Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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Was danach geschah, verlor sich auf Generationen in den Nachbeben der Apokalypse. Da die globale Infrastruktur grundlegend zerstört war, mussten die wenigen überlebensfähigen Zentren der Zivilisation autark werden. Wie mittelalterliche Burgherrn hatten sie Schutzwälle um sich herum errichtet und waren voneinander isoliert und dezentralisiert geblieben, denn die Erfahrung der negativen Folgen einer unumkehrbaren weltweiten Vernetzung blieb dem kollektiven Gedächtnis verhaftet.

      Der Mann, der sich Phileas Fogg nannte, erhob sich aus seinem Sessel, trat an das Panoramafenster, verschränkte die Hände auf dem Rücken und blickte auf die Skyline der Urb, die sich zu seinen Füßen ausbreitete. Die Nachtsimulation war angebrochen und die Laser der DomeAnimation projizierten ein klares Firmament, an dem unzählige Sterne funkelten, die sich periodisch zu jeweils unter­schiedlichen Sternbildern gruppierten. Wie schimmernde Perlenketten durchzo­gen die dicht mit Cabs besetzten Strings der AntiGrav den CapitalGround und verloren sich in der Ferne auf den anderen Ebenen dieses Levels. Weit unter ihm ragten zwischen den Grounds die Spitzen der DomeScraper der Plattformen des nächsttieferen Levels.

      Das war seine Stadt. Sicher lagen da draußen noch andere Städte und im weitesten Umfeld gab es auch etliche agrarische Gemeinschaften. Eine sollte gar matriarchalisch organisiert sein. Aber Genaueres wollte er gar nicht wissen und er hoffte inständig, dass es auch weiterhin zu keinerlei Kontakten oder gar Überschneidungen kommen würde. Denn hier, unter diesen Kuppeln, hatten sich die Dinge überaus vielversprechend entwickelt.

      Gigantische, in einem geostationären Orbit von 22.250 Meilen relativ zur Erde stillstehende Sonnensegel ernteten die Lichtquanten der Sonne und leiteten deren Energie über einen Laser zur Erde in die Kraftwerke der Urb. Die in GenArchen konservierten Stammzellen längst ausgestorbener Arten lieferten ausgedehnten InVitro-Kulturen die Grundlage für die Züchtung von Lebensmitteln aller Art. MaterieKonverter synthetisierten aus wenigen, reichlich vorhandenen Ausgangsstof­fen fast alle Materialien, die die Urb brauchte. Sie war weitestgehend autark und durch die Kuppeln vor den Extremwettern geschützt, die regelmäßig über sie hinweg zogen.

      Aber all das waren lediglich grundlegende Voraussetzungen, die Fogg als Selbstverständlich­keiten ansah. Was ihn wirklich interessierte, waren die Möglichkeiten, die sich vor diesem Hintergrund für die Entwicklung des Menschen eröffneten und als einer der BigDatas befand er sich in der exklusiven Position, hier entscheidend eingreifen zu können.

      Alle 5 BigDatas waren leitende Köpfe der Agency of SocialTechnology, die deren Administration ganz weit nach oben gespült hatte. Da die Agency vor allen anderen Institutionen die entscheidende Schaltstelle zwischen den Anträgen des Systems für die Mittelung aller Citizens und deren praktischer Umsetzung bildete, verstanden sich ihre Mitglieder, die zudem je nach Stellung ihre ganz eigenen Privilegien genossen, als eingeschworene Gemeinschaft. Wenn auch der ein oder andere ahnte, dass es da in den höheren Rängen einen gewissen Zirkel gab, drang nichts davon in die Öffentlichkeit. Was genau seine Mitglieder trieben und auch die Bezeichnung BigDatas, die irgendjemand in dieser Runde einmal gekürt hatte, war dagegen aus guten Gründen ein streng gehütetes Geheimnis.

      Die BigDatas saßen an den Hebeln der Macht und verfügten über Ressourcen, die den unter dem Diktat der Gausglocke stehenden Citizens verschlossen waren. Unter anderem hatten sie Zugang zu den Datenbeständen des SchismaticNet, die sämtliche Inhalte umfassten, die die Urb aus dem digitalen Overkill nach dem Kataklysmus hatte retten können, aber nicht ins OmniNet eingestellt worden waren. Im Zuge der Mittelungstendenzen des Systems spalteten sich zudem kontinuierlich Inhalte des OmniNet ab, die dann ins SchismNet flossen. Die Algorithmen, die das Netz steuerten, beförderten die Grundtendenz, eine unberechenbare Vielfalt von Angeboten und Informationen auf wenige, eindeutig quantifizierbare und damit berechenbare Kategorien hin einzuschränken. Beispielsweise boten hier detaillierte historische Informationen über die Kultur der Zeit vor dem Kata­klysmus keinen unmittelbaren Nutzen, sondern waren eher kontraproduktiv. Entsprechende InformationAreas wurden aber nicht abrupt abgeschaltet, sondern das System veränderte das kollektive Gedächtnis der Urb auf eine evolutive Art und Weise, indem die Nutzung von der Mittelung zuwiderlaufenden Inhalten über einen sehr langen Zeitraum hinweg für die Citizens fast unmerklich ausgeschlichen wurde. In Bezug auf Inhalte, die fester Bestandteil der aktuellen Kultur der Urb waren, konnte sich dieser Prozess durchaus über eine halbe Generation oder noch länger hinziehen. Da das System im Laufe der Zeit immer weniger mit diesen Areas zusammenhängende Anträge machte, wurden auch entsprechende Handlungs- und Wahloptionen immer weniger nachgefragt und die zu ihnen führenden Leads verschwanden allmählich. Hatte dann die Anzahl der Besuche einer InformationArea dauerhaft eine bestimmte Marke unterschritten, wanderte dieser Bereich ins SchismNet und war damit für die Allgemeinheit nicht mehr zugänglich. Im SchismNet aber blieb alles erhalten, denn das System löschte grundsätzlich keinerlei Informationen.

      Wie und wann sich der Kreis der BigDatas konstituiert hatte, war nicht mehr nachvollziehbar und mochte er in der Verfolgung welchen Zweckes auch immer einmal eine feste Struktur gehabt haben, herrschte nun, wie Phileas Fogg erfahren hatte, die absolute Anarchie.

      Er war durch seinen direkten Vorgesetzten eingeführt worden, der seine Karriere von Anfang an protegiert hatte. Anfangs war er gleichermaßen angezogen wie abgestoßen von den Exzessen, die sich ihm da zur Teilnahme anboten. Nach einer gewissen Inkubationszeit aber hatte er sich hemmungslos nachgegeben und sich in einem Machtrausch verloren, der in einem nur durch seine offiziellen Verpflichtungen unterbrochenen Sinnes- und Gefühlstaumel gipfelte, der jenseits all dessen lag, was er sich jemals vorzustellen gewagt hatte. Weniger disziplinierte Charaktere als er wären dem triebhaften Sog dieses Lebens dauerhaft erlegen. So hatten die anderen BigDatas zwar ebenfalls ihre offiziellen Stellen nicht aufgegeben und hüteten, einander argwöhnisch beobachtend, ihre strategische Machtbasis, lebten ansonsten aber ausschließlich ihren ganz privaten Obsessionen.

      Seit einiger Zeit war es üblich, sich den Nimbus einer historischen oder fiktiven Figur zu verleihen und deren Besonderheiten und Eigenarten in aller Exzentrik auszuleben. Die spärlichen historischen Bestände über Kultur und Geschichte vor dem Kataklysmus, auf denen die BadPastLessons der Authority of PoliticalIndoctrination beruhten, konnten mit der Tiefe und dem Detailreichtum der diesbezüglichen Informationen des SchismNet in keiner Weise mithalten. Aber letztlich dienten die Lessons ohnehin nur als dünne historische Folie, gegen die sich die technologischen und wirtschafts-sozialen Errungenschaften der Urb umso positiver abheben ließen.

      Phileas Fogg goss sich noch etwas Tee in eine dünne Porzellanschale. Er zog diesen „Earl Grey“ genannten Aufguss, den er sich aus verschiedenen Kräutern und Aromen synthetisieren ließ, den aktuellen Push- oder SmoothDrinks bei weitem vor. Er erinnerte sich noch lebhaft daran, wie er im Rahmen einer Recherche im SchismNet auf die Daten des Project Gutenberg gestoßen war und ihn die Welt, die sich ihm da eröffnete, derart absorbiert hatte, dass er abrupt von einer sinnlichen in eine geistige Ekstase geraten war. Zwar im exklusiven Kreis der BigDatas angelangt, war er doch als in der UniqueSchool of Averaging sozialisierter Citizen mit schematisierten Kurztexten, Manuals, Abstracts und Briefings aufgewachsen, und kannte die Art von Texten nicht, die hier als „Buch“ bezeichnet wurde. Über diese Bücher in das Denken, Empfinden und Erleben längst verstorbener Menschen, längst untergegangener Welten eintauchen zu können, wirkte wie eine Droge, die ihn völlig vereinnahmt hatte, von der er allerdings auch sicher war, dass sie Gift für die zukünftige Entwicklung des Menschen darstellte. Natürlich war es völlig unmöglich, auch nur einen repräsentativen Bruchteil der 60.000 hier über die Wirren des Kataklysmus geretteten Werke zu lesen. Doch hatte er sich im Laufe seiner Zeit als BigData über die Werke der Autoren genannten Urheber von Aristoteles bis Zola einen guten Überblick verschafft.

      Weniger die Sach- und Fachbuch genannten Schriften als vielmehr die als „Literatur“, „Belletristik“ oder „Romane“ bezeichneten Bücher hatten ihm einen tiefen Einblick in die Natur des Menschen vermittelt. In der Regel ging es um einen Helden, eine Heldin oder ein sogenanntes Individuum, die etwas suchten, das „Glück“ genannt wurde und dabei etwas trotzten, das „Schicksal“ hieß und in keiner Weise berechenbar war oder sich gegen eine „Familie“ genannte Gruppe von Menschen durchsetzten oder die Fesseln der Gesellschaft sprengten, um ihren eigenen Weg zu diesem Glück zu finden. Ein anderes Thema, das noch weitaus größeren Raum einnahm, war die sogenannte