Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


Скачать книгу

Auge darauf, dass alle Riten und Regeln des Kultes der Großen Mondin eingehalten wurden. Ohne Aufschluss darüber zu haben, wie sich die Zumutung der Fortpflanzung anders gestalten ließe, teilten viele der Wächterinnen Leials empörten Groll auf alles, was mit dem Mannlingsgezücht zusammenhing.

      Im Gegensatz zu Leial verunglimpfte Ayiah die Mannlinge nicht, sondern betrachtete sie als Mitgeschöpfe, die der naturgegebenen Weisung der Mütter anheimgestellt, ebenso Teil des ewigen Kreislaufs waren, wie die Frauen selbst. Ins Rund der Mütter berufen, den Kreis der Weisen Frauen um die Archontin, arbeitete sie daran, dass Frauen und Mannlinge gedeihlich miteinander auskamen. Aber nicht nur zwischen Frauen und Mannlingen gab es Spannungen, sondern auch zwischen Entkeimten und Zeugungsträgern, Gehilflingen und Springlingen, den mäch­tigen Großmeis­terinnen und Vorsteherinnen der Gewerke sowie den einzelnen Meisterinnen und selbst die Archontin führte mit der Häuptin der Wächterinnen lange Dispute darüber, was der Mondin gefällig war und was nicht. Dank ihrer ausgleichenden Natur gelang es Ayiah, viele Zwistigkeiten einvernehmlich zu entschärfen und im Laufe der Zeit war sie in den engsten Kreis um die Archontin aufgestiegen. Das Gewicht all ihrer Obliegenheiten hatte die Gedanken an den Mannling lange Zeit in den Hintergrund geschoben, doch eines Tages drängte Brachvogel wieder mit Macht in ihre Kreise.

      Ayiah, deren Frauschaft am südlichen Wall unmittelbar neben dem die Lunagleiß begleitenden großen Fahrweg gelegen war, war auf dem Weg zum Hort der Beratung, als sie vor sich einer Gruppe von Springlingen ansichtig wurde, die wohl zum nächstgelegenen Rund der Kündung strebten, um dort nach Erledigung ihrer Arbeiten – es war noch früh am Tage – weitere Aufträge zu empfangen. Abgesondert von dem Trupp lauthals parlierender Springlinge schritt eine Gestalt, deren Umrisse ihr lange vertraut und doch seltsam fremd erschienen. Der hochgewachsene, hagere Mannling bewegte sich geschmeidig wie eine Haselnussgerte und sein Gang vermittelte eine eigenwillige und selbstgewisse Unabhängigkeit. Als würde er ihren Blick spüren, drehte er sich kurz um und wandte sich, als er niemand Bekannten entdeckte, wieder nach vorne. Es war Brachvogel. Lange hatte Ayiah ihn nicht gesehen und der kleine Knabling, den sie damals als zerrupftes Federwesen auf dem Unland der Gleiß in der Stätte der Aufzucht aufgelesen hatte, war zu einem gar stattlichen Mannling herangewachsen. Er musste jetzt siebzehn Umlaufzwölfe alt und damit fraubar geworden sein, sinnierte Ayiah. Sie verspürte ein Ziehen im Magen und hatte in der anschließenden Versammlung Mühe, dem anstehenden Belang die angemessene Aufmerksamkeit zu schenken.

      Der Hort der Beratung gehörte zu den wenigen aus Stein errichteten Gebäuden der Klave. Um die Sammlung der dort tagenden Mütter zu fördern, waren in seine kreisförmig angelegten Mauern keinerlei Fenster gebrochen, lediglich eine große Flügeltür öffnete sich zum zentralen Rund der Kündung hin. Wie alle Bauwerke, die höherem Zeremoniell dienten und in denen die Mütter zusammenkamen, um die Geschicke der Klave zu lenken, verfügte auch der Hort der Beratung über eine Aussparung im Sparrenwerk seines Daches, durch die sich der Raum in die Sphäre der Mondin hinein öffnen konnte. Sein Inneres wurde von einem runden Tisch beherrscht, an dem jetzt etwa dreißig Mütter Platz genommen hatten. Obwohl es recht kühl in dem Gemäuer war, loderte kein Feuer im Kamin und auch das dicke Filztuch über der Öffnung im Dach war beiseitegeschoben. Archontin Idune hatte die Erfahrung gemacht, dass es dem Zustandekommen schneller und tragfähiger Entscheidungen förderlich war, wenn die Teilnehmerinnen einer Entscheidungsrunde sich nicht allzu wohl fühlten.

      „Liebe Mitmütter und Lenkerinnen“, eröffnete sie die Zusammenkunft. „Unsere Klave leidet unter einem Geschick, das dermaleinst in einigen Generationen ihren Fortbestand infrage stellen kann. Wir zählen jetzt etwa dreißigtausend Häupter und wenn man, wie ich es aus einer mich schon lange beschleichenden unguten Ahnung heraus in den letzten Umläufen getan habe, die Abstammungsbücher zu Rate zieht, wird offenbar, dass wir seit vielen Umlaufzwölfen einen ständig fortschreitenden Schwund der Nachkommenschaft zu beklagen haben. Seit ewigen Umläufen haben die Schamaninnen im Zyklus einer jeden Frau, die in die Mutterschaft geführt wurde, die Hohe Zeit der Fruchtbarkeit mondinnenklar bestimmen können und ein jedes Ritual der Empfängnis mündete auch in eine Schwangerschaft. Einfühlsamkeit und Gespür unserer geschätzten Schamaninnen haben nicht abgenommen“, die Archontin legte die rechte Hand auf die linke Brust und neigte ihr Haupt in Richtung einer Dreiergruppe von Frauen, auf deren Umhang über der linken Brust ein stilisiertes Symbol der Mondin gestickt war, „und doch hat sich, ebenfalls mit Blick auf die Abstammungsbücher, erwiesen, dass in heutigen Umläufen nur noch zwei von drei Akten der Empfängnis in eine Schwangerschaft münden. Demzufolge kommen nicht so viele Kinder zur Welt, wie für die Aufrechterhaltung eines gedeihlichen Wirtschaftens vonnöten sind. Der Blick in die Abstammungsbücher gibt ferner Aufschluss darüber, dass sich immer häufiger die Blutlinien von angehenden Müttern, mit denen der von ihnen bestellten Zeugungsträger kreuzen, diese Verbindung also nicht zustande kommen darf. Das ist das eine.

      Das andere ist, das sich zwischen den Kleinen Frauen und den Knablingen, die zur Welt kommen, ein Ungleichgewicht anbahnt. Noch halten sich die Häupter von Frauen und Mannlingen in etwa die Waage, doch die sich nun abzeichnende Entwicklung gibt Anlass zu der Sorge, dass in einigen Umlaufzwölfen der Anteil der Knablinge, den der Kleinen Frauen übersteigen wird.“

      Die Archontin blickte in die Runde. „Welchen Ratschluss, liebe Mitmütter und Lenkerinnen, wollen wir treffen?

      Cyrilla, die Oberin der Schamaninnen, stemmte die linke Hand in die Hüfte zum Zeichen, dass sie das Wort ergreifen wollte.

      „Sprich“, nickte ihr Idune zu.

      „Es liegt zwar in unserer Macht, die Zeit der Fruchtbarkeit einer jeden Frau zu ermitteln, doch haben wir nicht in der Gewalt, das Geschlecht eines Kindes zu bestimmen, dies obliegt allein dem weisen Ratschluss der Mondin. Wenn es ihr gefällt, die Waagschale der zur Welt kommen­den Knablinge tiefer sinken und die der Kleinen Frauen höher steigen zu lassen, so müssen wir das demütig hinnehmen. Wir können uns nicht anmaßen zu wissen, was im empfindlichen und für uns unüberschaubaren Gefüge der Welt damit ausgeglichen und wieder ins Gleichgewicht gebracht wird.“

      „Wohl gesprochen“, stimmten ihr die anderen zu.

      Eilig winkelte da Leial, die mit anderen Wächterinnen ebenfalls an der Runde teilnahm, ihren linken Arm an: „Auch ich vermag kein Fehl daran zu erkennen, wenn die Klave über mehr Mannlinge als Frauen verfügt. Im Gegenteil: Die Mannlinge sind unsere Arbeitskräfte. Je mehr wir davon haben, desto besser. Je nachdem, in welchem Maße die Zahl der Köpfe der Mannlinge die der Häupter der Frauen überschreitet, scheinen wir allerdings gut beraten zu sein, die Zügel anzuziehen und die Mannlinge gestrenger zu überwachen und anzuweisen. Mich deucht ohnehin schon jetzt, dass sich etliche Mannlinge viel zu viel herausnehmen.“

      „Um die Zahl der Geburten wieder anzuheben, könnten wir darauf hinarbeiten, dass Mütter, die schon ohne ungute Reibungen zwei Kindern das Leben geschenkt haben, noch ein weiteres in die Welt setzen,“, gab Mysia, eine der Schamaninnen zu bedenken, die als Hebamme schon viele Kinder zur Welt gebracht hatte.

      „Vielleicht liegt es ja auch an den Zeugungsträgern und der mangelhaften Güte ihrer Säfte“, wandte Ferruma, die Eisenfrau ein, die als Vorsteherin des Gewerks der Schmiedinnen ebenfalls im Rund der Mütter saß. „Wie wäre es, in Zukunft weniger Knablinge zu entkeimen, um auf eine größere Fülle von Zeugungsträgern zurückgreifen zu können?“

      „Dem pflichte ich unbedingt bei“, sprang ihr Ayiah zur Seite. „Bislang unterziehen wir zwei von drei Knablingen der Entkeimung. Wir sollten überlegen, ob wir nicht gut daran täten, jedem zweiten Knabling die Keimdrüsen zu lassen, um den Strom der Abstammungslinien unserer Klave zu verbreitern, der, so scheinen es die Aufzeichungen im Abstammungsbuch nahe zu legen, zu einem kläglichen Rinnsal zu verkommen droht.“

      Ayiah erinnerte sich, ähnliche Rede schon damals in der Stätte der Aufzucht geführt zu haben, um die Entkeimung Brachvogels zu verhindern.

      Und wieder war es Leial, die sich hitzig dagegenstemmte: „Da sei die grundgütige Mondin vor“, ereiferte sie sich, ohne das Wort erteilt bekommen zu haben. „Jedem zweiten Knabling die Keimdrüsen lassen? Die Sicherheit unserer Klave scheint dir nicht sehr am Herzen zu liegen Ayiah und vielleicht wärest du gar besser gleich als Mannling zur Welt gekommen. Bedenke: Jeder