Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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Grund, dir deinen Erfolg nicht zu gönnen. Dir scheint alles zuzufliegen und selbst, wenn ich hart daran arbeite, erreiche ich nicht das, was ich mir wünsche.“

      „Hast du denn deine Karriere nicht entsprechend den Anträgen des Systems geplant?“

      „Doch, schon, aber für die meisten Jobs waren meine vom System ausgewiesenen Qualis gleich gut – oder“, Legol lachte, „gleich schlecht und so hatte ich keinen triftigen Grund irgendetwas zu wählen. Zur Agency bin ich gegangen, weil ich mir gedacht habe, der Job als Scout, dein Job, muss megagauß sein. Ich hatte gehofft, von der Analyse ins Scouting rüber­switchen zu können. Doch bislang hat sich da nichts ergeben. Und dann kommst du und schwingst dich in kürzestem Takt zum RisingStar unter den JuniorScouts auf. Sorry, aber das kann ei­nen schon mal aus dem Mittel hauen.“

      Die Ausbuchtung auf Legols Seite der Gaußkurve ging langsam wieder zurück.

      „Verstehe – und da steckst du jetzt in einem emotionalen Dilemma. Ich habe dein Gesicht während unserer Konfrontation einmal einem MimikScan unterzogen. Er weist in hoher Ausprägung Wut und Neid, aber in mittlerer Ausprägung auch Unbehagen und in geringerer Unsicherheit und Zögerlichkeit aus.“

      „Vergaußt, musst du mich derart stalken? Was geht dich mein Gesichtsausdruck an? Sorry“, Legol senkte die Augen, „natürlich ist es dein gutes Recht, deinen DayStream entsprechend auszuwerten.“

      Legols Seite der Gaußkurve schien zu atmen. Dehnte sich aus, zog sich wieder in Richtung Mitte zurück.

      Nicht umsonst hieß diese Phase der MatchingSession Konfrontation, dachte View. Vielfach wurde man hier nicht nur mit einem Konfliktpartner konfrontiert, sondern auch mit sich selbst. Überhaupt war ein MimikScan ein probates Mittel, sich seiner Gefühle bewusst zu werden und sie angemessen zu handeln. Oft genug hatte sie in einem DayStream das Raster des Scans über ihr eigenes Gesicht laufen lassen, um sich in einem Gefühlschaos nicht aus der Mitte tragen zu lassen.

      „Nun, als ich dich heute früh plötzlich auf der Gallery gesehen habe, stieg mir wieder einmal meine Situation hoch und ich konnte einfach nicht anders. Aber im Grunde hast du mir ja nichts getan und ich kenne dich ja auch kaum. Vielleicht bin ich einfach nur auf mich selbst wütend, weil meine Situation so verfahren ist.“

      „Ich kann dich gut verstehen, das ist bestimmt nicht einfach.“

      Jetzt waren beide Hälften der Gaußkurve kongruent.

      View kam spontan eine Idee.

      „Weißt du was, ich nehme dich in den Distributor für meine Messages an die JuniorScouts auf. Es ist sicher nicht verkehrt, wenn Analysts und Scouts gegenseitig mehr von ihrer Arbeit erfahren. Du weißt schon, JobEnrichment und so. Vielleicht können wir das Ganze zu einem Chat zwischen unseren Departments ausweiten und vielleicht ergibt sich daraus für dich ja doch noch die ein oder andere Chance.“

      Legol dachte kurz nach.

      „Ja, danke, gute Idee. Das dürfte meinen Job interessanter machen und vielleicht ergibt sich ja tatsächlich etwas. Ich bin gespannt.“

      „Schön, dass wir uns geeinigt haben. Dann lass uns noch das Commitment abgeben.“

      „Ach ja, also: Ich, Legol3s, bestätige, dass die soziale Friktion mit Kibele2k5, Update_567 / Takt_23.706.291 beigelegt ist.“

      „Auch ich, Kibele2k5, bestätige, dass die soziale Friktion mit Legol3s, Update_567 / Takt_23.706.291 beigelegt ist.“

      Der Focus auf Views Screen zoomte aus Legols Hexagon heraus und abschließend ließ sich noch einmal die sonore Stimme des Mediators vernehmen:

      „Dein Mediator gratuliert dir zu deiner erfolgreichen Mittelung. Zögere nicht, die Ergebnisse deiner Bemühungen in die Mediatiothek einzugeben, um sie für andere Citizens, die unter sozialen Friktionen leiden, zu dokumentieren.“

      Sommersaat; erster Umlauf im fünfhundertfünfundsechzigsten Umlaufzwölft der Zeitläufte der Mondin

      Lange hatte Ayiah mit sich gekämpft. Es war nicht ziemlich und ihrer, die sie den Pfad zur Wahl der künftigen Archontin angetreten hatte, nicht würdig. Doch konnte sie die Gedanken an den Mannling nicht aus ihrem Kopf verbannen. Es lag nun schon elf Umlaufzwölfe zurück, dass sie ihm in der Stätte der Aufzucht seinen Namen gegeben und gegen Leials dringendes Begehren seine Entkeimung verhindert hatte. Seitdem hatten sich ihre Wege immer wieder gekreuzt und sie hatte als Rätin im Rund der Mütter sein Wachsen und Reifen verfolgt. Mit sieben Umlaufzwölfen aus der Stätte der Aufzucht entlassen, war der Knabling in die Frauschaft einer Mutter gekommen, die die ihr unterstellten Mannlinge nicht allzu sehr drangsalierte. Als Zeugungsträger war es ihm verwehrt, ein Gehilfling zu werden und bei einer Meisterin ein bestimmtes Handwerk zu erlernen. Sein Los war vielmehr das eines Springlings, der in stetem Wechsel simple, sich im Daseinszyklus ständig wiederholende Verrichtungen übernahm und darüber hi­naus den Frauen in den unterschiedlichsten Belangen zur Hand ging. Waren die Dinge doch so eingerichtet, dass es lediglich den in ihrem Temperament gedämpften Entkeimten gestattet war, besondere Kenntnisse zu erwerben und weiter reichende Handfertigkeiten auszubilden. Die schwer zu lenkenden, ihren zerstörerischen mannlingschen Trieben ausgelieferten Zeugungsträger dagegen wurden in allem kurz gehalten und durften nur harmlose Handlangertätigkeiten verrichten, auf dass ihnen ihr Können nicht ungezügelt zu Kopfe stieg und sie zu umstürzlerischen Umtrieben anregte.

      Anfangs hatte Ayiah Brachvogels Aufwachsen aus einer Art Pflichtgefühl heraus verfolgt, weil sie, die sein Schicksal so grundlegend gewendet hatte, meinte, auch fürderhin für ihn Sorge tragen zu müssen. Als er dann in späteren Jahren immer mehr Arbeiten zugewiesen bekam, die größere Körperkraft erforderten, unter diesem Joch allmählich erstarkte und sich von einem dürren Knabling zu einem Jüngling zu wandeln begann, der einmal sehr wohlgestalt geraten würde, erwuchs in ihr zunehmend noch ein weiters Gefühl, das sie lange tief in ihrem Innern vor einer bewussten Betrachtung verborgen gehalten hatte.

      Ayiahs Zeit in der Stätte der Aufzucht sollte ihre einzige gewesen sein. Die Umsicht, mit der sie damals wider die Entkeimung Brachvogels gesprochen hatte, hatte das Wohlgefallen der Großen Mutter und Archontin Idune gefunden und nach ihrer nächsten Mutterschaft war sie in den Hort der Weisung beschieden worden, um dort die Kleinen Frauen zu nähren und dabei mitzuwirken, sie auf ihre Verantwortung der Schöpfung gegenüber vorzubereiten. Während die Knablinge in der Stätte der Aufzucht lediglich darin gedrillt und geschliffen wurden, später als Mann­linge alle die Tätigkeiten verrichten zu können, die den Fortbestand der Klave sicherten und ihren Alltag aufrecht erhielten, wurden die Kleinen Frauen im Hort der Weisung in den Kult der Großen Mondin eingeführt und in allen Belangen unterwiesen, die ein der Mondin gefälliges und die Schöpfung schonendes Leben ausmachten. Neben einer grundlegenden Einsicht in die Funktionsweise und den Zusammenhang der wichtigsten Gewerke erwarben die Klei­nen Frauen vor allem auch erste Kenntnisse in Mannlings- und Lenkungskunde. Auch im Hort der Weisung tat sich Ayiah hervor und auch hier war ihr natürlicher Widerpart ihre Erzfeindin Leial, die ihr auf das Betreiben der Häuptin der Wächterinnen dorthin gefolgt war, nachdem sie ebenfalls ihr zweites Kind zur Welt gebracht hatte.

      Leial vermaledeite alle Mannlinge als diejenigen, die der Welt einst die Verderbnis gebracht hatten und die sie ihr auch erneut bringen würden, nähme man sie nicht eisern hart an die Kandare. Sie haderte mit der Ordnung der Natur, die vorsah, dass solch unbedachte und dumpf triebbestimmte Kreaturen wie die Mannlinge benötigt wurden, um die erforderliche Nachkommenschaft der Klave hervorzubringen. Doch hatte sie der Klave die zwei Kinder geschenkt, die allen Müttern abverlangt wurden – sie war sich sicher, dass es Kleine Frauen waren – und nie wieder würde sie einen dieser gockelhaften Zeugungsträger an sich heranlassen müssen, die sich nicht entblödeten zu glauben, der bloße Umstand, dass ihnen der Inhalt ihrer Schambeutel gelassen worden war, mache sie zu etwas Besonderem. Leial hasste den Ritus der Empfängnis aus tiefster Seele und gezwungen zu sein, sich einer dieser Kreaturen zu öffnen, gehörte zu den ekelhaftesten und abstoßendsten Erfahrungen ihres Lebens.

      Widerhall und Verständnis für ihre Denkweise und Gesinnung fand sie im Zirkel der Wächterinnen,