Elke Schwab

Kullmann stolpert über eine Leiche


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haben, für den sie sorgen konnte.

      Am Auto stand bereits ein älterer Herr, den sie fast jedes Mal an dieser Stelle traf. Er trug einen dicken Mantel, Hut und Schal. Trotzdem war seine Nase rot von der Kälte. Als er Trixi erblickte, meinte er mit sorgenvoller Stimme: »Sie sehen angeschlagen aus. Sind Sie krank?«

      Trixi schüttelte den Kopf, was sie besser nicht getan hätte. Vor Schmerz zuckte sie zusammen.

      »Kann ich Ihnen helfen?«

      »Es geht schon«, wehrte Trixi schnell ab. »Ich bin gestern auf den Hinterkopf gefallen. Das tut noch ein bisschen weh.«

      »Gehen Sie lieber zum Arzt und lassen Sie sich untersuchen. Sollte es eine Gehirnerschütterung sein, ist nicht damit zu spaßen.«

      Trixi war gerührt von der Fürsorge. Aus seinen Augen sprach Mitgefühl. Ihr wurde warm ums Herz. Er hielt Brötchen und Kuchen in den Händen. Zufällig wusste sie, dass er erst vor einem Jahr geheiratet hatte – sehr spät für einen so netten Mann. Aber diese Ehe schien ihm gut zu bekommen, denn seitdem war er rundlicher geworden, wodurch er noch mehr Gemütlichkeit ausstrahlte, um die Trixi ihn beneidete.

      »Ich werde Ihren Rat befolgen.«

      »Ich weiß, dass Sie allein leben, seit Ihre Eltern tot sind. Wenn Sie Hilfe brauchen, klingeln Sie einfach bei uns. Meine Frau und ich helfen gern. Wir wohnen in der Kaiserstraße – links um die Ecke, das erste Haus.«

      »Vielen Dank. Zurzeit wohnt eine Freundin bei mir. Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag!« Mit diesen Worten verabschiedete sie sich und eilte nach Hause. Es war schön, einfühlsame Mitmenschen in der Nachbarschaft zu wissen. Die letzten Tage hatten Trixi entmutigt, weil es ihr nicht gelungen war, die Polizei von ihrem Verfolger zu überzeugen. Diese Begegnung hob ihre Laune beträchtlich.

      Käthe stand am Wohnzimmerfenster, als Trixi das Haus betrat. Sie schaute auf den Autofriedhof und meinte verdrossen: »Die Aussicht ist nicht berauschend. Wie hältst du das aus?«

      »Früher stand dort das Haus meiner Freundin Chantal. Wenn ich hinausschaue, sehe ich nicht die hässlichen Autowracks, sondern erinnere mich daran, wie schön es war, als sie noch hier war.«

      »Warum steht das Haus nicht mehr?«

      »Es musste abgerissen werden, weil es mit Asbest verseucht war. Meine Freundin ist mit ihrer Familie weggezogen.«

      Trixis Stimme klang traurig.

      Eine Weile schaute sie zusammen mit Käthe auf die verrosteten Autowracks, bis sie hinzufügte: »Chantal war einfach super. Zusammen waren wir unschlagbar. Wir heckten immer Streiche aus, nahmen nichts und niemanden ernst, machten aus allem ein Spiel. Die Lehrer hatten ihre helle Freude an uns. Aber den meisten Spaß hatten wir, wenn wir die kleinen Quälgeister ärgern konnten.«

      »Welche Quälgeister?«, horchte Käthe auf.

      »Friedhelm Lord, der Sohn unseres Gärtners und Frank Lüderitz, der Sohn der Haushälterin von Chantals Familie.«

      »Nobel geht die Welt zugrunde. So etwas konnten sich meine Eltern noch nie leisten.«

      »Ich glaube, meine Mutter brauchte einen Gärtner, an dem sie ihre Überlegenheit in Sachen Pflanzenkunde demonstrieren konnte. Der arme Mann hatte bei ihr nicht viel zu melden«, meinte Trixi dazu schulterzuckend.

      »Und sein Sohn?«

      »Der auch nicht – ebenso der Sohn der Haushälterin. Die beiden hatten Chantal und ich im Griff.«

      »Erzähl schon«, drängte Käthe.

      »Die Quälgeister wollten uns demonstrieren, dass sie die Krone der Schöpfung sind. Immer versuchten sie uns reinzulegen, aber ihre Tricks waren damals schon uralt. Chantal und ich waren für die Knirpse viel zu raffiniert.«

      »Was habt ihr denn mit den beiden angestellt?«

      »Zuerst einmal gaben wir ihnen Spitznamen. Den Sohn unseres Gärtners nannten wir Lord Helmchen. Chantal taufte ihr Opfer auf den Namen Bugs Bunny

      »Warum diese Namen?«

      »Zum Familiennamen Lord kam hinzu, dass Friedhelms Haare eng am Kopf lagen. Das sah aus wie ein Helm. Der Name hat sich uns regelrecht aufgedrängt«, erklärte Trixi schmunzelnd. »Frank, der Sohn der Haushälterin, hatte vorstehende Zähne, die über die Unterlippe reichten, sodass wir nicht umhinkonnten, ihm den Namen Bugs Bunny zu geben. Zusammen haben Chantal und ich die Buben damit immer geärgert, haben sie gejagt und verprügelt. Das fiel uns leicht, weil beide kleiner waren als wir.«

      »Ihr wart aber ganz schön biestig.« Käthe schüttelte den Kopf.

      »Sie waren so leicht zum Weinen zu bringen. Wir brauchten sie nur bei ihren Kosenamen zu nennen, schon flennten sie los. Das konnten wir uns nicht entgehen lassen.«

      »Was ist aus den beiden geworden?«

      »Keine Ahnung. Als Chantals Familie das Haus verlassen musste, nahmen sie Bugs Bunny und seine Mutter mit. Unser Gärtner wurde fast gleichzeitig entlassen, weil wir einen guten Preis für unseren Garten bekamen. Die Familie ist ebenfalls fortgezogen. Ich habe sie seitdem nicht mehr gesehen.«

      »Wie lange ist das her?«

      »Bestimmt schon fünfzehn Jahre.«

      Sie holten den Weihnachtsschmuck von der oberen Etage und dekorierten das Erdgeschoss. Käthe übernahm das Wohnzimmerfenster, wollte dort elektrische Sterne befestigen, als ihr Blick auf ein Buch fiel. Der Titel lenkte sie von ihrem Vorhaben ab. Er lautete einfach nur Stalking und bezeichnete diesen Fachbegriff als gleichbedeutend für obsessive Verfolgung oder obsessive Belästigung. Methoden wie Briefe, Telefonate, E-Mails, Auflauern und Verfolgen, Drohungen und Liebesbekundungen wurden aufgezählt. 18% aller Frauen und 5% aller Männer in Deutschland werden nach diesem Bericht mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von Stalkern. Das heißt, sie werden längerfristig von einer Person – meist im Liebeswahn – verfolgt, belästigt und teilweise auch bedroht.

      »Was willst du damit?«, fragte sie erstaunt. »Hältst du Roland Berkes für einen Stalker?«

      Trixi nahm ihr das Buch wortlos ab und legte es in den Schrank.

      »Ich habe den ganzen Tag über kein Geräusch gehört, weder am Fenster noch an der Tür. Das Telefon steht still, es gibt keine unerwünschten Geschenke oder Kästen vor deiner Haustür. Heißt das, dass auch ein Stalker mal Urlaub macht?« Käthe ließ sich nicht so einfach abschütteln.

      »Glaubst du, ich habe das noch nicht bemerkt. Ich hoffe die ganze Zeit, dass er endlich irgendetwas tut. Denn nur dann könnte ich dich davon überzeugen, welchem Terror ich ausgesetzt bin. Aber wie es aussieht, weiß er das auch. Ich vermute, dass er abwartet, bis ich wieder allein bin. Dabei hatte ich gehofft, ich könnte dich endlich davon überzeugen, mit mir gemeinsam den Kampf gegen ihn aufzunehmen.«

      »Tut mir leid«, bedauerte Käthe. »Aber manchmal glaube ich wirklich, mit dir geht die Fantasie durch. Kein Mensch kann sich über einen anderen so genau informieren, dass er über jedes Detail in dessen Leben Bescheid weiß.«

      *

      Am Montagmorgen wachte Trixi wieder zuerst auf. Sie bereitete das Frühstück. Dabei fiel ihr Blick aus dem Fenster. Was sie dort sah, überraschte sie so sehr, dass sie mit einem lauten Jubelruf ihre Freundin weckte: »Käthe, es schneit!«

      Sofort war die Freundin wach und sprang aus dem Bett.

      In ihren Schlafanzügen, nur mit Pantoffeln an den Füßen rannten sie hinaus und jubelten »Schnee! Schnee!« Dabei streckten sie ihre Zungen heraus und versuchten einzelne Schneeflocken einzufangen.

      »Schmeckt nach nichts«, stellte Käthe fest.

      »Ich finde, es schmeckt köstlich.«

      Die Schneeflocken fielen ganz dicht; die Luft war erfüllt von kaltem Weiß.

      »Was tun wir, wenn wir eingeschneit werden?«, fragte Käthe, immer noch wie ein verrücktes