Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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sie etwas bestellen, ohne zu wissen, für welche Ausführung sie sich entschieden hatte? Auch schien sie nicht sonderlich an den Möglichkeiten interessiert, die sich ihr mit ihrem neuen Gadget boten. Ständig war sie Views Blick ausgewichen, so, als ob sie etwas zu verbergen hätte. Die grundlegenden Gesichtsausdrücke konnte View durchaus deuten, obwohl sie es im Zweifel oder im Rahmen einer MatchingSession vorzog, ihr Gegenüber einem MimikScan zu unterziehen. Aber trotz aller Eigentümlichkeit und Fremdheit, die diese Citizen ausstrahlte, hatten ihre vagen Bewegungen und vorsichtig tastenden Blicke etwas, das sie anzog und dem sie auf den Grund gehen wollte. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit war eine MatchingParty das geeignete Setting, genau das zu tun.

      Lalic oder Esther, wie ihr Deckname bei den Oneironauten lautete, lag auf dem RestBoard ihres Hexagons. Die Arme um die Schienbeine geschlungen und die Knie ans Kinn gezogen hatte sie sich in ihrer üblichen Abwehrhaltung zusammengekauert, die sie immer einnahm, wenn sie sich isoliert und einsam fühlte und ihr das Leben in der Urb, das Leben außerhalb der Traumzeit klare und eindeutige Entscheidungen abverlangte, die sie an einen Alltag fesselten, den sie zutiefst verabscheute. Sie dachte über die unerwartete Begegnung nach, die sie eben gehabt hatte. Schon die Relations innerhalb ihrer SocialUnit aufrechtzuerhalten kostete sie so viel Energie, dass sie völlig ausgelaugt in ihrer Sehnsuchtswelt ankam, sollte sich ihr einmal eine der seltenen Gelegenheiten bieten, in die Traumzeit abzudriften.

      Ihr war kalt. Vergaußt, warum konnte sie sich nicht einfach in ein Bett kuscheln und lesen? „Bett“, so hatte sie aus ihren Büchern erfahren, war ein behaglich geborgener, warmer Ort, an den sich die Menschen zurückgezogen hatten, um zu schlafen, einander zu lieben und allein oder gemeinsam zu träumen. Ihr RestBoard dagegen war eine den aufdringlichen Linsen ihres MatchingEyes und den traumvernichtenden Strahlen seines Morpheustrons preisgegebene Regenerationsfläche, auf der sie eine vorgetaktete Ruhezeit absolvierte.

      Jetzt war ihr diese View schon zum zweiten Mal über den Weg gelaufen. Wie sollte sie sich ihr gegenüber verhalten? In der Urb waren alle immer auf Neues aus. Neue Produkte, neue Services, neue Relations. Egal, was auch immer schon lief, bot sich etwas Neues, musste der gemittelte Citizen zugreifen. „Take the Opportunity: Make your Choice.“ Alle jagten dem aktuellsten Thrill nach, der schon bald wieder in Vergessenheit geriet, um der nächsten hohlen Vergnügung Platz zu machen. Es wäre unklug, die Einladung Views auszuschlagen, sie auf eine dieser MatchingPartys zu begleiten. Jetzt, da sie sich endlich dazu durchgerungen hatte, sich dem Trend ihrer SocialUnit zu beugen und einen Matcher anzuschaffen, kam sie ohnehin nicht darum herum, eine solche Veranstaltung zu besuchen. Nutzte sie das Ding nicht, würde sie sich verdächtig machen. Da konnte sie ebenso gut mit dieser View dorthin gehen. Vielleicht wäre es sogar gut, eine Begleitung zu haben, die sie flankieren und ihr Verhalten stabilisieren konnte. Allein fiel man immer auf.

      Esther war es so vergaußt leid, immer etwas vorgeben zu müssen, das sie nicht war und das, worauf es ihr wirklich ankam, mit niemandem teilen zu können. Sie blutete innerlich aus und sehnte sich nach einer Freundin. Keine SocialRelations, keine Peers, keine Mates, welchen Steps auch immer, sondern eine Freundin, wie die, von denen sie in den Büchern gelesen hatte. Jemand, mit dem sie vorbehaltlos über alles reden konnte, das ihr in der Traumzeit begegnete. Jemand, der ihr nicht nur zuhörte, son­dern ihre Erfahrungen, Eindrücke, Wünsche und Träume teilte. Jemand, der gemeinsam mit ihr, nicht der Citizen Lalic4j8 oder der Onei­ronautin Esther, sondern mit der, die sie in ihrem innersten Wesen war, dazu beitrug, dass die Traumzeit ein offen gelebter Teil ihrer Realität werden konnte.

      In den Reihen der Oneironauten gab es so jemanden nicht für sie. Um das Risiko, dass die weit verzweigte Organisation aufflog und entdeckt wurde, so gering wie möglich zu halten, kannten sich die einzelnen „Nauten“ untereinander nicht. Während der Traumsitzungen und strategischen Treffen, bei denen Einsatzpläne entwickelt und Disrupter zugeteilt wurden, sprachen sie sich nur mit ihren Decknamen an und trugen zudem die leeren Gesichter ihrer EmptyFace-Masken. Und den Peers ihrer SocialUnit konnte sie mit ihren Träumen nicht kommen. Auch war es nicht möglich, sich hier ein dafür sensibilisiertes Umfeld heranzuziehen. Im Mittel einer nach allen Regeln der Agency of SocialTechnology gemittelten Unit zu bleiben war die beste Tarnung für einen Nauten und daher konnte sie nachvollziehen, dass es ihnen in diesem frühen Stadium der Infiltration der Urb mit Träumen streng verboten war, die Traumsaat in der eigenen Unit zu säen.

      Aber halt. Da gab es doch jetzt diese View. Auch wenn sie ganz offensichtlich völlig auf der urbumspannenden Welle der Mittelung schwamm, war irgendetwas an ihr, das Esther anzog. Was wäre, wenn sie ihr Geckos applizieren würde und die Citi­zen mit dem intensiven Blick ebenfalls anfing zu träumen? View war völlig neu in den Kreisen von Esthers SocialRelations und wahrscheinlich kannte sie auch niemand aus ihrer Unit. Vielleicht würde es Esther gelingen, View aus allem herauszuhalten. Eigenmächtig Disrupter zu verteilen, war strengstens verboten, doch vielleicht endlich eine Vertraute zu haben, war jedes Risiko wert. Außerdem würde es interessant sein, hautnah zu erleben, wie sich eine ganz normale Citizen, unter dem Einfluss der Träume veränderte. Ob und wie tief sich zwischen ihnen tatsächlich ein Austausch entwickeln und wie er sich im Einzelnen gestalten würde, würde sich dann schon finden.

      System / ClockedCounter / Update_563 / Takt_21.349.284

      „Es ist der Fluch (je)der Zeit, dass Irre Blinde führen.“

      Shakespeare, King Lear

       Im Zentrum der weitläufigen Halle ruhte das Rund eines mächtigen Eichentisches auf geschwungenen Beinen, die in wie zum Fang gespreizten Löwenklauen endeten. In der Mitte der mit Intarsien verzierten Tischplatte sandte eine stilisierte Sonne ihre Strahlen zum Rand des Tisches hin, wo sie jeweils in eine Szene aus dem Ritterleben ausliefen. Von den kunstvollen Einlegearbeiten war allerdings nichts zu sehen, denn die Tischplatte war überladen mit einem üppigen Angebot an Speisen und Genussmitteln. Auf Tellern und Platten, in Tiegeln, Schüsseln und Schälchen häuften sich helles und dunkles Fleisch, Fische, Schalentiere, Meeresfrüchte und die unterschiedlichsten Wurzeln und Gemüse. Es gab Aufläufe, Suppen, Gratins, Gegrilltes, Geschmortes, Gegartes, Gesottenes, Geselchtes und Gekochtes, Puddings, Cremes, Mousses, Süßspeisen und Patisserie sowie eine umfassende Auswahl an Käse und Wurstwaren. Wo noch Zwischenräume waren, erhoben sich aus feinster Confiserie geschichtete Türmchen und Pyramiden. In Gläsern und Pokalen perlten und schäumten die unterschiedlichsten Getränke. Eine Batterie von Flaschen mit Spirituosen bildete im Meer der Speisen eine Insel mit alkoholischen Angeboten. Von dem sie umgebenden Genussbiotop hoben sich die Konturen der mit Mimikryfarben behandelten nackten Körper eines Mannes und einer Frau kaum ab. In ihren geöffneten Händen lagen Früchte, in Bauchnabel und Magengrube glitzerte eine orangenfarbene Flüssigkeit. Um die Brustwarzen der Frau war ein Kranz von Himbeeren gelegt. An den Rand des Tisches gelehnt, dessen Zentrum auch mit ausgestrecktem Arm bei weitem nicht erreichbar war, standen Teleskopstangen aus ultraleichtem Carbon, deren oberes, sensorgesteuertes Ende jeweils in eine Gabel, einen Löffel, einen Greifer oder ein Saugröhrchen auslief.

      Der Boden der Halle war mit mehreren Lagen Teppichen ausgelegt. Perser überlappten sich mit Berbern, Berber begruben Perser unter sich und chinesische Seidenteppiche buhlten mit Tibetern um Liegeplatz. Licht fiel durch eine mit verschiedenfarbigen Glasplatten gedeckte Kuppel, die der Jugendstilarchitektur des Stammhauses der Galeries Lafayette in Paris nachempfunden war, und streute bunte Prismen auf die Teppichlandschaft. Üppig mit Kissen bestückte Ottomanen, Diwane und Fauteuils luden zum Sitzen und Ruhen ein. Überall im Raum verteilt standen Skulpturen und an den Wänden hingen Gemälde, die ein Amal­gam sämtlicher Stilepochen bildeten. Neben den überbordenden rosa Fleisch­wülsten rubensscher Frauen brannten Dalis Giraffen, strahlte die Mona Lisa ihr spitzbübisches Lächeln, spreizte sich ein weiblicher Akt von Egon Schiele. Auf einem Podest grübelte Rodins Denker. Aus Kanopenkrügen, wie sie vor Urzeiten in den Grabkammern ägyptischer Pyramiden standen, wucherten fleischfressende Pflanzen, die alabasterne Skarabäen zu verschlingen schienen. Vor einem Arrangement der knolligen Gemüsegesichter Arcimboldos wölbten sich die fröhlich bunten Rundungen einiger Nanas von Niki de Saint Phalle. In einer Ecke krampf­ten etliche Abgüsse aus den Hohlräumen, die die verbrannten Körper der beim Ausbruch des Vesuvs in Pompeji umgekommenen Römer nach ihrem Feuertod in der erkaltenden Lava zurückgelassen