Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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einem lauten Knarren schwangen nun die Flügeltüren des Horts der Beratung auf und entließen die aus vierzehn Wächterinnen bestehende Leibwache der Archontin. Sie trugen Koller und enge Beinlinge aus geschmeidigem Leder, die ihnen größtmögliche Bewegungsfreiheit gewährten. In ihrem Gürtel stak das Wurfholz und um die Hüften hatten sie die Seile der Bola geschlungen, deren Kugeln beim Gehen an ihren Ober­schenkeln hin und her pendelten. Es folgten die Weisen Frauen und zuletzt Ayiah, die Archontin, selbst. Die Weisen Frauen waren in die übliche Gewandung aus brauner, bodenlanger Kutte gehüllt, die je nach Bedarf mit einem Gürtel gerafft und geschürzt werden konnte. Die Schultern bedeckte ein breiter, weit ausgelegter Kragen, von dem auch die Kapuze hing, deren lang auslaufende Spitze in herabgeschlagenen Zustand bis weit über die Taille reichte. Außer dass ihr Demutskranz im Gegensatz zu den braunen Kränzen der Weisen Frauen aus frischen grünen Reisern gewunden war, unterscheid sich die Archontin in keiner Weise von ihnen.

      Die Wächterinnen fächerten sich auf und bezogen auf der Linie der Fackeln Stellung. Indem die Tonfrauen die Kurbeln ihrer Leiern nun nicht länger gleichmäßig, sondern mit kleinen Rucklern betätigten, er­zeug­ten sie zu Grundton und Melodie noch ein rhythmisches Schnarren, in dessen Takt die Archontin zwischen den Fackeln vorwärtsschritt, bis sie die Mitte des Platzes erreicht hatte. Bis auf das sonore Tönen der Basssaiten ebbte die Musik nun ab, die Archontin schlug ihre Kapuze zurück, musterte die Menge der um sie versammelten Mannlinge mit strengen und wachsamen Blicken und hub dann zu sprechen an:

      „Versammelte Mitgeschöpfe, geliebte Schwestern, arbeitsame Mannlinge: Schonet die Schöpfung. In zwei Nächten wird Luna in diesem Umlaufzwölft zum dritten Male ihre volle Gestalt erreicht haben und wir finden uns hier auf diesem Rund ein, um in tiefer Demut die Gnade des sanften Gestirns auf uns herab­zuflehen. Wenn wir nun ausschwärmen, um heute Nacht und in den nächsten Nächten die Erde für die Aufnahme des Samens zu bereiten, möge Luna uns beistehen, auf dass wir reiche Frucht einbringen.

      Wir ackern des Nachts, denn Lunas sanftes Strahlen bewahrt die Natur und öffnet uns die Dinge nur soweit, wie es der Schöpfung frommt. Sols grelles Brennen aber zerrt alles ans Licht und scheint der Natur so ihre Geheimnisse zu entreißen, gaukelt uns ihre Beherrsch­barkeit aber nur vor.

      Wir ackern im Rund, denn der Kreis gebiert Sicherheit und Gelingen. Wer sich dem Rund des Kreises im Geist der Mütter in Demut und Besonnenheit anheimgibt, des Werk wird glücken und seine Seele wird gesunden. Der geraden Linie aber folgen Unsicherheit und Misslingen. Wer die Gerade in mannlingscher Hoffart vorwärtsdrängend beschreitet, des Werk wird scheitern und seine Seele wird zuschanden werden.

      Solches zu tun ist uns überliefert seit den Zeiten der Großen Verderbnis, als sich die Menschen unrettbar verstrickt in mannlingscher Denkungsart und getrieben von grenzenloser Gier an den Rand des Abgrunds gebracht haben.“

      Der Archontin Stimme war immer lauter und eindringlicher geworden und mit dieser Anklage riss sie sich den Kranz der Demut und Besonnenheit von ihrer linken Schulter, reckte ihn mit beiden Händen und ausgestreckten Armen hoch über ihren Kopf und rief:

      „So wie die Enden der ineinander verflochtenen Stränge dieses Kranzes immer wieder zueinander finden und kein Strang aus dem Kreis ausbricht, wollen auch wir nicht in mannlingschem Ungestüm und mannlingscher Hoffart aus der Natur ausbrechen, sondern uns in mütterlicher Demut und Besonnenheit ihren Kreisläufen fügen und unterwerfen. Denn nicht wir beherrschen die Natur, sondern die Natur beherrscht uns. Die Natur duldet uns nur. Deshalb fordern wir nichts von ihr. Deshalb drängen wir uns ihr nicht auf. Deshalb nehmen wir nur, was sie uns freiwillig zu geben bereit ist.

      Wir Frauen tragen den Kranz der Demut und Besonnenheit, um euch Mannlinge ständig augenfällig zu machen, dass wir unauflöslich in die Kreisläufe der Natur eingebunden sind. Wir tragen diesen Kranz über der linken Schulter, aus der der Herzarm erwächst, um euch Mannlinge ständig zu gemahmen, nicht den Einflüsterungen eures Geistes zu erliegen, der mit der Stimme der Hoffart zu euch spricht, sondern auf euer Herz zu lauschen, in dem euch das ewige Lied der Natur erklingt.

      Solches tun wir, damit wir nicht in einer neuerlichen Verderbnis zuschanden werden, sondern in Einklang mit der Schöpfung leben immerdar.“

      Mit diesem Appell ließ die Archontin ihre Arme wieder sinken, hängte sich den Kranz über die Schulter, warf noch einen letzten Blick über die versammelte Menge und schritt zu dem Takt des Schnarrens und den Klängen der Melodie, die nun wieder einsetzten, zurück zum Hort der Beratung. Als sich dessen Türen langsam hinter ihr geschlossen hatten, wurde der Sang der Drehleiern immer leiser, nur das Brummen der Basssaiten flutete noch eine geraume Weile über den Platz. Als dann schließlich auch die letzten Schwingungen abgeebbt waren, schwangen die pendelnden Oberkörper der Mannlinge allmählich aus und es kam wieder individuelle Bewegung in die Menge.

      Neben Brachvogel, dessen Geist dieses Mal mehr Energie hatte aufwenden müssen als sonst, um den dunklen Lockungen zu widerstehen, erwachte nun auch Agror langsam aus seiner Benommenheit.

      „Nun, wohl geruht?“, griente Brachvogel ihn an. Er hatte die eigenartige Wirkung des tiefen Tönens oft genug beobachten können: Stets waren die, die ihm anheim­fielen, von dem beseelt, was die Archontin in solchen Ansprachen beschwor, konnten sich aber mit wachem Geist an nichts erinnern, was vorgefallen war.

      „Was heißt hier geruht“, erwiderte Agror, „ich habe die Botschaft der Archontin aufgenommen.“

      „So, welche Bot­schaft genau hat sie uns denn heute zu Gehör gebracht?“, hakte Brachvogel nach.

      Wie immer, aus einem Dämmerzustand auftauchend, zog Agror, offensichtlich angestrengt überlegend, die Stirn in Falten, konnte aber nichts Fassbares zutage fördern. Er empfand in diesen Situationen die bohrenden Fragen seines Freundes als besserwisserische Kleinkrämerei.

      „Ehm, wie dem auch immer sein mag“, erwiderte er etwas unwirsch, „jedenfalls sollten wir keine Zeit vertun, die Gunst der Großen Mondin zu nutzen und damit beginnen, die Äcker zu bestellen. Und zwar so, wie es uns die Große Luna vorgegeben hat!“

      Dies brachte er mit der Emphase vor, die stets unter den Mannlingen ausbrach, wenn sie dem dunklen Sang der Leiern ausgeliefert gewesen waren.

      Brachvogel wusste aus Erfahrung, dass sich in ein paar Stunden schon die leuchtenden Augen der Mannlinge wieder trüben und die tatkräftige Begeisterung dem gewöhnlichen müden All­tagstrott weichen würde. Einerseits war er froh, der Musik wieder einmal getrotzt und sich seinen eigenständigen Geist bewahrt zu haben. Seit er in der Stätte der Aufzucht erstmals dem tiefen Tönen ausgesetzt gewesen war, hatte er sich dem Sog dessen Lockung immer widersetzt, denn es war etwas in ihm, das sich nicht beugen konnte, sich nicht vereinnahmen lassen wollte. Oft genug hatte er sich aber auch gewünscht, sich wie Agror anheimgeben und fallen lassen zu können, um für eine Weile sein ich aufzugeben und in der Gemeinschaft der Mannlinge unterzugehen. Es zermürbte ihn, stets mit seinen Gedanken und Gefühlen isoliert zu sein, nicht dazuzugehören, immer am Rande zu stehen.

      Die Klave betrieb eine Dreifelderwirtschaft. Während in jährlichem Wechsel ein Drittel der verfügbaren Ackerfläche brach lag, damit die Erde, nachdem sie Frucht erbracht hatte, wieder neue Kräfte sammeln konnte, wurden auf einem weiteren Drittel im Herbst Roggen, Weizen, Dinkel und Emmer angebaut und das letzte Drittel im Frühjahr mit Hafer, Gerste, Hirse, Ölfrüchten und Gemüse bestellt. Die brachliegenden Felder galt es nun in dieser und den folgenden Nächten nach den Regeln von Demut und Besonnenheit behutsam aufzubrechen und für die Aufnahme neuen Samens vorzubereiten.

      Überall entwickelte sich jetzt emsige Geschäftigkeit. Die Weisungsfrauen teilten die Mannlinge in Gruppen ein, die sich, um in der für die vielfältigen Tätigkeiten immer zu knapp bemessenen Nacht der vollen Mondin keine Zeit zu verlieren, eiligst zu den Brachen aufmachten. Die Menge wimmelte zunächst wild durcheinander und floss dann in Richtung Lunagleiß hinunter, um sich auf dem Fahrweg in entgegengesetzte Richtungen aufzuteilen. Ein Teil der Mannlinge preschte auf schon bereit­stehenden Reitebseln zu den flussaufwärts gelegenen Äckern, während diejenigen, die die flussabwarts liegenden Brachen zu bearbeiten hatten, in am Ufer festgemachte Boote sprangen.

      Da viele Äcker etliche Wegstunden von der Klave entfernt lagen, waren