Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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sich sogar sinnliche mit geistigen Genüssen verbinden. Aber dieses Leben ist völlig sinnlos, völlig bedeutungslos. Es ist egal, was wir tun oder auch nicht tun, wir erreichen damit nichts. Alles ist belanglos, austauschbar, beliebig. Wir haben alles und damit haben wir nichts. Denn nichts bietet uns Widerstand, nichts dürfen wir erwarten, an nichts können wir wachsen ...“

      „Also, ich verfüge durchaus über ein Körperteil, an dem ich wachsen kann“, unterbrach der Joker genannte Mann.

      Der Mann mit der Schädelplatte lächelte gequält. „Es sei dir unbenommen, in der Funktionalität deiner Schwellkörper zu schwelgen. Mir aber reicht das und auch alles Weitere, was euer Zirkel zu bieten hat, nicht mehr. Ich bin euch unendlich dankbar, dass ihr mich damals aufgenommen habt, als ich mich immer und immer wieder zwischen meinen cerebralen Windungen in partieller Amnesie verloren habe und völlig orientierungslos war. Aber inzwischen habe ich zu einer neuen Persönlichkeit gefunden und kann dieses Leben auf gar keinen Fall weiterführen. Im Übrigen fühle ich mich nach wie vor an mein Wort gebunden, alles, was ich hier erlebt und gesehen habe, für mich zu behalten. Auch habe ich keinen Grund, euer Treiben öffentlich zu machen. Ihr schadet ja niemandem und die kleine parasitäre Eiterbeule dieses Zirkels kann die Urb ohne Weiteres verkraften.“

      Auf das Gesicht von Phileas Fogg stahl sich ein hintergründiges Lächeln.

      „Immerhin hat dir diese Eiterbeule geholfen, wieder Ordnung unter deiner Schädelplatte zu schaffen“, sagte der de Sade genannte Mann und nahm sich eine Auster von einer Platte mit Seafood, die er mit Zitrone beträufelte und genüsslich durch die gespitzten Lippen in den Mund sog. „Und außerdem hatte ich den Eindruck, dass du dich zeitweilig durchaus gerne an diesem Eiter delektiert hast.“

      „Das will ich auch gar nicht abstreiten und unter anderem ist genau das Teil meines Problems. Und wie auch immer ich jetzt zu eurem Treiben hier stehen mag: Ich bin euch verpflichtet. Aber ich kann nicht wissen, ob ihr meinen Worten Glauben schenkt oder aber davon ausgeht, ich sei eine latente oder vielleicht sogar akute Bedrohung für euch. Seid hiermit gewarnt, für diesen Fall habe ich vorgesorgt: Sobald sich meine Vitalwerte abrupt verschlechtern sollten, werden unmittelbar im OmniNet in sämtlichen NewsFeeds bestimmte Hinweise freigeschaltet, deren Veröffentlichung nicht in eurem Sinne sein dürften. Wenn wir uns aber, was ich doch sehr hoffe, gegenseitig in Ruhe lassen, steht einer friedlichen Koexistenz nichts im Wege.“

      „Nun, ich denke, jeder von uns hat auf die ein oder andere Weise so seine Vorkehrungen getroffen, noch möglichst lange der Freuden dieser trauten Gemeinschaft teilhaftig sein zu können – oder sich meinetwegen auch woanders zu verlustieren“, kicherte die Fratze. „Ich für meinen Teil wüsste nicht, wo es mir in der gesamten Urb besser gehen könnte als exakt hier.“

      „Ich für meinen Teil bedauere deine Entscheidung, Mnemonic“, sagte der Phileas Fogg genannte Mann, „sehe aber auch, dass du deinen Standpunkt hast. Wir sind die BigDatas. Als Gruppe reicht unser Arm weit und keiner von uns lässt die anderen in seine Karten schauen. Wir sind die Einzigen in der Urb, die nicht unter dem Diktat der Gaußkurve stehen und deren Bestimmung nicht das Mittelmaß, sondern Individualität und Extravaganz sind. Und da wir, um dieses Privileg aufrecht erhalten zu können, zwischen uns klare Verhältnisse schaffen und halten müssen, haben in der Tat jede und jeder von uns ganz eigene Vorkehrungen getroffen. Schließlich“, er lachte, „können wir im Falle von Unstimmigkeiten keinen bana­len Matching­Loop starten. Auch wenn wir völlig verschiedener Auffassung darüber sein mögen, wie es sich zu leben lohnt, lässt sich vielleicht das Diktum von Alexandre Dumas zitieren, eines frühen Zeitgenossen des von mir verehrten Jules Verne: ,Einer für alle. Alle für einen.‛ Im übertragenen und deutlich weniger romantischen Sinne bedeutet das: Wenn wir, die Datas, einem einzelnen von uns schaden, schaden wir uns allen. Und wenn einer von uns den Datas schadet, schadet er sich selbst.

      „Zu Zeiten der von mir verkörperten Maggie Thatcher nannte man so etwas Gleichgewicht des Schreckens“, sagte die Frau mit der Föhnwelle.

      „Das gefällt mir schon wesentlich besser als die gefühlsduselige Gruppendynamik von Dumas“, grinste Joker.

      „Damit wäre das also geklärt“, stellte de Sade fest, während er einen Teles­kopgreifer ausfuhr, damit eine Sauciere ergriff und deren kochend heißen Inhalt langsam und genüsslich auf die Brust des auf die Tafel drapierten Mannes rinnen ließ.

      „Wer so wie ich Hunger verspürt, möge mit mir die Tafel teilen. Aber auf die Trägerin der liebreizenden, himbeerbekränzten Fleischhügelchen dort erhebe ich alleinigen Anspruch. Und ich weiß auch schon, aus welch anderer Muschel ich eine dieser deliziösen, meersalzenen Austern schlürfen werde.“

      Im obersten Stockwerk des Towers der Agency of SocialTechnology ruhte der Mann, der sich Phileas Fogg nannte, in einem ledergepolsterten Ohrensessel in seiner Bibliothek. Regal um Regal säumten Reihen von in die unterschiedlichsten Einbände gefassten Bücher die Wände. Er hatte diese Holzbücher aus dem zusammengetragen, was ihm an erhaltenen Beständen der untergegangenen Kultur mit der Zeit nach und nach zugänglich geworden war und sich auch das ein oder andere ihm wichtige Buch aus digitalen Archiven auf ZelluloseSheets fixieren und nach Maßgabe entsprechenden historischen Bildmaterials binden lassen. Aus einem die gesamte Stirnwand einnehmenden großflächigen Panoramafenster genoss er einen atemberaubenden Blick über die gesamte Urb. Immer, wenn er sich sammeln und nachdenken musste, zog er sich in seinen ReformClub zurück, wie er seine Bibliothek nach dem Lieblingsaufenthalt seines literarischen Vorgängers nannte. Wohlig dehnte er sich in seinem bequem geschnittenen Hausrock aus dunkelgrünem Samtimitat und starrte sinnend in die Flammen des Feuers, das in einem offenen Kamin loderte und die Buchrücken mit zuckenden Schatten überzog.

      Es mochte albern sein, aber er liebte die Zeit des vorletzten Jahrhunderts des ausgehenden zweiten Jahrtausends, der die Figur entstammte, die er für seinen Avatar gewählt hatte: Phileas Fogg, Protagonist einer Fiktion des Autoren Jules Verne, die im sogenannten viktorianischen Zeitalter angesiedelt war. Neben den etwa 1.500 Holzbüchern seiner Bibliothek hatte er den Großteil seiner Kenntnis der Zeit vor dem Finalen Kataklysmus aus einer Datenbank namens „Project Gutenberg“ gewonnen, die wie die anderen historischen Datenbestände der Urb aufgrund welcher Umstände auch immer nicht in dem großen Datencrash unterge­gangen war. Dem BigData erschien die Zeit des Phileas Fogg als eine Epoche, in der die Menschheit, obwohl massiv zum Fortschritt aufgebrochen, ihre Unschuld noch nicht verloren hatte. Wissenschaft und Forschung waren zunehmend in methodische Bahnen geflossen und mit der immer stär­keren Nutzbarmachung der Dampfkraft hatte die beginnende Industrialisierung Raum gegriffen. Im Zuge der Kolonialisierung hatte sich die gesamte Welt erschlossen – Phileas Fogg hatte gewettet, sie in 80 Tagen umrunden zu können – ohne jedoch schon in eine umfassende Vernetzung verstrickt zu sein. Anders als im Schmelztiegel Amerika war im britischen Empire die soziale Mobilität noch nicht entfesselt. Jeder wusste, wo er hingehörte und Phileas Fogg profitierte uneingeschränkt von der mit seinem sozialen Status einhergehenden finanziellen Unabhängigkeit und seiner intellektuellen Überlegenheit. Seine Welt war stabil und noch nicht in eine Schieflage geraten.

      Diese hatte sich dann bei schließlich über 10 Milliarden Menschen im zweiten Jahrhundert des dritten Jahrtausends eingestellt, als die Dinge zunehmend außer Kontrolle geraten waren. Die Menschheit war zu groß und die Erde zu klein geworden, trotzdem beanspruchten alle einen immer größeren Teil. Die Polkappen waren zu großen Teilen abgeschmolzen, und die damit einhergehenden gravierenden klimatischen Veränderungen hatten weite Teile der Landflächen unbewohnbar gemacht. Es kam zu weltumspannenden Migrationsströmen und sozialen Verwerfungen. Keine Entwicklung blieb lokal begrenzt, jeder Fehler potenzierte sich und destabilisierte die Gesamtlage, jede lokale Katastrophe schlug aufs Ganze durch. Alles stand mit allem in Verbindung, jeder konkurrierte mit jedem, eine geringe Zahl Privilegierter um Luxus, die Masse um die bloße Lebensgrundlage. Dabei standen sich nicht wie in früheren Zeiten nur einige wenige Machtblöcke gegenüber, sondern es herrschte eine nicht mehr zu bändigende Vielfalt an lokalen und partikularen Interessen. Die Erkenntnisse aus den sich zunehmend verselbstständigenden Datenströmen aus oft genug widersprüchlichen Quellen boten keine Hilfe, im Sinne des großen Ganzen sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Schließlich konnte das fragile Gleichgewicht nicht mehr aufrechterhalten werden und es war zur