Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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Räumlichkeiten im Hort der Weisheit, um sich dort unter der Anleitung der Schamaninnen achtsam zu sammeln und innere Einkehr zu halten. In dem besonderen Zustand der Gnade, in den sie nun eingetreten war, widmete sie sich der kontemplativen Versenkung in die Kreisläufe des Lebens, sowie dem Fertigen von Kultgegenständen, die im Ritus der Mondin eine besondere Bedeutung hatten. Erbrachte dies auch keine greifbaren Erkenntnisse, so ging Ayiah doch jedes Mal in der Überzeugung erstarkt aus den Übungen hervor, dass der Mensch gut daran tat, die natürliche Ordnung der Welt nicht zu stören und diesbezüglich das Zusammenleben von Frauen und Mannlingen in der Klave im Grunde wohl eingerichtet war. Ihre Kontrahentin Leial dagegen hatte keinerlei Vertrauen in die Wohlgeordnetheit der Dinge. Ginge es nach ihrem Will­len, würden die Mannlinge wie niederes Herdenvieh gehalten, um der Gefahr einer neuerlichen Verderbnis vorzubeugen. Leials ganzes Bestreben richtete sich darauf, Häuptin der Wächterinnen zu werden und Ayiah war sich bewusst, dass sie noch manche Fehde mit ihr auszutragen hätte, sollte ihr das gelingen und sie selbst Idune in das Amt der Archontion nachfolgen.

      Gerade hatte Ayiah im Kreise der anderen Frauen, die ihre Mondblutung begangen, eine Betrachtung zum Verhältnis von „Erde und Äther“ abgeschlossen – sie hatten sich darein vertieft, wie Pflanzen durch ihre Wurzeln Wasser und Nährstoffe aus der Erde zogen und über ihre Blätter Licht und Odem aus dem Äther empfingen – als Mysia, die als Schamanin die Übung begleitet hatte, an sie herantrat.

      Die Schamaninnen der Klave unterhielten besonders ausgezeichnete Be­ziehungen zur Mondin, die den Umgang der übrigen Frauen mit dem milden Gestirn an Innigkeit und Eindrücklichkeit bei weitem übertrafen. Stete rituelle Übung und eine strenge Zucht ihrer Lebensweise schärften ihnen Geist und Sinne, so dass ihnen ihre in die Allnatur ausgespannte Seelengestimmtheit Eingebungen und Gesichte zuteilwerden ließ. Sie legten Ort und Ausrichtung von Bauten fest und bestimmten über die Anlage von Äckern und Feldern. Sie geboten über die Töne und Klänge der Drehleiern, die die Mannlinge den Frauen zu Willen werden ließen. Mittels Kräutertränken und eines Suds aus bestimmten Pilzen versetzten sie sich in Ekstasen des Geistes und des Leibes, die sie für Botschaften empfänglich machten, die mit bloßen Alltagssinnen nicht zu fühlen und zu erkennen waren. Einige übermäßig begnadete unter ihnen waren sogar befähigt, ihre Seelen von ihrer leiblichen Hülle zu trennen, sie sich aufschwingen zu lassen und auf weite Reisen in die Vergangenheit und gar in noch kommende Zeiten zu schicken. Die Einsichten und Erkenntnisse, die sie von solchen Reisen mitbrachten, bildeten oft den willkommenen Hintergrund für Entscheidungen, die das Rund der Mütter im Hort der Beratung traf, die Geschicke der Klave zu lenken.

      Neben diesen tiefen und weit reichenden Belangen großer Tragweite waren die Schamaninnen auch die Heilkundigen und Hebammen der Klave. Sie besaßen eine umfassende Kenntnis der Kräfte von Pflanzen und Kräutern sowie der Wechselwirkungen der Organe des menschlichen Körpers und bewahrten dieses Wissen als streng gehütetes Geheimnis, das sie von Generation zu Generation weitergaben, damit es nicht in falsche Hände geriet.

      „Sanguine hat uns von deinem Begehr unterrichtet, ein Kind zu empfangen“, sagte Mysia. „Auch wenn dein Alter dafür schon recht fortgeschritten ist, haben wir dagegen nichts einzuwenden und auch die Blut­linien stehen dem ja nicht zuwider. Wann möchtest du, dass der Ritus stattfindet?“

      „Wenn es zu bewerkstelligen ist, noch in diesem Umlauf“, entgegnete Ayiah.

      „Du hast dich zu Beginn des Umlaufs zur Kontemplation zurückgezogen und wir haben jetzt den dritten Tag. Wie lange dauert deine Blutung für gewöhnlich?“

      „Vier bis fünf Tage.“

      „Dann verfüge dich doch bitte jeweils zur Dämmerung des vierten und zweiten Tages vor der Nacht der vollen Mondin in den Hort der Empfängnis, auf dass wir die rechte Zeit bestimmen mögen.“ Mysia reichte Ayiah ein Beutelchen. „Ich gebe dir hier eine Mischung von Kräutern mit, die du am Morgen dieser Tage aufbrühst und so heiß, wie dir eben möglich, zu dir nimmst.“

      Am nächsten Tag ebbte Ayiahs Blutung ab und sie verließ den Rückzugsort, ging wieder ihren üblichen Obliegenheiten nach und versuchte, jeden Gedanken an den Mannling aus ihrem Kopf zu verbannen.

      Am ersten der von Mysia ausgewiesenen Tage trank sie morgens den Kräutersud, dampfend, dass er ihr die Kehle versengte, und fand sich abends im Hort der Empfängnis ein. Die Stätte war oberhalb des großen Runds der Kündung und Versammlung unmittelbar an der Flanke der Fernwarte gelegen. Hier verliefen mehrere Brüche und Spalten im Fels, die das in der Tiefe der Erde strömende Wasser preisgaben, das in hölzerne Rinnen geleitet, die acht über der Erde errichteten Auffangbecken speiste, die in der Klave verteilt waren. Galt es schon als Ackerfrevel, die Erde zum Pflügen mehr als geziemend zu ritzen, so war es gänzlich wider die Schöpfung, raumgreifend und steil in ihre Eingeweide zu dringen und so waren die natürlichen Spalten am Hort der Empfängnis die einzigen Brunnen der Klave. Der größte und ergiebigste Durchlass war ausgemauert und darüber, aus festen Steinen geschichtet, der Hort der Empfängnis errichtet worden. Genau über dem Brunnen befand sich die Öffnung im Dach, durch die sich untere und obere Sphäre ungehindert miteinander verbinden konnten. Der Boden war nicht mit Steinplatten ausgelegt, sondern bestand aus nackter, gestampfter Erde, in die längs der Mauern vier Feuerstellen eingelassen waren, die die vier Himmelsrichtungen wiesen.

      Jedes neue Leben erwuchs aus einer einzigartigen Verbindung der vier Kräfte Feuer, Erde, Wasser und Luft, und die Frauen bildeten das Gefäß, in dem diese Verbindung unter der Gnade der Mondin in Fleisch und Blut Gestalt annahm. Der Beitrag, den die Mannlinge dabei leisteten, war zwar unverzichtbar, aber nicht weiter Gegenstand der Überlegungen der Frauen.

      „Erde und Äther“ dachte Ayiah, als sie den Raum betrat und ihren Blick von der unergründlichen Schwärze des Brunnens in den abendlichen Himmel erhob. Ein Kind zu empfangen, war für sie bislang ein mystischer Akt gewesen, der von spirituellen Gefühlen begleitet war. Der Gedanke, dass dies mit körperlicher Wollust verbunden sein konnte, war ihr nie gekommen. Und doch wollte sie hier binnen weniger Tage ihrer Fleischeslust nachgeben, um fürderhin nicht mehr von ihr gepeinigt zu werden und sich und ihre Eignung für das Amt, das sie anstrebte, nicht länger in Frage stellen zu müssen. In welch schier aberwitzige Lage hatte sie sich da sehenden Auges begeben? Doch nun konnte sie nicht mehr zurück. Ihr Ersuchen um Empfängnis war längst offiziell und es war auch allseits bekannt, dass sie Brachvogel zu ihrem Zeugungsträger bestellt hatte. Diesen jetzt noch auszutau­schen, war nicht möglich. Sie musste also tun, was zu tun war und jetzt dabei helfen, den genauen Zeitpunkt des Ritus zu bestimmen.

      Neben dem Brunnen stand Mysia und machte sich an einem Tisch mit gläsernen Phiolen und Schälchen zu schaffen. Ayiah trat hinzu und begrüßte die Hebamme.

      „Nun wollen wir sehen, wann du bereit bist, neues Leben zu empfangen“, sagte Mysia. „Hast du den Trank aus den Kräutern, die ich dir gab, bereitet und zu dir genommen?“

      Ayiah nickte und Mysia bat sie sodann, etwas von dem Schleim aus ihrem Geschlecht zu Tage zu fördern, der sich gewöhnlich etwa ein Umlaufviertel nach dem Verebben ihrer Blutung bildete. Ayiah griff unter ihr Gewand, lüpfte ihre Schambinde, führte einen Finger in sich ein und bewegte ihn hin und her, dass etwas davon haften bleibe. Als sie den Finger wieder hervorzog, war dessen Spitze von einem klumpig, trüb-gelblichen Sekret bedeckt.

      „Berühre einmal mit dem Daumen die Kuppe deines Zeigefingers“, sagte Mysia.

      Ayiah führte Daumen und Zeigefinger zusammen, doch der Schleim bleib zäh an ihrem Zeigefinger haften. Mysia ergriff ihn und tunkte ihn in ein kristallenes Schälchen mit einer hellroten Flüssigkeit. Dann nahm sie einen hölzernen Spatel und strich den Schleim vom Finger. Ayiah beobachtete, wie er sich zu kleinen Kügelchen ballte, die am Boden des Schälchens liegen blieben und nach einiger Zeit eine hellrote Färbung annahmen.

      „Das ist gut“, urteilte Mysia. „Dein Körper öffnet sich allmählich, so dass die Elemente, die neues Leben schaffen, sich anschicken, in dich eindringen zu können. In zwei Tagen sehen wir weiter.“

      Als Ayiah Mysia das nächste Mal aufsuchte, war ihr Schleim glasklar und durchscheinend wie rohes Eiweiß, spielte ins Rötliche und zog zwi­schen Daumen und Zeigefinger lange Fäden. In einem Schälchen mit blauer Flüssigkeit