Isabella Kniest

Lavanda


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Wiesen. Restliche Nebelschwaden entschwanden in den dunkelblauen wolkenlosen, hoffnungsfrohen Himmel. Viele frostige Nächte hatte es bereits gegeben, noch unzählige mehr würden sehr bald folgen. Die angezuckerten sie umringenden Berggipfel deuteten auf einen langen Winter hin.

      Lilian wandte sich ihr zu – diesem bildhübschen Mädchen.

      Marina.

      Ein dunkelroter knielanger dicker Stoffmantel mit einem breiten Gürtel, enge Jeans, eine schwarze Baskenmütze und edel aussehende Stiefel – seit längerer Zeit fragte er sich, woher sie diese tollen Klamotten bekam. Weder die Mädchen in seiner noch in der Parallelklasse waren so stylish gekleidet.

      Er überlegte zurück.

      Seit der Volksschule kannten sie sich. Viel miteinander gespielt hatten sie nie, gemocht jedoch hatte er sie seit dem ersten Augenblick. In der Hauptschule wurden sie getrennt, sie kam in die Parallelklasse. Glücklicherweise hatte man sie in zwei Leistungsgruppen gleich eingestuft, womit es ihm wenigstens in diesen Stunden erlaubt war, mit ihr in einem Raum sitzen zu dürfen.

      Heute, insgesamt sieben Jahre später, war Lilians einstige anfängliche Zuneigung zu seiner wahrscheinlich ersten großen Liebe herangewachsen. Jedenfalls vermutete er dies.

      Was wusste er mit seinen dreizehn Jahren schon von Liebe? Und doch fühlte es sich wunderschön an, Marina in seiner Nähe zu wissen – dann schlug sein Herz wahnsinnig schnell, seine Hände wurden feucht und manchmal gelang es ihm nicht einmal mehr, irgendetwas Vernünftiges zu erklären oder zu berichten, derart durcheinander brachte sie ihn mit ihrer Anwesenheit. Ihre seltenen gemeinsamen Gespräche hatten ihr Übriges dazu beigetragen.

      »Ich mag dich sehr gern«, gestand Lilian ihr unvermittelt – und wunderte sich selbst über seine ruhige Stimmlage. »Möchtest du mit mir zusammen sein?«

      Sein physischer Zustand hingegen deutete auf einen baldigen Kollaps hin: Seine Muskeln waren bis aufs Äußerste angespannt; er litt unter Kurzatmigkeit, welche er durch gelegentliches Luftanhalten zu kompensieren versuchte; seine Hände bebten, weshalb er sie in die Taschen seiner schwarzen Jacke steckte; und sein Mund fühlte sich wie ausgetrocknet an.

      Er hasste das.

      Weshalb musste sein Körper dergestalt reagieren? Es handelte sich um eine einfache Frage, keinen Abschlusstest!

      Marinas emotionsloser Blick ihrer dunkelbraunen Augen traf ihn mitten ins Herz.

      Er begriff nicht, weshalb dieser Ausdruck ihn verletzte. Sie sah ihn bloß unverbindlich an. Noch keine Abweisung, Beleidigung oder Belustigung hatte ihren Mund verlassen …

      »Tut mir leid … du bist echt lieb … aber –« Sie zuckte die Achseln. Der leichte Herbstwind spielte beschwingt mit ihrem schwarzen glatten Haar. »Ich bin nicht interessiert an so etwas. Und weil du mehr willst, kommt auch eine Freundschaft zwischen uns nicht in Frage. Ich halte das strikt getrennt. Und meine Eltern wollen das genauso.«

      Es fühlte sich wie ein Schlag an. Nein – es war ein Schlag. Tief in seinem Herzen ging irgendetwas zu Bruch. Etwas, – solcherweise dumm es sich in diesem Moment anhörte – das niemals mehr zusammengefügt werden konnte.

      Auf eine grauenhafte Weise erinnerte ihn dieser Schmerz an den durch seine Mutter tagtäglich ausgelösten.

      Lange würde es dauern, bis Lilian begriff, was diese Empfindung konkret bedeutete, wie schwer es war, dieser zu entfliehen, und schlussendlich würde diese neue Facette des Lebens ihm einen beträchtlichen Teil seiner Freunde und Zuversicht rauben.

      »Oh … okay.« Er schniefte. »Dann bis Montag in der Schule.«

      Das wunderschöne Mädchen verabschiedete sich und entfernte sich in die gegengesetzte Richtung. Das rückenlange, glänzende Haar wehte dabei weiterhin sorglos und unbekümmert hinter ihr her.

      Im Gegensatz zu Marina war Lilian nun selbst dieser letzte winzige von seiner Mutter noch nicht vernichtete Rest kindlicher Sorglosigkeit für immer abhandengekommen.

      Wohin würde sein Leben nunmehr einschlagen? Wohin würde sein Lebensweg ihn führen?

      Er begann sich zu fürchten.

      Sollten womöglich alle positiven Dinge, nach welchen er strebte oder sich sehnte, niemals in Erfüllung oder unvermeidlich verloren gehen?

      Lilian blickte zu den hochgewachsenen Bäumen, deren sonnengelbe und feuerrote Blätter durch gelegentliche Windböen von Zweigen gerissen und durch die Lüfte gewirbelt wurden – und eine furchtbare, ihn bis dahin unbekannte Trauer überfiel ihn.

      Bestand das Leben hauptsächlich aus Beschimpfungen, Sorgen, Streit und Abweisungen?

      Offenkundig.

      Und was würde aus ihm werden, wenn Papa starb? Er war der einzige Mensch, mit welchem er über alles unbefangen sprechen durfte.

      Diese fremdartige seinen Brustkorb zusammenziehende Pein verstärkte sich zusehends, und Besorgnisse legten sich bedrohlich über ihn.

      Mamas Distanziertheit, Papas ständige Traurigkeit … sein eigenes Unwissen hinsichtlich seiner Berufswahl …

      Monatlich schien sein Leben komplizierter zu werden, fröhliche Tage nahmen sukzessiv ab.

      Noch eine lange Weile betrachtete Lilian das Farbenspiel des angrenzenden Waldes, lauschte dem beruhigenden Rauschen des durch die noch üppige bunte Belaubung sausenden Windes und dem in weiter Ferne ertönenden kratzigen Rabengeschrei. Mit einem jeden durch die Lüfte gewehten Blatt schien ein kleines Stück seines Herzens abzufallen und die Umgebung sich zu trüben.

      Eine seltsame Frage bildete sich in seinem Verstand: Wie lautete diese eine Strophe des bekannten Herbstgedichts?

      Wer jetzt alleine ist, wird es lange bleiben …

      Scheppernde Teller, klirrende Gläser und lautstark geführte Gespräche zahlreicher Gäste überlagerten eine unmöglich einordenbare Hintergrundmusik. Hinzu gesellte sich das Lachen und Kichern hübsch zurechtgemachter Frauen unterschiedlichen Alters, welche sich vor einer Reihe nicht besetzter Tische aneinanderdrängten. Lavanda bildete das jüngste Glied dieser unförmigen, schnatternden Kette. Siebzehn Jahre alt. Stets war sie die Jüngste in einer Gruppe gewesen – und die Fremde, die nicht Zugehörige.

      Im Gegensatz zu diesen beschwingten, wunderschönen, erwachsenen Frauen war ihr nicht unbedingt zum Lachen und Feiern zumute. Sie fühlte sich deplatziert, unerwünscht. Dass man sie wegzuschubsen versuchte, war ein Grund davon. Dass sie nicht hübsch, weiblich und beliebt war, ein weiterer.

      Lavanda kannte keine dieser lärmenden, selbstbewusst anmutenden Frauen. Die meisten von ihnen sprachen nicht einmal ihre Sprache, geschweige denn hatte sich eine von ihnen mit ihr unterhalten. Wie üblich war sie die halbe Zeit stumm an ihrem Tisch gesessen und hatte den Gesprächen ihrer Mutter gelauscht und das ihr nicht besonders gemundete Essen hinuntergewürgt.

      Bereits während der Fahrt in dieses Oberklasse-Restaurant hatte sie sich ein schnelles Vorüberziehen dieses Abends herbeigesehnt.

      Sie ging nicht gerne aus – speziell abends nicht. Da schaute sie lieber fern oder schlief. Wo andere Mädchen es zu feiern und zu tanzen liebten, zog sie lieber Ruhe und Beschaulichkeit vor. Sie brauchte viel Zeit für sich, um über Erlebtes zu reflektieren – sich selbst zu verbessern, Reaktionen ihrerseits auszuwerten und schlechte Charakterzüge abzuschwächen oder gänzlich abzulegen. Nicht zuletzt deshalb verwirrte Lavanda das von der überwiegenden Zahl der Menschheit bekundete ausgeprägte Verlangen nach Abenteuer und Unterhaltung, Extremsportarten, Adrenalinkicks. Gleichermaßen verhielt es sich mit dieser unverständlichen Begeisterung nach allabendlichen Festen und Zusammenkünften, die Besäufnisse, das ohrenbetäubende Getratsche, die unsinnigen Gesprächsthemen …

      All dies und noch vieles mehr würde wohl ein lebenslanges unlösbares Mysterium für Lavanda darstellen.