Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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es den Oneironauten gelungen, sich einen Freiraum zu schaffen, innerhalb dessen sie von den omnipotenten Agenten des Systems unbeobachtet agieren konnten: die Traumzeit. Sie hatten für jeden „Nauten“ ein umfangreiches und äußerst aufwändig gestaltetes Set von Fake-Schleifen entwickelt, die in sein Eye eingelesen werden konnten und ihn, während er einer subversiven Tätigkeit nachging, in unverfänglichen Situationen zeigten. Neben Modulen, die auf der üblichen Alltagsroutine des jeweiligen Nauten aufbauten, gab es auch etliche, RedAlertFakes genannte Settings, die eingesetzt werden konnten, um in kritischen Situationen der individuellen Überwachung eines MatchingEyes zu entkommen.

      In der Regel provozierte es einen Alarm und den sofortigen Zugriff des Systems auf den Echttaktspeicher eines Eyes, der den synchronen Stream der Aufzeichnung enthielt, wenn die im Blutkreislauf der Citizens zirkulierenden Nanobots eine sprunghafte Veränderung ihres Körperstatus meldeten. Und da die Aktionen der Oneironauten meist mit aus dem Mittel fallenden Ortswechseln und hoher innerer Anspannung und Aufregung verbunden waren, manipulierte der Traumzeit-Hack neben dem Recording auch das GeoTracking und die Körperstatusdaten.

      Esther, die inzwischen derart aufgeregt war, dass sie neben ihrem hämmernden Puls förmlich zu spüren vermeinte, wie auch ihr Blutdruck kontinuierlich anstieg, war sich sicher, dass sie jetzt unausweichlich einen Alarm ausgelöst hätte, würden ihre Körperstatusdaten nicht durch den Hack künstlich unterhalb einer unbedenklichen Schwelle gehalten. Um einen Alarm zu verhindern, hatte sie wohlweislich auch schon lange im Vorfeld, bevor sie ihren DreamKey zur Hand genommen hatte, damit begonnen, ihre Nervosität mit speziellen Atemtechniken einzudämmen.

      Sie musste ihre Aktion im Rahmen eines großzügig gepufferten Zeitfensters planen, das zwischen den RetrievalPoints lag, an denen das System die für die dauerhafte Archivierung bestimmten Daten aus dem Zwischenspeicher ihres Eye abrief; Takt 43.200 und 86.400. Da das System alle seine stationären und mobilen Agenten als unmittelbare organische Verlängerung der eigenen Hardware betrachtete, liefen die Eyes in der Zeit zwischen den RetrievalPoints völlig autonom. An den RetrievalPoints aber wurde ein Sicherheitsstatus gezogen und dazu ein Monitoring sämtlicher in die Software eines Eyes implementierten Parameter vorgenommen. Es war nahezu unmöglich, eine Fake-Schleife über einen solchen Abfragepunkt hinweg aufrecht zu halten, ohne dass der Hack entdeckt werden würde. Esthers Aktion sollte Takt 72.000 starten und maximal 3 Ma­croTakte dauern; sie würde also genügend Takt haben, bis das System am nächsten RetrievalPoint die zu archivierenden Daten von ihrem Eye abzog.

      Sie konnte aber nicht einfach voraussetzungslos eine Fake-Schleife einspielen, sondern musste dazu vielfach äußerst knifflige Übergangs- und Anschlussstellen einnehmen, um die Schnittstellen, an denen der Fake beginnen und enden sollte, mit dem automatischen Recording ihres Eyes zu synchronisieren. Je nahtloser Fake und Recording ineinander übergingen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass der Fake nicht aufflog. Aus diesem Grund begann und endete jede Fake-Sequenz mit einem statischen Setting, das die bewegungslose Esther isoliert von anderen Citizens vor einem Hintergrund zeigte, der sich nicht veränderte. Die Position, die sie dazu jeweils als Anschlussstelle während des automatischen Recordings einnahm, musste mit den Einstellungen des jeweiligen Fakes deckungsgleich sein.

      In Bezug auf Sequenzen, die in ihrem Hexagon spielten, war die Erstellung solch eines passenden Kongruenzsettings kein Problem. Wollte sie dagegen ihr Eye außerhalb ihrer 6 Wände zu einem Ausflug in die Traumzeit überreden, war dies schon schwieriger. Das Andocken einer Fake-Schleife an ein Außensetting war immer dann erforderlich, wenn sie zu einer Aktion auf einem weiter entfernten Ground aufbrach oder zu einer Traumsitzung im Refugium der Oneironauten eingeladen war, das in den Katakomben unter GroundZero lag. Es war in jedem Fall sicherer, die Dauer einer Fake-Schleife so kurz wie möglich zu halten. Auf dem Weg zu einer Traumsitzung fuhr sie also zunächst unter den wachsamen Augen ihres Eyes zu einer auf GroundOne gelegenen Station der Anti­Grav, die sich dadurch auszeichnete, über mehrere tote Winkel zu verfügen, in deren Schutz sie ihren DreamKey entsprechend der aktuell vorgefundenen Situation programmieren konnte. Wenn sie dann eine geeignete Ausgangsposition einnahm, an der sie das Recording ihres Eyes auf eine Fake-Schleife umstellen konnte – beispielsweise eine Shoppingtour, die just an dieser Station der „Grav“ begann –, musste sie darauf achten, dass weder andere Citizens noch der Stream eines InfluenceBoards oder hinter ihr dahingleitende Cabs in den Focus ihres Eyes gerieten. Um hier den richtigen Moment abzupassen, war es erforderlich, ständig den Überblick zu behalten und dann blitzschnell zu reagieren. Zu ihrem großen Bedauern hatte Esther schon so manche Sitzung ausfallen lassen müssen, weil sich mindergauß keine passende Gelegenheit ergeben hatte, ihre Position ent­sprechend freizustellen. Alle Fake-Schleifen endeten immer in ihrem Hexagon, so dass zumindest hier keine Schwierigkeit bestand, den Fake wieder in das normale Recording zu überführen.

      Da ihre aktuelle Aktion sie nicht so weit weg führen würde, startete sie die dafür erforderliche Traumzeit von ihrem Hexagon aus und wählte eine Szene, die sie auf ihrem RestBoard liegend zeigte, während sie Musik hörte und daran anschließend dokumentierte, wie sie noch etwas Housekeeping erledigte, sich danach in ihrer Nasszelle mit einer üppigen Ganzkörperaquamassage für ihre Ruhephase fertig machte und sich dann auf ihr RestBoard legte. Der Fake lief exakt 3 MacroTakte, so dass sie sich gegen Takt 82.800 wieder in ihrem Hexagon einfinden musste. Den Beginn der Schlafsequenz würde sie zeitlich auch noch etwas strecken können, so dass sie noch einen Puffer hatte, sollte ihr etwas dazwischenkommen und ihre Aktion länger als geplant dauern.

      Nachdem Esther ihren DreamKey entsprechend programmiert hatte, verbarg sie ihn so in ihrem Suit, dass sie den Startbutton durch den Stoff hindurch ertasten und betätigen konnte und arbeitete sich wieder hinter ihrem ManagingDesk hervor. Dann fuhr sie ihr RestBoard aus, legte sich rücklings ausgestreckt flach darauf und positionierte die linke Hand direkt an dem Button ihres DreamKeys. Diese Körperhaltung entsprach genau dem Eingangssetting der Fake-Schleife, die sie gewählt hatte. Per VoiceResponse schaltete sie ihre SoundSpheres ein und wählte den Anfang von „We all march to the Middle“, das dann auch in ihrer Fake-Schleife einsetzen würde.

      Im Grunde aber war ihr die Musik völlig egal. Im Grunde war auch ihr Leben unter dem MatchingEye völlig egal: ein Fake. In ihrem Job – sie war JuniorAdvisor bei einem der Betreiber der groundgebundenen AntiGrav – im OmniNet und den MatchingSessions verhielt sie sich wie eine Citizen, die begeistert Angebote wahrnahm und ihre Wahlmöglichkeiten nach allen Maßgaben ihres BuyingGuards voll ausschöpfte. Sie verkör­perte die exakte abstrakte Mitte einer völlig ebenmäßigen Gaußkurve auf zwei Beinen: Sie war immer, im Rahmen einer jeden Wahl, einer jeden Kategorisierung und zu jedem Takt absolut und zu 100 Prozent gemittelt. Ihr wirkliches Leben aber spielte sich in der Traumzeit ab.

      Jetzt dreimal tief durchatmen und dann vorsichtig, so, als würde sie sich kratzen, den Button ihres DreamKeys drücken. Ein leichtes Vibrieren bestätigte ihr, dass ihr Hack geglückt war: Traumzeit! Es hatte immer etwas aufregend Befreiendes, dem alles durchdringenden Blick des Dritten Auges entronnen zu sein. Im Grunde genommen konnte sie jetzt alles tun, was sie nur wollte, ohne befürchten zu müssen, reglementiert und von ihren sogenannten Mates in die zermürbende Routine eines MatchingLoops gezwungen zu werden, um wieder „gemittelt“ zu sein. Aber natürlich wäre es völlig verfehlt, die Traumzeit für irgendwelche mindergaußen Aktionen zu nutzen, dazu war sie den Oneironauten und allem, was sie mit dem Erlebnis des Träumens verband, viel zu sehr verbunden und verpflichtet. Denn nicht die Überlistung der Eyes und die Einleitung der technischen Traumzeit war es, worum es wirklich ging, sondern um das Träumen als solches. Ihr ganzes Bestreben drehte sich um das, was die Traumzeit an der Erfüllung naiver Neugier, grenzenlosen Hoffnungen, ziehenden Sehnsüchten, an neuem Erleben, tiefem Empfinden und ja – überwältigenden Träumen – bereithalten mochte.

      Sie erinnerte sich noch sehr eindrücklich daran, wie es gewesen war, als sie zum ersten Mal die Erfahrung gemacht hatte zu träumen. Irgendwie war sie damals schon lange von dem deprimierenden und verflachenden Gefühl niedergedrückt worden, dass sich ihr Leben in einer endlosen Schleife der immer gleichen Routinen erschöpfte. Alles und jedes war berechnet, vorherbestimmt und absehbar. Ihr ganzes Leben war gemäß den Anträgen des Systems durchgetaktet und von den Mittelungen der Agency of SocialTechnology und den Matching­Loops ihrer Mates fixiert wie die auf Nadeln gespießten Urinsekten in ihren durchsichtigen ConservationBoxes, die