Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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der NucleusTanks in den UterusLabs herrschen mochte, dachte Esther. Sie stand mit einigen hundert anderen Citizens am Fuß der RhythmWall und groovte sich allmählich ein. Neben ihr ließ Greve, der Trendsetter ihrer SocialUnit, sein Becken kreisen und vollführte exaltierte Bewegungen mit den Armen. Sie hatte sich seinem Drängen, doch einmal ein RhythmClimbing mitzumachen, nicht länger entziehen können, wollte sie nicht riskieren, aus dem Mittel ihrer Unit zu fallen. Alle ihre Peers schwärmten von dem Gemeinschaftsgefühl, das dabei entstand.

      „So atavistisch diese Art der Bewegung auch sein mag, so megagauß ist das Gefühl, sich beim Emporklettern mit allen anderen zu verbinden.“

      Jetzt schwoll das Wummern der Bassdrum an und versetzte Esthers Kopf und Brustkorb in Schwingungen.

      „Wir mitteln uns und beginnen, uns hinauf zu schwingen“, rief der RhythmMaster. „Jeder in seinem Tempo. Jeder in seinem Rhythmus.“

      Esther legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Die Decke der Halle, unter die verschwommene Bilder von euphorisierten Citzens bei irgendwelchen Gemeinschaftsaktivitäten projiziert wurden, mochte gut 50 Meter hoch sein. Sie überprüfte den korrekten Sitz von Short- und LongLine, rückte ihren Helm zurecht, legte die Hände auf die mit einem griffigen Material überzogenen Sprossen und zog sich hoch. Eigentlich hatte sie vorgehabt, einfach so schnell wie möglich nach oben zu klettern. Schließlich war auch RhythmClimbing wieder nur einer der vielen neuen, völlig bedeutungslosen Trends, die einen in Bezug auf die wirklichen Fragen nicht einen Meter weiterbrachten. Doch je höher sie kam, desto weniger konnte sie sich der dichten Atmosphäre entziehen, die sie umgab. Daran mochte auch der LevitationCocktail seinen Anteil haben, der jedem Teilnehmer angeboten wurde, sobald er die Halle betrat.

      Der Bass, jetzt von einer flirrenden Melodie überlagert, pulsierte in ihren Knochen. Höher und höher zog sie sich. Überall um sie herum Körper, die sich in den wildesten Verrenkungen an den Sprossen abarbeiteten. Sie begann zu fliegen. Völlig ihrem Move hingegeben, spreizte sie sich, nur mit der rechten Hand eine Sprosse umklammernd und dem rechten Fuß Tritt fassend, von der Wall ab und versetzte sich in Schwingung. Die an ihren Schulter- und Schenkelgurten anliegende LongLine würde verhin­dern, dass sie abstürzte. Über ihr wand sich ein in die Kniekehlen eingehängter Körper in konvulsivischen Zuckungen. Neben ihr pumpte sich eine Citizen mit ruckartigen Bewegungen in die Höhe. Unter ihr ekstatisch verzerrte Gesichter. Sah sie auch so aus?

      „Hakt eure ShortLine an die euch nächst erreichbare Sprosse“, wies der RhythmMaster an.

      Esther hörte das Klicken, mit dem die Climber den Karabinerhaken ihrer ShortLines über den Sprossen der Wall einschnappen ließen und tat es ihnen nach. Plötzlich kippte die Wall in die Waagerechte, sie verlor ihren Griff und fand sich frei über dem Grund der Halle schwebend. Überall um sie herum mit Armen und Beinen rudernde Climber, die versuchten, der abrupten Haltlosigkeit etwas entgegen zu setzen. Jemand schrie. Nur den wenigsten war es gelungen, sich an den Sprossen festzuklammern. Etliche, offensichtlich schon erfahrene Climber, hatten sich erst gar nicht mit der ShortLine gesichert, sondern pendelten in weiten Schwüngen an ihrer LongLine.

      „Lasst los. Lasst euch fallen“, rief der RhythmMaster mit Emphase. „Auch, wenn ihr scheinbar haltlos seid, die Mittelung wird euch retten. Wer abweicht, wird von den anderen aufgefangen. Fasst euch bei den Händen.“

      In dem bauchkitzelnden Auf und Ab der Elastik ihrer ShortLine streckte Esther die Arme aus und bekam um sich herumtastend tatsächlich nach einiger Zeit Hände zu fassen. Sie drehte sich nach links: Tatsächlich Greve, dessen marketingselig breites Grinsen ihr lauthals verkündete: „Habe ich nicht gesagt, RhythmClimbing ist megagauß?“ Sie drehte sich nach rechts: Eine unbekannte Citizen, die sie mit hochgezogenen Augenbrauen so eindringlich und intensiv musterte, als würde sie sagen: „Du bist mir ein Rätsel, aber ich würde dich nur zu gern ergründen.“

      Die Blicke in der Urb checkten meist nur oberflächlich ab, mit wem man es einkaufstechnisch und meinungsmäßig zu tun hatte. Trafen auch nur zwei Drittel möglicher Kategorien zu, war man klassifiziert und abgetan. Der Blick dieser Citizen aber ging tiefer, schien mehr von Esther erfahren und wissen zu wollen. Endlich war hier vielleicht jemand, dem sie sich außerhalb ihrer Treffen mit den Oneironauten, bei denen es vorwiegend um strategische Dinge ging, offenbaren konnte. Jemand, dem sie von den Träumen, die sie geträumt und den Büchern, die sie gelesen hatte, erzählen konnte. Schwerelos an ihrer ShortLine wogend schwang Esther ihre Gedanken in die Weite. So, wie die alten Helden, von denen sie gelesen hatte, in froher Runde aus Bechern ihren Wein „gebechert“ hatten, würde sie vielleicht mit dieser Citizen Bücher „büchern“ und Träume träumen.

      Diese Lalic ist völlig anders, als ich sie mir vorgestellt habe, dachte View. Völlig anders als alle Citizens, die ich je classified habe.

      Jetzt glitt die Wall langsam in die Senkrechte zurück und Esthers Hände und Füße bekamen wieder Kontakt mit den Sprossen.

      „Gleicht eure Moves in Tempo und Rhythmus einander an. Wir sind nun ein gemitteltes Ganzes und schwingen uns gemeinsam weiter hinauf“, tönte der RhythmMaster.

      Der Rhythmus der Musik wurde drängender und trieb die Climber förmlich die Sprossen hoch.

      „Links – rechts! Rechts – links!“, skandierte der RhythmMaster. „Recht so. Uns alle eint und verbindet ein großes Ziel: Die Mittelung. Verleiht eurem Streben danach körperlichen Ausdruck. Rechts – links! Links – rechts!“

      Aus den Augenwinkeln heraus nahm Esther wahr, wie sich die Bewegungen der Climber allmählich einander anglichen. Linker Fuß. Rechte Hand. Hüft­schwung. Schulterdrehung. Der gemeinsam geteilte Groove war wie ein Sog, der sie wider besseres Wissen mit sich riss. Rechter Fuß. Linke Hand. Hüftschwung. Schulterdrehung. Die Sprossen der Wall bebten und das gesamte Gerüst begann zu schwingen. Als sämtliche Climber sich an der Spitze der Wall zusammenballten, schwoll die Musik zu einem Crescendo an und legte sich über die synchron pulsierende Bewegung aus hunderten von Körpern. Esther wiegte sich mit ihnen. Sie fand sich in eine unbestimmt beschwingte Weite versetzt, in der sie schwebte, ein Gefühl ähnlich dem, das sie in ihren Träumen in der Traumzeit hatte, und gab sich ganz der tranceartigen Bewegung hin.

      Nach einer Weile hatte sie sich völlig verausgabt und schlagartig wurde ihr bewusst, was sie hier eigentlich tat. Gerade hatte sie sich voller Inbrunst in eines der meistgehypten Events hineingesteigert, an dessen Konzeption sicher auch die Authority of PoliticalIndoctrination ihren Anteil hatte. Sie stürzte innerlich ab. Vergaußt, sie hatte sich vereinnahmen lassen. Dieses RhythmClimbing war doch bloßes Mittel zum Zweck, die Mittelung mit positiven Emotionen aufzuladen und in den Köpfen der Citizens zu verankern. Esther fühlte sich missbraucht und in ihren innersten Gefühlen verletzt.

      „Unsere Citizenship. Ein Puls. Eine Richtung. Ein Ziel: Die Mittelung.“, endete jetzt der RhythmMaster die Session. Die Musik ebbte ab. „Klettert nun langsam wieder hinunter, jeder wieder in seinem eigenen Tempo. Die LongLines sichern euch. Wer nicht klettern mag, wird abgeseilt.“

      Tatsächlich hingen nicht wenige Climber schlaff in ihren LongLines, während sie dem Boden entgegen sanken. Ernüchtert ließ sich Esther langsam die Sprossen herunter gleiten. Neben sich entdeckte sie die Citi­zen, deren Hand sie ertastet hatte. Wieder dieser eindringlich fragende Blick.

      „Wie heißt du?“

      „Lalic. Lalic4j8.“

      „Ich bin Kibele2k5, aber alle nennen mich View. Zum ersten Mal beim Climbing?“

      „Ja.“

      „Und wie fandest du es?“

      „Megagauß!“ antwortete Esther mit der ihr geboten erscheinenden Begeisterung. Niemandem Einblick in ihre tatsächlichen Gefühle zu geben, war ihr zur zweiten Natur geworden.

      „Ich bin auch neu hier, finde allerdings, RhythmClimbing wird etwas überschätzt“, versuchte View Esther mit einer kritischen Einschätzung aus der Reserve zu locken.“

      „Take your Choice. Jeder in der Urb hat das Recht auf seine eigene Meinung“, wich diese mit gesenkten Augen und einem Gemeinplatz aus.

      Inzwischen