Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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monochromen Flächen von Piet Mondrian. Dunkel oszillierte eine Quantendiffusion von Shelly Floatgrave in glimmenden Farben. Ob es sich bei diesen Kunstwerken um Reproduktionen oder Originale handelte, war nicht festzustellen.

      Eine breite Flügeltür schwang nach innen auf und 5 Personen, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können, betraten die Halle. Vorneweg schritt ein aristokratisch aussehender Gentleman im Cut, dessen Schöße bis in die Kniekehlen seiner Hose aus grob gemustertem Tweed reichten. Sein hageres Gesicht zierte ein Backenbart und ein sorgfältig getrimmter Schnäuzer säumte seine Oberlippe. Auf dem Kopf trug er einen Zylinder, den er keck auf sein linkes Ohr geschoben hatte. Ihm folgte eine junge Frau, deren unter der Brust geraffter Chiton bis auf die bloßen, in aus dünnen Lederschnüren gefertigten Sandalen steckenden Füße fiel. Ihr halblanges, lockiges Haar wurde durch ein Netz zusammengehalten, das eng am Kopf anlag und in einen Kupferring auslief. In der rechten Hand hielt sie eine Lyra und die Linke ruhte auf dem ausgestreckten Unterarm eines Mannes in knielangen Culotten und einem Hemd aus weißem Batist, dessen Ärmel und Halsausschnitt mit Volants besetzt waren. Sein schulterlanges Haar war im Nacken mit einer schwarzen Taftschleife zusammengebunden und über den Ohren zu Papilloten aufgedreht. Auf seinen Wangen lag ein Hauch von Rouge. Einen dünnen Spazierstock zwischen den Fingern zwirbelnd tänzelte eine bunte, in knalligen Komplementärfarben gehaltene Gestalt an ihnen vorbei, deren in tiefen Rot bemalter Mund bis an die Wangenknochen hochgeschminkt war, wodurch das grellweiß grundierte Gesicht zu einer dauergrinsenden Fratze gerann. Immer wieder mit der Umgebung verschmolzen die Konturen einer schmalen, weiblichen Gestalt in einem enganliegenden, wie aufgesprüht wirkenden Trikot, das in ständig wechselnden Farben oszillierte. Den Abschluss bildete eine maskulin wirkende Frau in einem blau­en Kostüm, die herausfordernd ihre schwarze Handtasche schwang. Um den Hals trug sie eine doppelreihige Perlenkette und ihr zu einer Föhnwelle hochtoupiertes Haar schien wie aus Beton gegossen. Mit einem satten Dröhnen, das die Soßen, Suppen und Säfte in den Schalen und Tiegeln auf der Tafel in Schwingungen versetzte, fiel die Flügeltür hinter ihnen wieder ins Schloss.

      „Es geht doch nichts über einen üppig gedeckten Tisch“, ließ sich der Mann in dem Batist­hemd vernehmen und strebte geradewegs auf die Tafel in der Mitte der Halle zu. „Oh, und bei genauerem Hinsehen sind inmitten all der Kulinaria auch zwei sehr ansprechende Körperlichkeiten drapiert. Ich bin zutiefst entzückt.“

      Er nahm eines der an der Tafel lehnenden Teleskopbestecke mit Saugröhrchen zur Hand, fuhr es aus und lenkte die Spitze in den Nabel des weiblichen Körpers.

      „Honigmet“, informierte er die anderen. „Na, das wird an der Placentaanschlussstelle gehörig kleben. Vielleicht ist ja auch etwas weiter hinuntergelaufen.“ Er leckte sich genüsslich die Lippen. „Aber das werde ich später überprüfen. Wo bleibt denn nur unser schizophrener, cerebraler Cyborg?“

      „Womit haben wir diese Zurückhaltung verdient, verehrter de Sade?“ fragte die Frau im Chiton. „Johnny Mnemonic wird sich wie immer darin verloren haben, seine Datenbanken nach den Versatzstücken seiner originären Persönlichkeit zu durchforsten. Überhaupt habe ich den Eindruck, dass er sich, wie übrigens auch unser britischer Gentleman hier, in letzter Zeit immer stärker absondert und – wenn überhaupt – unseren gemeinsamen Lustbarkeiten nur sehr zögerlich beiwohnt.“

      „Jeder nach seinem Geschmack“, beschied ihr der Mann im Cut etwas einsilbig und schob seinen Zylinder auf das andere Ohr.

      „Es ist aber gut, dass Mnemonic diese Vollversammlung einberufen hat, Mr. Fogg. Es ist schon etliche Takte her, dass wir alle zusammengekommen sind“, sagte die Frau mit der Föhnwelle.

      „Das liegt sicher daran, verehrte eiserne Jungfrau, dass es weitaus ersprießlicher ist, seiner Libido unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu frönen“, kicherte der Mann mit der Fratze und machte Anstalten, seine Fingernägel am Stoff ihrer Jacke zu polieren.

      Die Frau schüttelte seine Hand ab. „Von dir unberechenbaren Triebbündel habe ich auch nichts anderes erwartet. Trotzdem ist es unerlässlich, regelmäßig Kontakt zu halten und uns gegenseitig von unseren spezifischen Informationen in Kenntnis zu setzen, damit die Dinge in der Urb nicht völlig aus dem Ruder laufen.“

      Die Flügeltüren des Saales öffneten sich erneut und eine Gestalt betrat die Halle, deren Schädelkuppel von einem metallischen Material überspannt war. Sie trug einen grauen Overall, die unzähligen Taschen so vollgestopft, dass sie sich unförmig nach außen beulten. Obwohl der Neuankömmling zielstrebig, den linken Fuß nachziehend, auf die Tafel zuhielt, gingen seine Bewegungen nicht völlig synchron ineinander über, sondern wirkten so, als wären sie aus einzelnen Sequenzen zusammengesetzt. An der Rundung der Tafel angekommen blickte er die Anwesenden der Reihe nach an, kratzte sich an der Schädelplatte, nahm eine aufrechte Haltung ein und breitete die ausgestreckten Unterarme waagerecht aus.

      „Oh, wie von dir nicht anders zu erwarten, ein Gedicht“, wandte sich die Frau im Chiton ihm zu: „So heb denn an, Johnny Mnemonic“.

      Der so Angesprochene warf sich in die Brust, dass die übervollen Taschen über seinen Rippen spannten und deklamierte:

      „Ich habe euch ersucht, zu dieser Stunde

      einzufinden an des Königs Artus Tafelrunde.

      Mit euch zu reden ist es höchste Zeit,

      habt Dank, dass ihr gekommen seid.

      Hier haben wir geprasst und der Wollust gefrönt,

      und uns gesuhlt in der Sinne Überschwang.

      Doch lange schon bin ich all dessen entwöhnt.

      Vernehmt daher nun meinen Abgesang.

      In meinem Innern fühl ich mich öd und leer

      und kann es ertragen − nimmermehr!

      Lange Zeit kam nichts andres für mich in Betracht

      und deswegen habe ich mich schuldig gemacht.

      Über dem Schwelgen in Sinnesfülle

      wurde ich zur gänzlich leeren Hülle.

      Jetzt füllt diese dekadente Opulenz

      mein Inneres mit Renitenz.

      Sinn und Bedeutung gingen mir verloren,

      was bleibt, ist zu stinkendem Fusel gegoren.

      Bei dem, was mir einst teuer und dem Rest meiner Ehr’,

      ich kann es ertragen − nimmermehr!

      So will ich euch nun die Gemeinschaft aufkünden

      und bin nicht geneigt, das im Detail zu begründen.

      Versucht auch nicht, mich umzustimmen,

      ich werde mein Leben nicht weiterhin dimmen.

      So wie jene Toten da in ihrem Magmagrabe,

      möcht‘ ich nicht verkommen im Gallert eurer Tage.

      Noch ahne ich nicht, wohin mich mein Fatum wird leiten,

      doch nehme alles ich an, um Geist und Empfindung zu weiten.

      Ich ergreife jetzt die Gegenwehr

      und werde es ertragen − nimmermehr!

      „Zwar verkörpere ich aktuell die antike Dichterin Sappho, doch muss ich eingestehen, dass du mir im Dichten um Längen voraus bist. Das ist überaus bedauerlich und vielleicht sollte ich mich demnächst an einer anderen Figur versuchen“, bemerkte die Frau im Chiton.

      „Ich dagegen werde diesen Joker, glaube ich, noch lange nicht aufgeben. Irgendwie entspricht er meinem schrägen Naturell“, grinste die Fratze.

      „Das kommt ziemlich plötzlich und klingt auch ziemlich endgültig. Ich nehme an, es gibt nichts, was dich umstimmen könnte?“ stellte die Frau in dem schillernden Trikot fest.

      „Richtig. Ich bin schon lange mit mir uneins, ob ich dieses Leben weiterführen möchte. Es irisiert und gleißt wie dein Trikot, Shelly Floatgrave, aber es ist nicht echt. Sicher, es