so, als suchte er den Nervenkitzel, um sich zu bestätigen, dass er noch lebte. Er hatte sich Fogg gegenüber aufgeschlossen gezeigt und sich in so manches Gespräch über die untergegangene Literatur ziehen lassen. Mit Mnemonic über die Lebenswelten literarischer Figuren zu reden, war, als würden diese leibhaftig Gestalt annehmen, als würde er sich mit einem Zeitzeugen austauschen, der etwa mit Don Quichotte und Sancho Pansa über die La Mancha geritten war. Fogg hatte das unsäglich genossen.
Doch bald schon hatte sich Mnemonic völlig in sich zurückgezogen. Wenn er aus seinen häufigen Absencen erwachte, deklamierte er in der Regel mit weit ausholender Gebärde ein Gedicht, um dann wieder tief in seinen Grübeleien zu versinken. Es war Fogg nicht mehr gelungen, in einen Kontakt mit ihm zu treten, der über den Austausch der üblichen Floskeln hinausging. Ihm daraufhin keine weitere Beachtung zu schenken und zu hoffen, dass sich sein Zustand vielleicht bessern würde, war ein großer Fehler gewesen. Mnemonics Entschluss, die Datas zu verlassen, traf Fogg jetzt völlig unerwartet.
Die Datas waren eine Clique rivalisierender Psychopathen. Jeder und jede von ihnen verfügte über ein digitales und personales Sicherheitsnetz, dass ihm seine Unabhängigkeit von den anderen Datas sicherte. Die jeweiligen Einflusssphären wurden eifersüchtig gehütet und keiner ließ sich in die Karten schauen. Und offensichtlich war es auch Mnemonic gelungen, sich abzusichern. Seine Drohung, den geheimen Zirkel der Datas in das Licht der Öffentlichkeit zu reißen, sollten seine Vitalwerte rapide unter einen bestimmten Schwellenwert sinken, konnte lediglich ein Bluff sein. Wenn er aber aus seiner verlorenen Identität als Entwickler bei SwellFurniture noch Kenntnisse zutage gefördert hatte, mochte es ihm durchaus gelungen sein, einen derartigen Algorithmus zu entwickeln und entsprechend zu implementieren. Zumal ihm Fogg im ersten Überschwang zu glauben, einen Vertrauten und Freund gewonnen zu haben, einen exklusiven Systemzugang eingeräumt hatte.
Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er hatte sich grob fahrlässig verhalten. Schließlich trug er der Urb gegenüber eine Verantwortung, die niemand anders als er, Phileas Fogg, wahrnehmen konnte. In Zukunft würde er sich niemals mehr so hinreißen lassen. Schließlich – und auch das hatte ihn die Geschichte gelehrt – war Einsamkeit der Preis der Größe. Vielleicht konnte es ihm auch recht sein, dass der cerebrale Cyborg jetzt seine eigenen Wege ging, denn er war sensibel und intelligent genug, im Laufe der Zeit Foggs eigentliche Pläne erkennen zu können und wäre ihm vielleicht gefährlich geworden. Für das Erste konnte er nur hoffen, dass Mnemonic nichts zustieß.
Phileas Fogg rückte sich in seinem Lehnstuhl zurecht, den er nach einer uralten Marke LazyBoy nannte, und ließ sich auf seinem AeroFlat den aktuellen Wert des SocialScoreUrb anzeigen. Dieser nur der Agency zugängliche Index umfasste den gemittelten Wert aller MatchingPoints sämtlicher SocialUnits und heuristischen Vergleichsgruppen der Urb: Er stand auf 73,25 Prozent. Bezogen auf den letzten Bemessungszeitraum von 100 MegaTakten bedeutete das eine Steigerung um ganze 0,25 Prozent. Wenn er das ohne exponentielle Sprünge und neue Sozialtechnologien zu berücksichtigen ganz einfach nur stur linear hochrechnete, würden die sich kontinuierlich beschleunigenden iterativen Prozesse der Mittelung in rund 30 MajorTakten die Hundertprozentmarke und damit den OmegaPoint erreichen, in dem sich die Dinge grundlegend ändern würden.
In einer fest definierten Anzahl unverzichtbarer Kategorien wäre alles Verhalten so dicht um den Mittelwert einer für das grundlegende WellBeing der Citizens notwendigen und das Gemeinwohl förderlichen Ausprägung herum verteilt, dass gerade noch die erforderliche Vielfalt und Varietät vorhanden waren, um die wirtschafts-sozialen Kreisläufe nicht zum Erliegen kommen zu lassen. Denken und Verhalten aller Citizens wären vollständig gemittelt. Die Urb würde in einen Zustand völliger Berechenbarkeit und damit hundertprozentiger Absehbarkeit und Sicherheit eintreten.
Phileas Fogg lächelte in sich hinein. Er stellte sich immer vor, dass dann die Taille der Gaußglocke des möglichen Verhaltens zu einem schmalen senkrechten Strich in der Mitte eingeschnürt wäre. Wie hatte er seinen Leuten in der Agency immer wieder eingeschärft: Überschaubare Vielfalt in gemittelter Qualität.
Er war nun seit 15 MajorTakten ein BigData und jetzt 54. In längstens 30 MajorTakten hätte er sein Ziel der totalen Gleichschaltung allen Verhaltens erreicht. Dann wäre er 84 und da er in der Position war, sämtliche Mittel der transhumanen Medizin auszuschöpfen, konnte er es gut und gerne auf 120 MajorTakte bringen. Im OmegaPoint würde die Stunde der Wiedergeburt des Neuen Menschen schlagen und er, Phileas Fogg, wäre der Demiurg, der diesen Neuen Menschen erschaffen und steuern würde. Das individuelle Denken und Verhalten aller Citizens würde in eine Art TabulaRasa übergegangen sein, die er, wie damals bei CaseOne, völlig neu beschreiben konnte. Durch die totale Gleichschaltung der Sozialisation und die daraus erwachsene absolute Mittelung und Gleichschaltung von Denken und Verhalten hätte er es nicht mit zigtausenden, unberechenbaren, sogenannter Individuen zu tun, sondern trotz der erforderlichen genetischen Diversität nur eine einzige jungfräuliche Eva und nur einen einzigen gestaltbaren Adam vor sich, die er mithilfe des Systems in seinem Sinne beeinflussen und vorsichtig tastend die ersten Schritte unternehmen konnte, die vollkommene Gesellschaft zu formen.
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