Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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hatten oder gegen das Schicksal oder die Gesellschaft verteidigten. „Dra­matisch“ oder „tragisch“ wurde es, wenn ein Individuum das andere liebte, dieses seine Gefühle aber nicht erwiderte oder aufgrund widriger Umstände nicht erwidern konnte. Der Liebe entgegengesetzt wurden Hass, Rache, Kampf und Krieg beschrieben, die Individuen und die mit ihnen verbundenen Menschen in Leid und Chaos stürzten.

      Gerade weil ihn einige dieser Bücher so aufgewühlt hatten, war sich Phileas Fogg sicher, dass die Weltsicht, aus der heraus sie entstanden waren, der Entwicklung einer sicheren und für alle Citizens förderlichen Gesellschaft entgegenstand. Er war zu der festen Überzeugung gelangt, dass die Urb auf dem richtigen Wege war. Der Schlüssel war die totale Berechenbarkeit allen menschlichen Verhaltens. Nur so blieben die Dinge nicht dem Zufall und der Willkür eines nicht greifbaren Schicksals überlassen, nur so ließ sich das Leben sinnvoll steuern. Was der totalen Berechenbarkeit diametral gegenüberstand, war das Konzept des Individuums, als einzigartiges, vor allem seiner sogenannten „Selbstverwirklichung“ verpflichtetes Wesen.

      Es war falsch zuzulassen, dass jeder sich ein von der Allgemeinheit nicht überprüfbares Bild von sich selbst und seinen Bezügen zu Welt machte! Es war falsch, dass jeder für sich seine Biografie deutete und individuelle Sinn­zusam­menhänge setzte! Es war falsch, dass jeder, ungeachtet der Kosten, die seine Mitwelt dafür bezahlte, seine sogenannte Selbstverwirklichung vorantrieb. Welche höchst fatalen Auswirkungen das mit sich brachte und wohin das führte, hatte ihm die sich in der Literatur der alten Zeit widerspiegelnde Geschichte gezeigt.

      Die einzelne Person führte ihre ausgelebte Individualität neben spärlichen Takten des Glücks in den meisten Fällen in Leid und Verzweiflung. Auf der Ebene der Administration gab es Lug und Trug und im Rahmen dessen, was „Politik“ genannt wurde, führte die Sucht des Einzelnen nach Ruhm und Größe von lokalen Terroranschlägen bis hin zu weltumspannenden Kriegen. Schuld daran waren letztendlich immer die sogenannten Individuen, deren Sehnen und Trachten und damit Handeln nicht kalkulierbar und absehbar waren und so für die Gemeinschaft zur potenziellen Gefahr wurden. Abertausende waren an ihrer Selbstverwirklichung zerbrochen und hatten darüber ihre Mitwelt ins Verderben gerissen. Abertausende waren völlig verblendet den unhaltbaren Heilsversprechungen einzelner, sich als etwas Besonderes verstehender Individuen nachgelaufen, was zu unendlichem Leid und Unheil geführt hatte. Das Gehirn des Individuums war eine BlackBox, ein Inkubator, in dem bestenfalls Belangloses stattfand und schlimmstenfalls subversives, die Gemeinschaft aller schädigendes Gedankengut ausgebrütet wurde. Hier keine Kontrolle zu haben, hieß letztlich, jede Hoffnung aufgeben zu müssen, jemals ein produktives und friedliches Miteinander realisieren zu können.

      Indem sie die lebenslange Sozialisation unter den Primat der Gaußglocke gestellt hatte und alle Extreme mittelte, war die Urb auf einem guten Wege, das Konzept des Individuums zu brechen. Möglich wurde das durch die gigantischen Kapazitäten des Systems, dessen Algorithmen alle schädlichen Auswüchse des Einzelnen auf ein gesundes Maß zurückstutzten. Wer auch immer die Grundlagen des Systems entwickelt hatte, hatte diese Notwendigkeit erkannt. Die Urb hatte sämtliche Weltinterpretationen und Sinnzuschreibungen von innen nach außen gekehrt und den Sumpf individuellen Selbstverständnisses ausgetrocknet. Sie hatte die wirren Ideologien der Geschichte, die sich wie Spaltkeile zwischen die Menschen trieben, und die daraus erwachsenen Gräuel überwunden und das menschliche Miteinander auf ein konsensfähiges, weil quantifizierbares und berechenbares Fundament gestellt. Rund um den Takt gab jeder Citizen zum Wohle des Ganzen durch die Aufzeichnungen der MatchingEyes Aufschluss über sein Verhalten und in jeder MatchingSession sein Innerstes preis. Dafür bot ihm die Community allumfassende Sicherheit und innerhalb fest definierter Kompatibilitätsgrenzen Deutungsmöglichkeiten, die er ausfüllen konnte, ohne durch dieses Verständnis seiner selbst den großen Gleichklang aller zu gefährden.

      Welche Blüten entfesselter, mit Macht gepaarter Individualismus treiben konnte, dem weder durch andere noch durch limitierte Ressourcen Grenzen gesetzt wurde, zeigte Phileas Fogg das Beispiel der anderen BigDatas auf das Anschaulichste. Es gab weder explizite Zugangsregeln für diesen Kreis, noch war die Anzahl seiner Mitglieder festgelegt. Offensichtlich aber lag es in der Natur des Menschen, dieses, wie er bei Aristoteles gelesen hatte, auf Gemeinschaft hin ange­legten Tieres, sich selbst über die Abgrenzung zu anderen Kontur zu geben und in seinem Selbstverständnis zu definieren. Dabei waren Konkurrenz und Rivalität die das Verhalten bestimmenden anthropologischen Konstanten. So befriedigte es die BigDatas auf Dauer nicht, ihre Sonderstellung als reinen Selbstzweck zu genießen, sondern ließ sich augenscheinlich nur dann völlig auskosten, wenn sie anderen möglichst eindringlich demonstriert werden konnte. Macht wollte vor den Augen anderer ausgeübt werden, die ohnmächtig oder doch zumindest weniger mächtig waren, Besonderheit wollte zur Schau gestellt werden. Und da dies natürlich nicht in der Öffentlichkeit der Urb geschehen konnte, wurden dem Kreis von Zeit zu Zeit neue Mitglieder zugeführt, um sie mit den hier üblichen Privilegien zu blenden und zu beeindrucken. Untereinander buhlten die BigDatas darum, sich gegenseitig an Einfluss und Exzentrik zu übertreffen. So hatte die schiere Fassungslosigkeit Phileas Foggs, mit der er als neu eingeführter BigData den dort betriebenen Exzessen gegenüberstand, auch seinem Mentor ein Widerlager geboten, um dessen schon etwas abgestumpftes Selbstempfinden neu zu schärfen. Darüber hinaus war der Neuzugang ein willkommener Bundesgenosse gegen die anderen BigDatas.

      Seinen Mentor hatten letztlich auch alle Kunstgriffe der transhumanen Medizin nicht am Leben erhalten können und er hatte Phileas Fogg vor seinem Tode sämtliche Fäden überspielt, die er in den Händen hielt. Diese Fäden gedachte Phileas Fogg nun im Laufe der Zeit zu einem dichten Netz zu spinnen, in dem er die anderen BigDatas mattsetzen konnte. Denn im Gegensatz zu ihnen ging es ihm nicht nur darum, in kleingeistigem Machterhalt den Daumen auf seine Sektion der Urb zu halten und dabei in von allen anderen Citizens abgehobenem Luxus zu schwelgen, sondern er verfolgte für die gesamte Urb höhere Ziele.

      Konkurrenz und Rivalität mochten in den Urzeiten der Menschheit ihre Berechtigung gehabt haben, als das nackte Überleben davon abhing, sich gegen eine feindliche Natur zu behaupten und aus den Verteilungskämpfen zwischen den Artgenossen siegreich hervorzugehen. Als das Überleben dann für die meisten Menschen in seinen Grundzügen gesichert war, kam es zwischen denen, die permanent in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht waren, und denen, die es sich leisten konnten, ihre sogenannte Individualität zu kultivieren, zu Verwerfungen globalen Ausmaßes, die angesichts zunehmend knapper werdender Ressourcen, um die zu viele Menschen kämpften, schließlich zum Finalen Kataklysmus geführt hatten.

      Viele Generationen nach dem Armageddon hatten sich nun aber vor dem Hintergrund des technischen Standards der Urb und der immensen administrativen Leistung des Systems völlig neue Perspektiven ergeben, die Bedingungen der Möglichkeit des Menschseins grundlegend zu verändern. Das Konzept der Individualität hatte sich überlebt, denn die damit unauflöslich verbunden Verhaltensmuster von Konkurrenz und Rivalität führten lediglich zu Reibungs- und Effizienzverlusten. Die Aufgabe würde darin bestehen, das nach der totalen Gleichschaltung noch nicht eliminierte Konkurrenzverhalten der Citizens produktiv zu nutzen, aber so zu kanalisieren, dass alles Handeln weiterhin berechenbar blieb.

      Das Feuer war inzwischen fast ganz heruntergebrannt und Phileas Fogg legte einen neuen Kloben FakeWood auf, der sofort auf ganzer Fläche aufloderte.

      Spätestens, wenn die Urb den Omega-Punkt der totalen Gleichschaltung erreicht hatte, würde er damit beginnen, den Menschen völlig neu zu formen. Und bis dahin würde er schon Mittel und Wege finden, sich der andern BigDatas zu entledigen. De Sade war im Grunde ein gehemmter naiver Lüstling, der mit der Rolle seines historischen Vorbilds lediglich kokettierte und vor allem nicht über dessen Intellekt verfügte. Joker dagegen war wie sein Avatar tatsächlich ein gefährlicher und unberechenbarer Psychopath. Einige seiner Gespielen waren, nachdem er mit ihnen fertig war, nicht wiederzuerkennen gewesen. Sappho war eine naive Gans, die sich ziellos treiben ließ und alle 3 TeraTakte ihren Avatar wechselte. Thatcher gab sich zwar gerne staatstragend und hatte die sogenannte eiserne Lady als Avatar gewählt, weil sie glaubte, dass ihr in dieser Rolle mehr Einfluss zuwachsen würde, hatte aber bei weitem nicht das Format ihres historischen Vorbilds. Shelly Floatgrave schließlich, deren Avatar die berühmte Künstlerin der Quantendiffusion war, war genauso unberechenbar und unstet wie ihr Trikot. Sie würde nichts Dauerhaftes zustande bringen.