Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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den Egoismen sogenannter großer Geister und Individuen zu überlassen. Was ihn, Phileas Fogg, nicht davon abhielt, dem eigenen Individualismus zu frönen. Geschah dies doch zum Wohle der gesamten Urb. Natürlich konnte er Bücher lesen und im SchismNet surfen, aber sich mit einem klassisch humanistisch gebildeten Menschen zu unterhalten, war doch etwas ganz anderes. Fogg fühlte sich allein und war es leid, sich mit den tumben Wortblasen der anderen BigDatas abgeben zu müssen und vielleicht würde ihm die cerebrale Invasion von CaseOne mit den richtigen Inhalten einen ebenbürtigen Gesprächspartner schaffen.

      In ein künstliches Koma versetzt, lag CaseOne auf dem MedicalBoard in Foggs Labor, seine sämtlichen lebenswichtigen physiologischen Funktionen für die Dauer der cerebralen Invasion auf SurvivalUnits ausgelagert. Sein Zustand hatte sich nicht verändert. Seine Physis war nach wie vor stabil und auch sein Sprachzentrum hatte nicht gelitten, doch konnte er sich an nichts Persönliches erinnern. Er war von einem dichten Geflecht aus optoelektrischen Kabeln umgeben, deren Hauptstrang oberhalb seiner beiden ersten cervikalen Spinalnerven, dort, wo es direkt unter der Medulla Oblongata des Hirnstamms am massigsten war, in sein Rückenmark führte. Die Kabel verbanden ihn mit der Transfereinheit, in die Fogg alle ihm maßgeblich erscheinenden Inhalte der Kultur der verlore­nen Zeit vor dem Finalen Kataklysmus geladen hatte, die er für sinnvoll hielt. Allen voran sämtliche digitalen Bücher des Projects „Gutenberg“.

      Die Konversion der Inhalte der Transfereinheit auf die semantischen Naniten hatte länger gedauert, als Fogg gedacht hatte. Doch nun waren die mikroskopisch kleinen molekularen Maschinen mit Daten beladen und bereit, CaseOnes Gehirn zu fluten.

      Fogg nickte seinem Neurospezialisten zu: „Go!“

      Die Nanobots begannen CaseOnes Hirn zu infiltrieren. Auf mehreren Monitoren, die wiedergaben, was in den verschiedenen Hirnarealen vorging, wurde sichtbar, wie unter seiner Schädelplatte die elektrischen Impulse der zu Oszillatoren zusammengeballten Neuronen ein wahres Feuerwerk entfachten. Die bedeutungstragenden, mit historischer und literarischer Information beladenen Naniten dockten an den Synapsen der Neuronen in den für das semantische Gedächtnis zuständigen Gehirnarealen an. Hier dekodierten die Neurotransmitter die digitalen, elektrischen Impulse in einen hoch komplexen Cocktail chemischer Verbindungen, deren Substanzen den Spalt zwischen den Synapsen übersprangen, um ihren Weg über die Rezeptoren der Dendriten ins Innere der Neuronen zu nehmen, in deren Kern sie sich verankerten. Sobald die Naniten ihre wertvolle Fracht überbracht hatten, zogen sie sich wieder in die Transfereinheit zurück. Aufgrund der zu übertragenden Datenmenge dauerte dieser Prozess mehr als 2 MacroTakte, bis die Spitzen des extremen Neuronenfeuerwerks allmählich schwä­cher wurden.

      Fogg hatte den Prozess der cerebralen Invasion aufmerksam, aber distanziert auf dem Screen verfolgt. Nun gab es zwei Möglichkeiten. Entweder blieben die übermittelten Daten im semantischen Gedächtnis stecken, in dem reine Informationen verarbeitet wurden, und kapselten sich dort als voneinander isolierte, atomisierte Informationssplitter ab. Dann wäre CaseOnes Gehirn zum bloßen Wetware-Speicher gewor­den. Oder aber, was Fogg dringend hoffte, die Axone der ausgehenden Rezeptoren der mit neuer Information gespeisten Neuronen vernetzten sich solange miteinander, bis die Informationen in das episodische Gedächtnis und bis hin zur Amygdala wanderten, um sich dort mit individuellen Dispositionen und Emotionen anzureichern. Dann erst würde vielleicht eine neue, ganzheitliche Persönlichkeit entstehen.

      Dieser Prozess aber war von außen weder zu initiieren noch zu steuern, da es wesentlich darauf ankam, wie hier die Hirnareale mitspielten, die das enthielten, was von CaseOnes ursprünglicher Persönlichkeit übriggeblieben sein mochte. Die Nanotechnologie der Urb war zwar soweit, Daten in das menschliche Gehirn übertragen zu können, aber eine Persönlichkeit schaffen oder in ihrer Grundstruktur beeinflussen konnte sie nicht. Wie immer war der innerste Kern auch dieses Citizens eine Black­Box, die unmittelbar und direkt auch mit allen Mitteln der Agency of SocialTechnology nicht zu knacken war. Deshalb gab es ja die Mittelung, die zwar langwierig, aber letztendlich Erfolg versprechend war.

      Der NanoCount bestätigte jetzt, dass sämtliche molekularen Robots in die Transfereinheit retrodiffundiert waren, aber immer noch wiesen die neuronalen Impulse in CaseOnes Gehirn ein Level von sehr hoher Aktivität aus. Das war ein gutes Zeichen. Offenbar vernetzten sich die von den Bots infiltrierten Neuronen in hohem Tempo weiter. Nun hieß es warten.

      Fogg wies seine Mitarbeiter an, alle Datenleitungen zu kappen und sämtliche Funktionen der Lebenserhaltungssysteme wieder in CaseOnes eigenen Organismus über zu leiten. Dann wurde ihm eine Kanüle mit hochkonzentrierter Nährlösung appliziert, er wurde an das MedicalBoard fixiert und sich selbst überlassen.

      Das erste, was er spürte, war ein fast unerträglicher Juckreiz am Kopf. Mechanisch wollte er einen Arm heben, um sich zu kratzen, doch ließen sich weder Arme noch Beine bewegen. Er war – denn da war die eindringliche Impression dieses Juckens, die ihn völlig erfüllte. Doch wer war er? Kein Gefühl, keine Antwort.

      Wie Dampf, der sich an den Wänden eines gläsernen Hohlraums in Tropfen niederschlägt, kondensierten einzelne Stimmen an den Rändern der wirbelnden Leere, die ihn ausmachte und raunten in sein inneres Ohr:

      Ich habe die verlorene Zeit beschworen. Ich bin Robinson Crusoe, Mensch gewordene Insel. Clawdia Chauchat, Sylphe des Zauberbergs. Rasputin, des Zaren Einflüsterer. Shelly Floatgrave, Künstlerin der Quantendiffusion. Ich bin Undine, die Fischschwänzige. Man nennt mich Hermes, den Gott der geflügelten Bot­schaft. Ich bin das Mädchen mit den Schwefelhölzchen. Nennt mich Ismael. Robert Kennedy, politische Ikone. Robin Hood, Held der Freisassen. Mein Name sei Gantenbein. Pan der Bocksbeinige, Faun werde ich genannt. Mein Name ist Xiao Fluidis, Begründer des fluktuativen Tanzkultes. Ich bin der Geist der zukünftigen Weihnacht. Man nennt mich Neferetiti, die Schöne. Ich bin Qua­simo­do, der Missgestaltete. Man nennt mich Odysseus, den Listenreichen. Wir sind die Cherubin und stehen an der Seite Gottes. Dian Fossey, Silberrückenflüsterin. Isaac Newton, Meister der spontanen Welterkenntnis. Man nennt mich Mahatma. Jeanne d´Arc, die wehrhafte Jungfrau. Mein Name ist Legion. Luke Sky­walker, der Weltraumepische. Galadriel, Hüterin des Spiegels. Juri Gagarin, erster Mensch im All. Johannes Gutenberg, Begründer der schwarzen Kunst. Wolfgang Amadeus Mozart, musikalisches Wunderkind. Platon, antiker Vordenker. Ich bin Thot, der ibisköpfige. Harry Haller, Steppenwolf. Leopold Bloom, Held eines einzigen Tages. Walther von der Vogelweide, Sänger der hohen Minne. Adrian Leverkühn, Wiedergänger des Doktor Faustus. Tom Swayer, ewiger Laus­bub. Ich bin Morgaine, die Zauberin. Dorian Grey, Zerrbild ewiger Jugend. Ich bin Baphomet, der Vielgestaltige. Bornabas Gutknecht, Protagonist der osmotischen Bereinigung.

      Die Stimmen nahmen zu, wuchsen an, wurden zu einem dröhnenden Chor, einer überwältigenden Kakophonie aus gellenden Schreien, begütigendem Murmeln, orgiastischem Stöhnen, hoffnungslosem Röcheln, Koselauten namenlosen Glücks, getragenen Reden, aufatmendem Seufzen, agitatorischem Geschrei, angst­vollem Wimmern, keuchendem Hecheln und einem tiefen, abgründigen Summen, das seine Schädelplatte vibrieren ließ. All das verdichtete sich zu einer kompakten, ungestalten Masse an Gefühlen und Eindrücken, die wuchtig auf ihn eindrangen und einer kaleidoskopartigen Flut von Bildern, die mit rasender Geschwindigkeit an ihm vorbeizogen. Dann kehrten schlagartig Ruhe und Stille ein und alles verlor sich wieder.

      CaseOne öffnete langsam die Augen. Er war – und er war viele und vieles. Doch hatte er nichts Persönliches. Musste sich aus dem zusammensetzen, was ihm aus den verlorenen Zeiten überkommen war. Da gab es Schönes und Schlechtes. Gutes und Böses. Märchenhaft Beglückendes und unvorstellbar Grässliches. All das hatte er nicht persönlich durchlebt, weder genossen noch erlitten. Es war ihm aus zweiter Hand zuteilgeworden. Aber dafür verfügte er über mehr Leben und Wissen als jeder Citizen, der momentan in der Urb den Takt des Systems teilte. Immer wieder unterbrachen wuchtige Eindrücke und grelle Bilder seine allmählich aufkeimenden Bewusstseinsvollzüge.

      Er musste sich sammeln. Eine Entscheidung treffen. In der Fülle seiner Impressionen untergehen. Oder sich mit allen seinen Kräften an einzelnen Eindrücken festkrallen, sie sich aneignen und bis zur Neige auskosten, um an ihnen Gestalt zu gewinnen und sich an ihnen aufzurichten. Aber dazu brauchte er in dem bodenlosen, abgrundtiefen Chaos, das in ihm auf- und abbrandete, einen Leitfaden, einen Halt, an dem er sich orientieren konnte.

      Im