Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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das System konnten die Menschen ihres Lebens nie sicher sein.“

      „Die Sicherheit aller dominiert die Freiheit Einzelner.“

      „Berechenbarkeit bedeutet Sicherheit und Wohlstand durch stetigen Fortschritt. – Unberechenbarkeit bedeutet Bedrohung und Verelendung durch lähmenden Stillstand.“

      „Hoher Innovationsdruck und steter Konsum sichern die Grundlagen unserer Citizenship.“

      Mit den BadPastLessons, die die Urb im Lichte einer düsteren und bedrohlichen Vergangenheit als die beste aller Welten erscheinen ließen, und ihren rund um den Takt auf die InfluenceBoards gestreamten Indoctrinations, hämmerte die Authority die ideologische Grundlage für den Primat der Sicherheit durch Berechenbarkeit und Mittelung in die Köpfe der Citizens. Im Verbund mit der Agency of SocialTechnology war sie die mäch­tigste und einflussreichste Organisation der Urb. Gerade die zukünftigen „PolitIndocs“ verdienten es also, in ihrem Glauben an die Sinnhaftigkeit der Mittelung erschüttert zu werden.

      Die waagerecht hinter einer Lichtleiste verlaufenden Anschlussfugen der Innenverkleidung des Circuits boten Esther eine gute Möglichkeit, ihre Disrupter anzubringen. Sie fischte einen Gecko aus ihrer Tasche und wischte dann wie beiläufig über den oberhalb der Lichtleiste angebrachten Handlauf, wobei sie ihr Tierchen von der flachen Hand verdeckt in die Fuge darunter drückte. Keiner der zahlreichen Citizens, die den Circuit bevölkerten, um das Habitat zu verlassen und sich auf dem JoyCircle des Grounds zu vergnügen oder in den höher gelegenen Stockwerken des IndoctrinationTowers eines der nächtlichen ImpressiveSeminare zu besuchen, schenkte ihr Beachtung und soweit sie aus dem Augenwinkel heraus beurteilen konnte, fokussierte sich auch keiner der oft aufdringlich näher rückenden mobilen Agenten des Systems auf sie. Am Morgen würde die Säure neben der Elektronik auch die Adhäsions- und Mimikryschicht der Disrupter zerstören, die Hülle herunterfallen und wie achtlos weg geworfener Abfall wirken. Den Rest würden die CleaningBots erledigen. Ausgezeichnet, ja, so würde es gehen!

      Würde sie im Bereich der Einlassöffnung jedes fünfzigsten Hexagons einen Disrupter positionieren, hätte sie den gesamten Circuit abgedeckt und maximal 300 Citizens erreicht, die als zukünftige Member der Authority eine maßgebende Rolle in der Urb spielen würden. Im besten Fall wären die, denen Esthers Tierchen Träume zugewispert hatten, derart irritiert, dass sie diese Stelle gar nicht erst antreten würden. Es war mittlerweile schon Takt 79.450 und zu Fuß würde die Runde zu lange dauern. Esther wollte ihre Fake-Schleife nicht überdehnen und schwang sich auf einen Skater, um den Circuit zügig abzuarbeiten. Ohne Zwischenfall hatte sie ihre Traumfracht bald ausgebracht und verließ die School of PoliticalIndoctrination.

      Ihr letzter Job war die Repräsentanz von Pear.Inc. Während alle Citizens in der Regel zu den CircuitWalks der Wohnbereiche von Habitaten freien Zugang hatten und es hier also relativ einfach war, Traumsporen zu säen, bestand bei den meisten Büro- und Geschäftsgebäuden das Problem, sich über einen RetinaScan authentifizieren zu müssen. Ganz besonders galt das für Pear.Inc. Aber die Mitarbeiter des führenden Technologieanbieters waren natürlich auch ein besonders lohnendes Ziel für die Infiltration durch Träume. Im Prinzip verfügten die Onei­ronauten durchaus über das technische Know-how und auch die entsprechenden Ressourcen, das retinale Pigmentepithel des Auges jedes beliebigen Citizens nachzubilden. Aber das Risiko, dann im Gebäude auffällig zu werden, war nicht tragbar. Und einen Pear-Mitarbeiter selbst für die Traumzeit zu gewinnen, war den Nauten bislang noch nicht gelungen.

      Esther stand mitten auf dem PearSquare und ließ die Szenerie auf sich wirken. Links von ihr lagen Store und Showrooms, rechts die Verwaltung und vor ihr ragte ihr Ziel, die Entwicklungszentrale. Der dicht mit Citizens besetzte Platz wurde von der Projektion einer transparenten Filigrankuppel überspannt, – „Nur Pear hat die Kuppel unter dem Dome“ – auf deren Scheitelpunkt sich die riesige Birne drehte, deren ständig wechselnde Anzeigen stroboskopartig bunte Lichtsprengsel auf die Menge warfen. Die Fassade des Entwicklungsgebäudes konnte sie nicht erreichen, da es, wie eine der alten Burgen aus ihren Büchern, von einem breiten Gürtel aus Feuchtbiotopen umgeben war, die den üppigen Bewuchs aus GreenwallCrawlern, die die Wände überwucherten, mit Nährstoffen versorgten. Der einzige Zugang führte über zwei Viadukte, an deren Geländer sie ihre Geckos hätte platzieren können, wenn da nicht die Wachleute gewesen wären, die jeden, der sich den Übergängen auch nur näherte, argwöhnisch abcheckten.

      Um im Falle einer Entdeckung den Schaden zu begrenzen, war das Netz der Oneironauten dezentral organisiert. Jeder Naut hatte lediglich einen einzigen Kontakt zu jemandem, von dem er Weisungen erhielt und mit Equipment ausgestattet wurde, agierte aber ansonsten isoliert und unabhängig von anderen Nauten auf der gleichen Ebene. Das Fehlen allgemeiner Regularien und Einsatzpläne gestaltete die Operationen für den Einzelnen zwar aufwändiger, hatte aber den immensen Vorteil, dass kein einheitliches Muster zu erkennen war. Schließlich war die Identifikation von Mustern der Schlüssel für Berechenbarkeit und Mittelung, Mustererkennung im Grunde Sinn und Zweck des Systems. Würden sich vor den Linsen und Sensoren seiner Agenten auf bestimmten Georastern innerhalb bestimmter Taktfenster Dinge abspielen, die signifikante und kohärente Verlaufsmuster aufweisen und aus den bekannten und als unbedenklich eingestuften Settings heraus stechen würden, wäre eine Entdeckung lediglich eine Frage des Taktes.

      Esther war also völlig auf sich allein gestellt und musste sich etwas einfallen lassen. Obwohl morgen Abend schon wieder ein anderer Naut bereitstände, der es vielleicht besser wusste, durfte sie es auf gar keinen Fall darauf ankommen lassen, dass Pear auch nur eine einzige Nacht von der Traumfährte wich. Pear war Technologieführer, unvorstellbar, welche Möglichkeiten sich den Nauten erschließen würden, wenn es gelänge, auch nur einen einzigen der HighPotentials, die hier im Entwicklungszentrum arbeiteten – und hoffentlich auch in den NappingCells übernachteten – auf ihre Seite zu ziehen. Forschung und Entwicklung von Pear standen schon seit mehreren TeraTakten im Focus der Nauten und für alle Operationen galt Kassandras Leitsatz: „Nur steter Traum weitet und differenziert das Mittel.“ Esther musste ihre Disrupter auch unter diesen ungünstigen Umständen unbedingt positionieren, um die Kontinuität der Traumerlebnisse aufrecht zu erhalten. Wo aber sollte sie hier ihre letzten 5 Tierchen nur unterbringen?

      Sie blickte über den Platz. Sie konnte ihre Geckos kaum am Rand des Feuchtbiotops aussetzen, das um das Entwicklungsgebäude herumlief. Aber halt, da gab es eine Reihe von WasteBoxen, die in regelmäßigen Abständen aufgestellt wa­ren. Die würden erst am Morgen geleert und wenn sie jede dritte mit ihrer Traumsaat befrachtete, hätte sie genau die richtigen Distanzen, um die gesamte Front abzudecken. Langsam schlenderte sie auf die erste Box zu, griff in die Tasche und ließ mit einer gleitenden und selbstverständlichen Bewegung einen Disrupter hineinfallen. Sie ging wieder zurück in Richtung Platzmitte und näherte sich Kurven und Schleifen schlagend der nächsten Box, um auch hier eine Pille zu versenken. Da sie verhindern wollte, dass ihre Route nachverfolgt werden konnte, ging sie zunächst wieder über den Platz, schlenderte in einem der Showrooms herum und steuerte erst dann eine weitere Box an. Als sie hier den drittletzten Gecko hatte springen lassen, bemerkte sie die verwunderten Blicke eines Citizens, der sie offensichtlich beobachtet hatte. War ihre Maske verrutscht? Sie startete die Spiegelfunktion ihres AeroFlats. Nein, offensichtlich nicht. War es vielleicht ungewöhnlich, einen einzelnen EnergizerPop zu entsorgen? Würde jemand tatsächlich deswegen extra zu einer Waste-Box gehen? Vielleicht war es glaubwürdiger und realistischer, so etwas zusammen mit anderem Abfall wegzuschmeißen. Sie kramte in ihren Taschen. Was hatte sie dabei, das sie wegwerfen konnte? Einen abgelaufenen Chip fürs HoloCine. Einen angebissenen VulcanoBagel, den sie unterwegs gekauft und halb gegessen hatte, um sich den Anschein zu geben, ihre Freetime in vollen Zügen zu genießen. Extra scharf gewürztes Fingerfood war gerade gauß. Wer sich während des Verzehrs dieser Dinger am längsten dagegen wehren konnte, dass ihm der Schweiß auf die Stirn trat und das Wasser aus den Augen lief, hatte gewonnen. „Wein ihm keine Träne nach. Kauf gleich einen Neuen!“ Was ihr dagegen die Tränen in die Augen trieb, war der völlig unsinnige Aufwand, mit der das Merchandising rund um die „Produktwelten“ dieser VulcanoBurger betrieben wurde. Ein gebrauchtes Reinigungstuch. Ein defektes Multifunktionstool. Ein Stick für ... Sie hatte vergessen, wofür. Sie knüllte alles mit dem Gecko in einer Hand zusammen. Den fettigen Burger balancierte sie ganz oben.

      Gerade als