Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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Hütte und wedelte mit zittrigen Händen in der Luft zum Zeichen, dass sie eintreten möge.

      „Was ist dein Begehr?“, fragte sie.

      „Ich bin willens, der Klave ein Kind zu schenken“, antwortete Ayiah.

      „Wer bist du?“

      „Ayiah, empfangen in der Gnade der Mondin am zweiten Tage des dritten Umlaufs im fünfhundertsechsunddreißigsten Umlaufzwölft.“

      Um die Abstammungsherkünfte nachvollziehen zu können, war es üblich, den Tag eines jeden Aktes der Empfängnis zu verzeichnen. Sollte der Ritus nicht in eine Schwangerschaft münden oder die Leibesfrucht vor der Zeit oder unter der Geburt zu Schaden kommen und ihren Eintritt in die Welt nicht überleben, wurde der Eintrag mit einem entsprechenden Vermerk wieder gelöscht.

      „Ayiah“, wiederholte die alte Frau und musterte sie eingehend. „Du bist eine von denen, die als Anwärterinnen auf das Amt der Archontin gehandelt werden. Wen bestellst du als deinen Zeugungsträger?“

      „Den just fraubar gewordenen Jungmannling Brachvogel, Springling in der Frauschaft von Lignumera, der Holzfrau, mutmaßlich empfangen im fünfhundertachtundvierzigsten Umlaufzwölft.“

      Mit einiger Mühe hob Sanguine einen dickleibigen Folianten von einem Wandbrett und wuchtete ihn auf einen Tisch, der mitten in der Hütte stand.

      „Hier sind sämtliche Blutlinien der Klave seit ihren Anfängen in den ersten Umläufen nach der Großen Verderbnis verzeichnet“, verkündete sie, benetzte den rechten Zeigefinger mit der Zunge und begann zu blättern. „Hm, Brachvogel, Brachvogel“, grummelte sie, „kann ihn hier nicht finden, deinen Brachvogel.“

      Richtig, das konnte sie wirklich nicht, wurde Ayiah plötzlich klar. Den Namen Brachvogel, bei dem es dann irgendwie geblieben war, hatte er ja von ihr bekommen. Wie war doch gleich sein ursprünglicher Name gewesen? Eniroi? Da Brachvogel nicht zu ihren eigenen Zöglingen gehört hatte, war sie sich nicht völlig sicher, meinte sich jedoch an etliche Anlässe zu erinnern, als laute Eniroi-Rufe erschollen waren, weil der eigenwillige Knabling die Stätte der Aufzucht wieder einmal in helle Aufregung versetzt hatte.

      „Eniroi“, sagte Ayiah. „Mein Zeugungsträger wird zwar Brachvogel gerufen, aber sein eigentlicher Name lautet Eniroi.“

      „Eniroi“, murmelte Sanguine gedehnt und blätterte durch etliche Seiten. „Da haben wir ihn ja. Empfangen am zwölften Tage im zweiten Umlauf des fünfhundertachtundvierzigsten Umlaufzwölfts. Und nun zu dir, Ayiah. Zweiter Tag des dritten Umlaufs im fünfhundertsechsunddreißigsten Umlaufzwölft?“

      „Ganz recht“, bestätigte Ayiah. Trotz der Hinfälligkeit ihres Körpers verfügte die Alte offenbar über ein tadelloses Gedächtnis.

      Sanguine bündelte einen Packen Seiten, legte ihn um und schlug an anderer Stelle des Abstammungsbuches nach. „Wie ich sehe, hast du schon zwei Kindern das Leben geschenkt und damit deine Pflicht der Klave gegenüber erfüllt. Überdies bist du nahe daran, die Kräfte der Natur herauszufordern, in einem Körper von neunundzwanzig Umlaufzwölfen ein wohlgestaltetes Kind heranwachsen zu lassen. Natürlich sind mir die Hintergründe deines Ansinnens wohl bekannt, war es doch die alte Sanguine, die die Archontin darauf auf­merksam gemacht hat, dass schon lange nicht mehr aus jedem Empfängnisritual ein Kind erwächst und dass es eng wird mit den Zeugungsträgern. Hat das Rund der Mütter also beschlossen, dass ab jetzt jede Frau drei Abkömmlinge empfangen kann. Allerdings kann ich mich bei dir des Eindrucks nicht erwehren, dass da mehr dahintersteckt.“

      Sie zwinkerte Ayiah listig zu.

      „Du hast nicht etwa vor, als eine der Bewerberinnen für das Amt der Archontin als gutes Vorbild voranzugehen und dir so die Bahn zu Erlangung der Würde der Großen Mutter zu ebnen?“

      „Ich sehe es als meine Plicht ...“

      „Lass gut sein Kindchen“, winkte Sanguine ab, „die Ränke der hohen Staatskunst zu beurteilen ist meine Sache nicht. Es wird allerdings seine Zeit dauern, bis ich alle Verzweigungen und Verästelungen der Blutlinien zwischen dir und diesem Brachvogel geprüft habe. Komm in zwei Tagen wieder, dann kann ich dir sagen, ob du mit ihm reines Blut zuwege bringen kannst oder nicht.“

      Es focht Ayiah nicht an, dass Sanguine ihr politisches Kalkül unterstellte. Mit ein und derselben Handlung mehrere unterschiedliche Absichten zu verfolgen, schien ihr eher ein Gebot der Klugheit denn schändlich zu sein.

      Nach zwei Tagen fand sie sich erneut bei der Hüterin der Blutlinien ein, um Gewissheit zu erlangen.

      „Ah, Kindchen, da bist du ja wieder“, hieß Sanguine sie willkommen. „Der Plan der Großen Mutter Idune scheint aufzugehen, denn inzwischen haben schon etliche weitere Mütter ihre Absicht bekundet, ein drittes Kind zu empfangen. Mögen diese unsere Klave bereichern und ihr reiche Frucht und Segen bringen. Was dich angeht, so habe ich deine Herkunftslinien und die des Brachvogel-Eniroi gewissenhaft nachgezogen und geprüft. Nirgendwo verlaufen sie dicht nebeneinander oder berühren und überkreuzen sich gar. Die Gefahr, dass du durch die Vereinigung mit diesem Zeugungsträger verdorbenes Blut in die Klave einbringst, kann also mit Sicherheit ausgeschlossen werden.“

      Ayiahs Wunsch und Wille war es, ihr Ritual der Empfängnis in einer Nacht zu begehen, in der die Mondin als volles Rund am Himmel stand. Waren doch die Frauen besonders angesehen, deren Mondblutung genau dann einsetzte, wenn die Lichtgestalt Lunas eine kaum wahrnehmbare Sichel einnahm, und die den Zeitpunkt ihrer höchsten Fruchtbarkeit erklommen, wenn auch die Mondin ihre volle Gestalt erreicht hatte. Es war dies eines der mannigfachen Wunder der Natur, dass der Zyklus der Frauen in etwa so lange dauerte wie ein Umlauf der Großen Mondin. Maßgeblich hieraus leiteten die Frauen den Anspruch ihrer Wei­sungs­befugnis den Mannlingen gegenüber ab, deren geradliniges Dasein ohne jegliche Übereinstimmung mit dem Himmelsgestirn verlief.

      Da der Zyklus der meisten Frauen um ein kleines länger oder kürzer währte als ein Umlauf der Mondin, kam es immer wieder zu Verschiebungen und auch Ayiahs Kreislauf der Fruchtbarkeit verlief gegenwärtig etwas versetzt, doch wusste sie sich Mittel und Wege, ihn genau in die Bahn der Mondin münden zu lassen. Ihres Wissens konnten sich bisher nur wenige Archontinnen rühmen, eine Empfängnis genau zur Gestalt der vollen Mondin eingeleitet zu haben. Das musste ihr unbedingt auch gelingen. Denn selbst wenn eine andere Frau vor ihr einen dritten Abkömmling empfangen sollte, so würde dies mutmaßlich nicht unbedingt in einer Nacht der vollen Mondin geschehen. Gerade nahm Lunas Rund wieder ab und Ayiah würde den Rest des Umlaufs dazu nutzen, ihren Zyklus auf den der Mondin einzustimmen. Auf dem Höhepunkt des nächsten Umlaufs sollte dann ihre Empfängnis stattfinden.

      In dieser und allen folgenden Nächten suchte Ayiah den Einfluss des milden Nachtgestirns. Selbst bei Regen, wenn nur der Himmel einigermaßen klar war, stahl sie sich aus ihrer Frauschaft und stieg auf einen Felsen am Ufer der Lunagleiß, der seit Frauengedenken dafür stand, auf seiner abgeflachten Krone ruhenden Müttern eine besonders eindrückliche Verbindung mit der Mondin zu schaffen. Dort niedergelassen entblößte sie, entschlossen der Kälte trotzend, ihre Leibesmitte und bot sich, ihr Becken wölbend, den Strahlen der Mondin dar. Dabei konzentrierte sie sich auf die Stimmen und Rhythmen ihres Blutes und ihre ganze Wahrnehmung verdichtete sich auf das Leuchten über ihr. Immer, wenn sie so einige Zeit verharrt hatte, vermeinte sie in sich eine Kraft zu spüren, die sich in ihrem gesamten Körper ausbreitete und ihn zu einer weltumspannenden Schwingung dehnte, deren Vibration und Tönen sie mit dem Gestirn in einen vollendeten Einklang brachte. Ayiah war sich nicht sicher, ob die Zeit bis zum nächsten Umlauf ausreichen würde, ihren Zyklus auf die Mondin hin aus­zu­richten.

      Tatsächlich aber spürte sie, wie der Fluss ihres Blutes genau dann einsetzte, als Luna sich anschickte, den neuen Umlauf zu beginnen.

      Die Zeit der Blutung war geheiligt in der Klave. Ohne Blut gab es kein Leben und indem Frauen regelmäßig einmal im Umlauf einen Teil ihres Lebenssaftes aus ihrem Körper entließen, erwies sich, dass ihr Organismus der Natur geöffnet war. Anders als die Mannlinge, die ihr Blut selbstbezüglich horteten und immer bei sich behielten, standen Frauen in stetem Austausch mit allem, was sie umgab und waren bereit, für die Gaben, die sie empfingen, auch etwas zurückzugeben.