspause. Ist das okay für dich?«

      Käthe nickte, fragte aber nicht nach dem Grund.

      Trixi bemühte sich, auf die Gespräche der Kundinnen einzugehen, um sich abzulenken. Es war ein Samstag, also viel zu tun. Zum Glück ließ der Betrieb in der Mittagszeit etwas nach. So konnte Trixi ruhigen Gewissens gehen. Sie eilte zur Bushaltestelle. Als sie in den Bus einstieg, glaubte sie, einen weißen Lieferwagen der Firma Internationaler Paketdienst zu sehen. Lauerte ihr Roland Berkes auf?

      An der Bushaltestelle vor der Stadtbibliothek stieg sie aus. Sie schaute sich um. Von Roland keine Spur. Sie hatte sich wohl getäuscht. Sie näherte sich dem Gebäude aus grauem Stahl, Beton und Glas mit raschen Schritten, trat ein und passierte den schmalen Durchgang, der ins Reich der Bücher führte. Auf einem Zettel hatte sie sich den Standort der verfügbaren Titel zum Thema Stalking notiert. Sie fand das Regal auch sofort, nahm sich 3 Bücher heraus und ließ sich im Lese-Café im Erdgeschoss an einem freien Tisch nieder.

      Sie schaute aus dem Fenster. Die Aussicht reichte bis zum großen Gustav-Regler-Platz, über dem das Bürgeramt wie eine gläserne Brücke schwebte. Seinen Ursprung hatte das futuristische Gebäude auf der kurzen Seite der Bibliothek und mündete in das neugotische Bauwerk des Rathauses von Saarbrücken.

       Sie blätterte im ersten Buch und begann fasziniert zu lesen: »Am 1.1.2002 ist das so genannte Gewaltschutzgesetz in Kraft getreten. Danach erlässt das zuständige Gericht gem. § 1 Abs. 2 GewSchG auf Antrag des Opfers eine Eilschutzanordnung, wenn das Opfer glaubhaft macht, dass eine Person einer anderen mit einer Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit widerrechtlich gedroht hat oder eine Person widerrechtlich oder vorsätzlich in die Wohnung einer anderen Person oder deren befriedetes Besitztum eindringt oder eine andere Person dadurch unzumutbar belästigt, dass sie ihr gegen den ausdrücklich erklärten Willen wiederholt nachstellt oder sie unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln verfolgt.

       Das Opfer sollte eine möglichst detaillierte Aufstellung der Belästigungen mit Orts- und Zeitangaben fertigen und die Angaben an Eides statt versichern. Es muss also nicht erst etwas passieren, bevor die Gerichte tätig werden. Es reicht schon die ernsthafte Drohung.«

      Das war ja interessant. Wie oft hatte Trixi die Polizei schon informiert? Außer ausführlichen Erklärungen hatte Hollmann nichts getan und einfach behauptet, in ihrem Falle gäbe es nichts zu tun. Hier stand, dass eine ernsthafte Drohung ausreiche. Aber nein, ihr musste wohl doch erst etwas passieren. Gebannt las sie die Ausführungen. Doch leider schlug die Aufregung schnell in Ärger um, als sie auf das Kapitel stieß, dass prominenten Opfern, wie Oskar Lafontaine oder Monika Seles besondere Aufmerksamkeit zuteilwurde. In diesen beiden Fällen wurden Stalking-Forschungsgruppen hinzugerufen, um die Motivation der Täter besser nachvollziehen zu können.

      Trixi sah aus dem Fenster und traute ihren Augen nicht: Dort stand Roland Berkes. Ihre Blicke trafen sich. Wartete er etwa auf sie?

      Hastig konzentrierte sie sich auf ihr Buch, aber das wollte ihr nicht mehr gelingen. Wieder schaute sie hinaus.

      Er war weg.

      Sie stand auf und stellte sich direkt ans Fenster, um den großen Platz besser überblicken zu können. So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte ihn nicht mehr entdecken.

      War er wirklich verschwunden oder versteckte er sich vor ihr?

      Sie kehrte an ihren Platz zurück.

      Ein Zettel lag auf dem aufgeschlagenen Buch.

       »Glaub bloß nicht, dass du ein Opfer bist. Du bist an allem selbst schuld.«

      Erschrocken wich sie zurück. Also war Roland Berkes noch hier. Hastig eilte sie zum Ausgang, aber vergebens. Sie konnte ihn nirgends sehen. Es begann zu regnen und sie hatte keine Lust, ohne Schirm hinauszulaufen. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Also kehrte sie zurück. Enttäuscht beschloss Trixi wenigstens den Zettel als Beweismittel zu nutzen.

      Das Buch lag noch an derselben Stelle. Aber der Zettel war weg.

      »Haben Sie Probleme?«, fragte ein Mann.

      »Ja«, antwortete Trixi hastig. »Jemand hat mir eine Drohung ins Buch gelegt.«

      »Sind Sie sicher? Geben Sie mir den Zettel und wir werden uns darum kümmern.«

      »Der Zettel ist weg«, gestand Trixi zerknirscht.

      Der Mitarbeiter der Stadtbibliothek schaute die junge Frau mit einem seltsamen Blick an. Dass er ihr nicht glaubte, erkannte sie sofort. Also konnte sie sich auch den Gang zur Polizei sparen.

      Sie ließ sich eines der Bücher einpacken, passierte die Abhol- und Rückgabekontrolle und verließ das Bibliotheksgebäude.

      Die Temperaturen waren angestiegen, der Regen wurde stärker.