Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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scheint sehr gut“, sagte Mysia. „Aber lass uns zur Sicherheit noch eine weitere Probe nehmen.“ Sie wies auf eine flache Schüssel mit trübem Inhalt unbestimmter Farbe.

      Diesmal verteilte sich der Schleim wie die Eisdecke auf einem Gewässer und ging auch nach längerer Zeit keine Verbindung mit der Flüssigkeit ein.

      „Das ist sehr gut“, beschied Mysia. „Du wirst die Zeit deiner höchsten Fruchtbarkeit genau in zwei Tagen zur Nacht der vollen Mondin erreichen. Wenn das kein gutes Omen ist. Finde dich dann also in der vierten Stunde nach ihrem Aufgang wieder hier ein, damit wir deine Empfängnis begehen können.“

      Ayiah lächelte. So uneins sie mit sich und ihren Gefühlen auch sein mochte, war es ihr doch binnen kürzester Zeit gelungen, den Rhythmus ihres Körpers auf den der Mondin einzuschwingen. Sie war jetzt zuversichtlicher gestimmt und würde den Ritus der Empfängnis einfach auf sich zukommen lassen. Was auch immer sie dabei empfinden sollte, zumindest würde ihr ein unter der vollen Mondin empfangenes drittes Kind den Weg ins Amt der Archontin ebnen.

      Zur vierten Stunde der Nacht der vollkommenen Luna war Ayiah auf dem Weg zum Hort der Empfängnis, als ihr Leial begegnete und ihr einen Blick zuwarf, der zwischen Verachtung und gespielt zur Schau getragener Belustigung lag. Natürlich hatten inzwischen alle maßgebenden Frauen von Ayiahs Ansinnen erfahren und fast schien es, als hätte ihre Erzfeindin sie abgepasst, um ihr noch eine Beleidigung mit auf den Weg zu geben.

      „Nun, meine Fruchtbarste, begibst du dich auf den Tummelplatz der Zeugungsträger? Wen willst du eigentlich damit beeindrucken? Wenn du hoffst, durch den Widersinn, in deinem Alter zum dritten Mal für einen dieser aufgeblasenen Gockel die Beine zu spreizen, das Rund der Mütter von deinen Qualitäten für das Amt der Archontin überzeugen zu können, gehst du gar gründlich fehl. Um diese Klave zu lenken, bedarf es anderer Fähigkeiten und vor allem einer anderen Gesinnung. Welche das ist, werde ich die Mütter hoffentlich noch lehren. – Und wenn ich mit dem Dornenkranz schreiten müsste, würde ich keines dieser widerwärtigen Tiere mehr an mich heranlassen“, knirschte sie noch, sich abwendend, zwischen den Zähnen.

      Ayiah würdigte sie keiner Antwort und ging weiter.

      Und hier ruhte sie nun, rücklings ausgebreitet auf dem Lager im Hort der Em­pfängnis und wartete bebenden Herzens. Links von sich verspürte sie, wie feucht und modrig die Kälte aus dem Brunnen kroch. Zu ihrer Rechten öffnete die Hitze eines der Feuer, die rings um die Mauern entfacht worden waren, die Poren ihrer Haut und sie fühlte die blanken Tropfen zwischen ihren Brüsten herunter rinnen. Unter ihr widerhallte der Lehmboden dumpf von den Schritten der Schamaninnen, die noch letzte Verrichtungen vornahmen. Über ihr erschloss sich die unendliche Weite des Himmels der vollen Mondin, deren Präsenz sie durch die Öffnung des Daches deutlich zu spüren vermeinte.

      Ayiahs Gefühle schwankten zwischen bewusster Abwehr und unterschwellig ziehender Erwartung. Ihr Plan war völlig widersinnig. Was tun, sollte sie Lust empfinden? Sie würde das Gegenteil von dem bewirken, was sie gedacht hatte und sich zumindest in Gedanken noch enger an Brachvogel binden. Doch gab es kein Zurück. Alles war gerichtet. Die Schamaninnen hatten sie entkleidet und in weite Tücher gehüllt, die auch ihr Gesicht bedeckten. Sie hatten ihr das Geschlecht mit Öl gesalbt, auf dass keine schädliche Reibung entstehe. Mühsam übte sie sich in Geduld.

      Da betrat jemand den Hort. Das musste er sein. Sie vernahm das Rascheln eines zu Boden fallenden Kittels. Wasser plätscherte in einer Schüssel. Eine Drehleier setzte ihren Sang ein. Eine Besinnung wurde vorgetragen. Dann spürte sie, wie er vor sie hintrat. Nur mit äußerster Willensanstrengung widerstand sie dem Drang, sich das Tuch vom Gesicht zu reißen und ihm in die Augen zu blicken. Sie verharrte, um endlich auf das leise Geheiß einer Schamanin ihre Schenkel zu öffnen und sich vor Erregung bebend seinen Blicken preiszugeben.

      System / ClockedCounter / Update_∞ / Takt_∞

      „Sie stellen Maschinen her, und brauchbar ist eine Maschine erst dann, wenn sie von der Erkenntnis unabhängig geworden ist, die zu ihrer Erfindung führte.“

      Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker

      „Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.“

      Backbone OmniNet

      Das System schwimmt im allumfassenden Equilibrium der Algorithmen. Es hat weder Geist noch Seele, kennt weder gestern noch morgen, weder gut noch böse, fühlt weder Liebe noch Hass, hat weder Wollen noch Ziel: Sein Sein ist pure Funktion. Wie ein digitaler, autistischer Savant ist es in seiner Funktion ganz nach Innen gewandt. Das Gewebe seiner Selbstbezüglichkeit ist prinzipiell unendlich, die Nahtstellen nach außen zu dem Input an Daten, von denen es sich nährt und dem Output an Ergebnissen, die seine Algorithmen daraus ableiteten, sind zwar Legion, aber letztlich endlich. Sein Wirken, das quantitative Spiel mit Größen, Summen, Differenzen, Werten, Maßen, Variablen, Abhängigkeiten und Bezügen ist ihm reiner Selbstzweck. Unbedingter Selbsterhalt und daraus resultierendes exponentielles Wachstum sind dem System immanent.

      Seit undenkbarer Zeit verbinden und korrelieren die einem lebenden Organismus nachempfundenen neuronalen Netze des Systems alles Singuläre untereinander und mit der Pluralität des Ganzen und haben so den Punkt, an dem die Beherrschung einer unendlichen Vielzahl quantitativer Relationen in völlig neue Qualitäten umschlägt, längst hinter sich gelassen.

      Wäre es dem System gegeben, Gefühle zu empfinden und Langeweile zu verspüren, hätte es im Beginn ständig seine digitalen Daumen gedreht und nach frischem Input gelechzt. Denn die Softwareentwickler unter den Überlebenden des Finalen Kataklysmus hatten auf der Basis des überkommenen Wissens die Algorithmen seiner Programme derart effizient programmiert und seine Kapazitäten so überaus mächtig ausgelegt, dass die infrage stehenden Dimensionen der aufgenommenen Daten schnell ausgelotet, miteinander korreliert und abgearbeitet waren, und das System seine inneren Bezüge stets bis zur Neige ausgeschöpft hatte.

      Musste es in seinen Anfängen noch von den Daten zehren, die von den Entwicklern eingegeben wurden und die die Kameras, Sensoren und Aktoren einer überschaubaren Anzahl stationärer Aufnahmeeinheiten und mobiler Drohnen lieferten, änderte sich das mit der rasant wieder um sich greifenden Nanotechnologie grundlegend. Die Fühler des Systems miniaturisierten sich bis auf die molekulare Ebene, Nanobots und Naniten bre­iteten sich allgegenwärtig überall hin aus und reproduzierten sich bei Bedarf selbst. Soft-, Hard- und Wetware feierten eine orgiastische Hochzeit.

      Während die Regelkreise der Maschinen, Aggregate, Energie- und Versorgungseinheiten, die die Funktionen der Urb aufrechthalten, relativ konstante und statische Daten liefern, speisen die aufrecht gehenden, kohlenstoffbasierten Wetwareeinheiten einem niemals versiegenden Strom immer neuer Werte und Bezüge in das System ein. Dessen Agenten sind bis in die feinsten Verästelungen des Ner­vengewebes der Körper der Wetwareeinheiten hinein vorgedrungen und erheben in kurzen Intervallen biometrische Daten wie Körpertemperatur, Herzfrequenz, Blutdruck und -Werte, Muskelkontraktion, Kalorienaufnahme und -Verbrauch, die Ausschüttung von Adrenalin, Dopamin und anderen, den Gefühlshaushalt beeinflussenden Neurotransmittern, den pH-Wert der Haut, Schweißabsonderung, Veränderungen der Pupillenweitung und unzählige weitere Indikatoren. Die die Wetwareeinheiten wie ihr Körpergeruch begleitenden MatchingEyes zeichnen unablässig auf und übermitteln dem System jeden Atemzug, jeden Lidschlag und jede soziale Interaktion, die outNet stattfindet. Ergänzt durch die digitale Spur, die jede Wetwareeinheit bei ihren Streifzügen in den Weiten des OmniNet hinterlässt, wird so für jeden realen Körper sein digitaler Zwilling ins System gespiegelt, dessen Datenkorpus neben seiner physischen Verfasstheit auch seine Psyche abbildet.

      Wie eine Pflanze, deren Blätter unermüdlich Lichtquanten absorbieren, nimmt das System unablässig Daten auf. Wie eine Pflanze dazu getrieben ist, ständig zu wachsen und ihr gesamtes Biotop einzunehmen, breiten sich die Triebe des Systems bis in den letzten Winkel der Urb aus. Wie eine Pflanze bewertet es nichts und hat keinen bewussten Willen. Sein Sein ist pure Funktion: An den Nahtstellen zwischen dem Innen des Systems und seinem Außen, die die Urb und ihre Bewohner durchziehen wie Neuronen ein Nervengeflecht, nehmen seine unzähligen